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Lässt sich die Sachsen-Krise von 1923 mit der Krisensituation 2023 vergleichen?

Historiker Mike Schmeitzner glaubt, die ewigen historischen Vergleiche können dazu führen, dass man aktuelle Probleme und Formen des Extremismus falsch einschätzt.

Von Oliver Reinhard
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Am 29. Oktober 1923 marschiert eine Kompanie der Reichswehr zum Dresdner Landtaggebäude, um die Regierung von SPD und KPD aus dem Amt zu jagen.
Am 29. Oktober 1923 marschiert eine Kompanie der Reichswehr zum Dresdner Landtaggebäude, um die Regierung von SPD und KPD aus dem Amt zu jagen. © Foto: Wikimedia Commons

Herr Schmeitzner, den Rückblick auf 1923 dominieren drei Ereignisse: Ruhrbesetzung mit Ruhrkampf, Hyperinflation, Hitlerputsch. Sind die Geschehen in Sachsen und Thüringen nur Randnotizen wert?

Absolut nicht. Schon weil die sächsischen Ereignisse Rückwirkungen hatten auf die Reichspolitik. Angesichts der militärischen Besetzung von Sachsen und Thüringen und mit der Absetzung der Landesregierungen aus Sozialdemokraten und Kommunisten bestand die SPD in der Reichsregierung anschließend darauf, dass man mit gleicher Entschlossenheit gegen die Landesregierung in Bayern vorgeht. Die war quasi auf dem Weg zum Putsch von rechts und hatte die Reichswehr in Bayern unter den eigenen Befehl gestellt.

War das nicht nach damaligen Recht Hochverrat?

Genau. Aber damit nicht genug: In Bayern lagen bereits rechtsextreme Paramilitärs bereit, um gegen die „roten Freistaaten“ loszuschlagen und dann gleich nach Berlin durchzumarschieren.

Wäre es überhaupt denkbar gewesen, Reichswehr aus Berlin gegen Reichswehr aus Bayern einzusetzen? Sie war doch schon 1920 im Kapp-Putsch nicht eingeschritten, nach dem Motto „Truppe schießt nicht auf Truppe“.

Das war auch 1923 undenkbar. Doch anders als in Bayern gab es in Thüringen und Sachsen heftige Konflikte zwischen den Reichswehrkommandos und den dortigen Regierungen. Von daher war es für die Reichsregierung viel leichter, zusätzliche Truppen nach Sachsen zu schicken. Denn diese Truppen waren hochmotiviert, im linken Sachsen einzugreifen, und sie waren es mit Blick aufs rechte Bayern überhaupt nicht. Auch deswegen kam es hier zu deutlichen Übergriffen bis hin zu Dutzenden Toten. Auch die bürgerlichen Koalitionspartner in der Reichsregierung wollten in Bayern kein Einschreiten wie in Sachsen. Daraufhin hat die SPD die Koalition verlassen, und die Reichsregierung brach auseinander. Das ist eine unmittelbare Rückwirkung der sächsischen Ereignisse.

Mike Schmeitzner ist Historiker am Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden und Experte für die Geschichte der Weimarer Republik und der NS-Zeit in Sachsen.
Mike Schmeitzner ist Historiker am Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden und Experte für die Geschichte der Weimarer Republik und der NS-Zeit in Sachsen. © HAIT

War das Stillhalten der Reichsregierung gegen den Bayerischen Separatismus eine Ermutigung für Hitler, der in München seinen eigenen Putsch vorbereitete?

Auf jeden Fall. Adolf Hitler hatte gute Gründe zur Annahme, dass vor allem die rechtsautoritäre Landesregierung sich nicht gegen ihn und seine Bewegung stellen würde, im Gegenteil. Im Falle Sachsens und Thüringens kam noch eine außenpolitische Komponente hinzu.

Sie denken in Richtung Moskau?

Ja. Die Moskauer Regierung und die Kommunistische Internationale – kurz Komintern – versuchten, die Krise von 1923 für eine revolutionäre Umwälzung in Deutschland zu nutzen – für einen „Deutschen Oktober“. Die Arbeiterhochburgen Sachsen und Thüringen waren hier als quasi-legale Brückenköpfe vorgesehen, weil da die KPD die Chance hatte, in die Landesregierungen einzutreten. Der Beschluss zur „Machtergreifung“ – das ist ein wörtliches Zitat – in Deutschland wurde von der Komintern im Frühherbst 1923 gefasst. Wobei die KPD da uneins war. Ihr linker Flügel hat offen als Ziel geäußert, in Deutschland sofort die Diktatur des Proletariats zu errichten. Der rechte Flügel hat da ein bisschen laviert.

Warum?

Weil er die Situation in Deutschland realistischer eingeschätzt hat und man sich noch gut erinnerte, dass die KPD zwei Jahre zuvor bereits bei einem Aufstand gescheitert war. Letztlich aber unterwarf sich auch dieser Flügel der Parteidisziplin. Vor allem die Komintern setzte große Hoffnungen in die Proletarischen Hundertschaften der Linksparteien.

Diese Hundertschaften spielten bei der Begründung für das Einschreiten der Reichsregierung in Sachsen eine zentrale Rolle. Waren sie überhaupt in der Lage, einen linken Putsch mit Waffengewalt durchsetzen zu können?

In Sachsen verfügten die Proletarischen Hundertschaften kaum über Waffen, die notwendig gewesen wären, um eine Umwälzung abzusichern. Doch gab es immer wieder auch Übergriffe der Proletarischen Hundertschaften auf dem flachen Land. Und das nahmen größere Teile des Bürgertums und der bürgerlichen Parteien zum Anlass, schon früh in Berlin gegen ein vermeintliches „Sowjetsachsen“ mobil zu machen.

Die Verteidiger des linken Sächsischen Experiments von SPD und KPD hingegen sagen, es sei tatsächlich ein ernstzunehmendes Reformvorhaben gewesen, um im Gegenteil die demokratischen Errungenschaften abzusichern und die Demokratie zu stärken. Wie sehen Sie das?

Eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gab es seit 1920. Die SPD hat zweifellos mit den Kommunisten in wichtigen Fragen Gesetzesvorhaben umsetzen können, die aus sozialdemokratischer Sicht die Gesellschaft und den Staat weiter demokratisiert haben, Bildungs-, Justiz- und Gemeindereformen. Aber man hat in bestimmten Fragen auch mit den Liberalen gestimmt, zum Beispiel in der Frage der Zentralisierung und Demokratisierung der Polizei.

Kann man denn von einem Bündnis zwischen KPD und SPD sprechen?

Das kann man, ab März 1923, mit der Wahl des linken Sozialdemokraten Erich Zeigner zum sächsischen Ministerpräsidenten. Jetzt wurde erstmals ein Tolerierungsabkommen geschlossen. Die Bildung der Proletarischen Hundertschaften war Teil davon. Als Zeigner Anfang Oktober zwei KPD-Mitglieder in die Regierung holte und den KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler zum Chef der Staatskanzlei machte, war das Bündnis zwischen SPD und KPD tatsächlich vollendet.

Und das Maß für Reichsregierung und Reichswehr damit voll?

Ja. Wobei Teile der sächsischen SPD den außenpolitischen Kontext ihres Handelns vernachlässigt haben. Der sowjetische KP-Chef Josef Stalin hat in einem Offenen Brief in der KPD-Presse vom 10. Oktober die revolutionäre Umwälzung in Deutschland regelrecht angekündigt. Quasi im letzten Moment haben dann sächsische SPD-Politiker die Offensivabsichten der KPD auf der Chemnitzer Konferenz am 21. Oktober vereitelt. Zwei Tage später schlug die ultralinke Hamburger KPD dennoch los; mehr als 100 Tote waren dort zu beklagen. Aber das war ein lokaler Aufstand, der völlig isoliert blieb

.Auch jetzt schauen wieder Menschen auf die aktuelle Vertrauenskrise der Demokratie und die Inflation und sagen, das erinnere sie an 1923. Was halten Sie davon?

Nicht viel. Die Dimensionen der politischen und sozioökonomischen Probleme von heute sind mit denen von 1923 kaum vergleichbar. Die damalige multiple Krise war geprägt von Massenarbeitslosigkeit, Massenelend, Hyperinflation und Putschversuchen. Französische Besatzungstruppen standen im Land. Außerdem drohte aufgrund separatistischer Bestrebungen die Reichseinheit verlorenzugehen. Nichts davon gibt es heute. So sinnvoll es erscheint, aus Abgründen unserer Geschichte entsprechende Lehren zu ziehen, so wenig finde ich es zielführend, vordergründig auf Jahreszahlen wie „1923“ zu schielen und sich quasi historisch zu kostümieren. Das kann sogar kontraproduktiv sein und dazu führen, dass man aktuelle Probleme und Formen des Extremismus falsch einschätzt.