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Antisemitismus in Sachsen: „Es geht nicht nur um Einzelfälle“

Antisemitismus zeigt sich nicht nur durch Gewalttaten, sondern auch vielfältig im Alltag. Eine neue Melde- und Beratungsstelle soll Betroffene unterstützen.

Von Niels Heudtlaß
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Am 20.09.2018 griffen Neonazis das jüdische Restaurant "Schalom" in Chemnitz an. Solche Angriffe sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Melde- und Beratungsstelle Antisemitismus soll auch Vorfälle im Dunkelfeld erfassen.
Am 20.09.2018 griffen Neonazis das jüdische Restaurant "Schalom" in Chemnitz an. Solche Angriffe sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Melde- und Beratungsstelle Antisemitismus soll auch Vorfälle im Dunkelfeld erfassen. ©  Thomas Kretschel

Dresden. Noch befindet sie sich im Aufbau, doch die in Sachsen neu eingerichtete Melde- und Beratungsstelle Antisemitismus wird bereits im März Teile ihrer künftigen Arbeit aufnehmen. Beschlossene Sache ist die Einrichtung bereits seit Jahren, denn CDU, Grüne und SPD haben sie im gemeinsamen Koalitionsvertrag festgeschrieben. Träger wird der Verein OFEK (hebräisch für Horizont), der bereits Beratungsstellen für Betroffene und Zeugen antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten unter anderem in Berlin und Sachsen-Anhalt betreibt, sowie eine bundesweite Beratungshotline eingerichtet hat.

Die sächsische Melde- und Beratungsstelle mit Hauptsitz in Dresden soll aus Haushaltsmitteln des Kultusministeriums finanziert werden

Die Beratungsstelle für Betroffene von Antisemitismus

Die Beratungsstelle in Sachsen wird nach Angaben von OFEK Betroffene, ihre Angehörigen sowie Zeugen antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten unterstützen. Der Verein bietet psychosoziale Begleitung, juristische Erstberatung und psychologische Hilfe an. Dabei stehe der Verein parteilich an der Seite der Ratsuchenden und berät auch andere Einrichtungen, die Vorfälle aufarbeiten möchten, sagt Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK.

"In den deutschen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Institutionen gibt es noch nicht zwingend ein Bewusstsein dafür, dass die Betroffenen auch jenseits der extremen Gewalttaten, alltägliche Diskriminierung erleben", so die Psychologin. Dass Juden jedoch am Arbeitsplatz, in der Schule, bei der Polizei oder in anderen Institutionen Antisemitismus erfahren, sei ein Fakt, der lange nicht auf der politischen Agenda gestanden habe. Deswegen müsse jeder Fall und jede Beratungsanfrage analysiert und in den größeren Kontext gestellt werden, um auch Institutionen für strukturellen Antisemitismus zu sensibilisieren.

Marina Chernivsky ist Geschäftsführerin des Vereins OFEK. Sie wurde in Lwiw in der Ukraine geboren und wuchs in Israel auf. Chernivsky studierte Psychologie, Verhaltenswissenschaften und Verhaltenstherapie in Israel und Berlin. Sie wohnt heute in Berlin.
Marina Chernivsky ist Geschäftsführerin des Vereins OFEK. Sie wurde in Lwiw in der Ukraine geboren und wuchs in Israel auf. Chernivsky studierte Psychologie, Verhaltenswissenschaften und Verhaltenstherapie in Israel und Berlin. Sie wohnt heute in Berlin. © Alexander Hislop

Die Meldestelle Antisemitismus

Die Aufarbeitung von antisemitischen Vorfällen ist ein neues Feld für den vor fünf Jahren von Chernivsky gegründeten Verein. Die Meldestelle wird nach den Standards des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) arbeiten. Das zentrale RIAS-Meldeportal "report-antisemitism", auf dem antisemitische Vorfälle nutzerfreundlich eingetragen werden können, soll auch in Sachsen etabliert werden.

Eine Einordnung antisemitischer Vorfälle erfolgt auf Grundlage der sogenannten Arbeitsdefinition „Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance. In der Arbeitsdefinition werden fünf verschiedene Arten von Antisemitismus unterschieden. Darunter fällt Antisemitisches Othering, also der Ausschluss jüdischer Personen aus der Mehrheitsgesellschaft sowie antijudaistischer Antisemitismus, als Feindschaft gegenüber dem Judentum als Religion. Auch den modernen Antisemitismus, der Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zuschreibt und auf Verschwörungsmythen gründet, und den Post-Shoah-Antisemitismus, bei dem Juden zum Beispiel beschuldigt werden, heutzutage durch die Vernichtung im Nationalsozialismus zu profitieren, beschreibt die Arbeitsdefinition als Formen von Antisemitismus. Der Israelbezogene Antisemitismus, der dem Staat Israel die Existenz abspricht oder ihn aufgrund seiner Definition als jüdischer Staat dämonisiert, wird ebenfalls als Erscheinungsform von Antisemitismus genannt, in die ein gemeldeter Vorfall eingeordnet werden kann. Die gemeldeten und eingeordneten Fälle werden dann der Öffentlichkeit präsentiert.

Warum braucht es eine Melde- und Beratungsstelle in Sachsen?

Die Meldestelle warte nicht, bis jemand anruft, sondern unternehme alles, um Menschen in den jüdischen Gemeinden über die Möglichkeiten der Erfassung von Fällen und die Beratungsangebote zu informieren und ihr Vertrauen in die Einrichtung zu stärken, sagt Chernivsky. Mit diesem Modell könne die Dunkelziffer zwischen erfassten Straftaten und den nicht gemeldeten oder nicht strafbaren Vorfällen perspektivisch verringert werden, so die OFEK-Geschäftsführerin. Momentan werden in einer Statistik des Landeskriminalamts Sachsen (LKA) zu politisch motivierter Kriminalität ausschließlich strafrechtlich relevante Fälle von Antisemitismus aufgenommen. 157 antisemitische Straftaten wurden dort 2020 erfasst. 148 der Fälle wird eine rechte Motivation zugrunde gelegt. Die Dunkelziffer nicht gemeldeter Straftaten wird sehr hoch eingeschätzt. Da nicht strafbare antisemitische Vorfälle bis zur Einrichtung der Meldestelle nicht statistisch erfasst werden, ist die Verbreitung antisemitischer Einstellungen aus diesen Zahlen nicht abzulesen. Chernivsky warnt zudem vor einem zu großen Bedürfnis nach reinen Zahlen. Strukturelle Probleme statistisch erfassen zu wollen, sei nicht immer möglich. "Wenn wir vom strukturellen Antisemitismus sprechen, dann geht es nicht nur um Einzelfälle, sondern um Antisemitismus der in staatlichen Organisationen wie der Schule aus bürokratischen Routinen entsteht", so die Antisemitismus-Expertin. Auf Basis der erfassten Vorfälle, müsse also geschaut werden, was für die lokalen Strukturen abgeleitet werden kann.

Jüdische Perspektiven kommen oft zu kurz

Dabei sieht sie mit Sorge auf einige Entwicklungen in Sachsen. Die Pandemie sei ein Brandbeschleuniger für antisemitische Vorstellungen. Sie wäre auch ein Grund für den Aufstieg der AfD.

"Die AfD normalisiert antidemokratische Einstellungen und antisemitische Ressentiments, die aber nicht nur bei der Partei vorhanden sind", sagt Chernivsky. Die Pandemie und die damit verbundenen Proteste würden die bereits vorhandenen gesellschaftlichen Tendenzen verstärken. Was vorher eher im Wohnzimmer auf dem Sofa angedeutet wurde, finde so seinen Weg in die Öffentlichkeit.

Eine Öffentlichkeit, in der jüdische Perspektiven oft zu kurz kämen. "Die Erinnerungspolitik in Deutschland ist insgesamt etwas kalt. Juden wird oftmals eine Nebenrolle zugewiesen", so die Psychologin. Das bestätigt auch eine qualitative Befragung, die in der Problembeschreibung Antisemitismus in Sachsen veröffentlicht wurde. "Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass sich die Stadt mit uns als Gemeinde zu besonderen Anlässen schmückt. Und wenn die vorbei sind, dann vergisst man uns am besten", wird dort eine sächsische Jüdin zitiert. Die Melde- und Beratungstelle will daran arbeiten, dass aktueller Antisemitismus nicht in Vergessenheit gerät. "Dass wir auf jüdische Perspektiven und Erfahrungen aufmerksam machen, ist eine unserer Hauptaufgaben", stellt Chernivsky klar.

Bis die Arbeit begonnen werden kann liegen aber noch einige Aufgaben vor den Verantwortlichen. " Wir sind schon dabei Kontakte zu knüpfen und uns bekannt zu machen", erklärt Chernivsky. Um dem primären Ziel, der Beratungsstelle und auch der Meldestelle nachzukommen, müsse zuerst gerade innerhalb der jüdischen Gemeinde auf die Angebote aufmerksam gemacht werden. Momentan sei man noch gemeinsam mit lokalen Akteurinnen und den Gemeinden dabei, die Rolle der Melde- und Beratungsstelle zu definieren.