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Ein Pyramidenbauer entstaubt ein DDR-Modell

Zum 125. Firmenjubiläum der „Kleinkunst aus dem Erzgebirge Müller GmbH“ hat sich der Chef Ringo Müller in Seiffen etwa ganz Besonderes einfallen lassen.

Von Nora Miethke
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Hat ein Faible für Tradition und Qualität: Holzspielzeugmacher-Meister Ringo Müller.
Hat ein Faible für Tradition und Qualität: Holzspielzeugmacher-Meister Ringo Müller. © SZ/Veit Hengst

Alle Jahre wieder kommt einem beim Auspacken der Pyramide die immer gleiche Frage in den Sinn: „Wird sie denn dieses Jahr richtig laufen?“ Wer eine Pyramide des Traditionsherstellers Müller in Seiffen hat, kann gut darauf vertrauen, dass sie es tut. Selbst auf einem etwas wackligen Holzstapel in der Werkstatt ziehen die Heiligen drei Könige ohne Stocken ihre Runden. Das Geheimnis liege im Keramiklager, verrät Ringo Müller. „Die Nadel, die sich im Lager dreht, arbeitet sich über die Jahrzehnte in die Oberfläche ein. „Weil Keramik härter ist als Glas, dauert das bei Keramiklagern länger und die Laufbewegung wird stabiler“, erklärt der 52-Jährige.

Er leitet in vierter Generation die „Kleinkunst aus dem Erzgebirge Müller GmbH“. Seit über zwei Jahrzehnten setzt Müller nach eigenen Angaben als einziger Hersteller im Erzgebirge auf patentierte Keramiklager, auch wenn sie in der Anschaffung teurer sind und auch die Pyramiden selbst teurer machen. „Aber wir achten stark auf die Qualität unserer Produkte“, so der Chef von 35 Beschäftigten, die zu 80 Prozent alles mit der Hand fertigen. Die Folge sind begrenzte Stückzahlen und dass die Kunden häufiger mal das Wort „ausverkauft“ akzeptieren müssen.

Das wird vielleicht auch beim neuesten Modell „pYramide“ der Fall sein. Zum 125. Firmenjubiläum im nächsten Jahr kommt im ersten Quartal eine 57 Zentimeter hohe Weihnachtspyramide nach einem 60 Jahre alten Entwurf von Gunter Müller auf den Markt – im Mid-Century-Stil mit reduzierter Y-Grundform, bis heute zeitlos schön. Die Pyramide wurde nie produziert, weil zu DDR-Zeiten die notwendigen Drechselmaschinen fehlten. So verstaubte der Prototyp auf dem Dachboden, bis ihn Sohn Ringo anlässlich des großen Festjahres 2024 hervor- und in die Neuzeit holte. Nicht nur die Firma wird 125 Jahre alt, auch der Kurort Seiffen feiert: seinen 700. Geburtstag.

Jedes Detail ein Blickfang: Die Arbeiten aus dem Seiffener Unternehmen sind längst in der ganzen Welt bekannt.
Jedes Detail ein Blickfang: Die Arbeiten aus dem Seiffener Unternehmen sind längst in der ganzen Welt bekannt. © SZ/Veit Hengst

Zehn verschiedene Holzarten sind in der dreistöckigen pYramide verarbeitet, heimische wie Buche, Ahorn und Linde, aber auch Edelhölzer aus den USA und Afrika. Im Fachhandel wird der Verkaufspreis bei rund 375 Euro liegen. „Mein Vater hatte ein Händchen für Gestaltung. Die Pyramide passt auch heute noch in unser aktuelles Geschmacksempfinden“, freut sich der Chef.

Auch wenn die Manufaktur ein „Vollsortimenter“ ist, die angefangen von Nussknackern, Räuchermännchen bis Osterartikeln alles anbietet, was zu erzgebirgischem Kunsthandwerk zählt, ist sie vor allem für ihre großen Schwibbogen und Pyramiden bekannt. Sie stehen im Hotel Atlantic in Hamburg, der Wohnstätte von Rockstar Udo Lindenberg, in den Erzgebirgsläden rund um die Frauenkirche in Dresden oder am Checkpoint Charlie in Berlin – und in Nordamerika.

Jedes fünfte Produkt von Müller geht nach Übersee. In den USA ist Ringo Müller ein kleiner Medienstar. Die US-Fernsehmoderatorin Martha Stewart holte ihn 2001 in ihre Christmasshow. Instagram-Star Kylie Jenner packte 2021 ihre Müller-Pyramide vor der Kamera aus und postete: „Jetzt beginnt Weihnachten für mich.“ Und auch in diesen November stand der Seiffener wieder zur Eröffnung des Christkindlmarkts in Carmel im US-Bundesstaat Indiana hinter der Drechselbank und ließ die Späne fliegen. Seit sieben Jahren fliegt er hin, dieses Jahr kehrte Ringo Müller mit einer Städtepartnerschaft zwischen Carmel und Seiffen zurück.

Die Manufaktur bietet zwar auch Nussknackern, Räuchermännchen und Osterartikel an, ist aber vor allem für ihre großen Schwibbogen und Pyramiden bekannt.
Die Manufaktur bietet zwar auch Nussknackern, Räuchermännchen und Osterartikel an, ist aber vor allem für ihre großen Schwibbogen und Pyramiden bekannt. © SZ/Veit Hengst

Der Weihnachtsmarkt in Carmel hat es seit seiner Gründung 2016 auf 400.000 Besucher geschafft. In Seiffen kommen dagegen seit der Corona-Pandemie weniger Busse mit Touristen an. „Seiffen hat Strahlkraft, aber wir tragen nicht genügend dazu bei, diese Strahlkraft stärker zum Leuchten zu bringen. Es fehlt an Modernisierung in unserer Branche“, sagt Müller selbstkritisch und fordert: „Wir können uns modernisieren, indem wir uns öffnen.“ Zum Beispiel jungen Holzgestaltern aus dem In- und Ausland. So lockt das Kreativzentrum „Denkstatt Erzgebirge“ regelmäßig junge Kreative nach Seiffen und stößt damit nicht nur auf Gegenliebe bei den Einheimischen, wie Ringo Müller beobachtet. Zum Öffnen gehört für ihn, „dass man auch selbst rausgeht“. Er ist vier bis fünf Mal im Jahr im Ausland unterwegs. Gute Beziehungen bestehen zu Japan, wo er seit

30 Jahren mit demselben Importeur zusammenarbeitet, oder nach Hongkong. „Ich sehe mich als Botschafter unseres Handwerks und unserer Region“, sagt Müller. Mehr Offenheit gegenüber Fremden ist auch schon deshalb vonnöten, da auch die Kunsthandwerker in Seiffen unter Nachwuchsmangel leiden. „Nicht einer, den wir ausgebildet haben, ist mehr in der Firma“, berichtet Müller. Er versuchte es mit älteren Azubis, die einen Neustart suchten, oder auch mit welchen aus dem Ausland, aber musste feststellen: „Fast alle verlassen unsere Branche.“ Bislang konnte er die Weggänge ersetzen, doch das sei nur möglich durch „wildern in fremdem Terrain“, ist ihm bewusst. Draußen am Firmenzaun wirbt ein Banner „Komm zu uns ins Team“ um neue Bewerber.

Ein Grund könnte die Bezahlung im Kunsthandwerk sein. Ringo Müller zahlt nach eigenen Angaben schon über dem Mindestlohn. Und die Lohnkosten sind nicht die einzigen Kosten, die gedeckt werden müssen. In diesem Jahr wurden rund 450.000 Euro in die energetische Sanierung des Firmengebäudes investiert. Alle Fenster, Türen und Tore wurden ausgetauscht, die Fassade und das Dach gedämmt und eine Fotovoltaik-Anlage installiert. So sollen bis zu 40 Prozent des Energieverbrauchs für Heizen und Strom eingespart werden.

Die 1899 gegründete Manufaktur "Kleinkunst aus dem Erzgebirge® Müller begeht ihr 125. Jubiläumsjahr.
Die 1899 gegründete Manufaktur "Kleinkunst aus dem Erzgebirge® Müller begeht ihr 125. Jubiläumsjahr. © SZ/Veit Hengst

Die fünfte Generation des Gründers ist jedoch schon im Betrieb, auch wenn Ringo Müller nicht weiß, ob seine Tochter die Unternehmensführung später übernehmen will. „Ich will keinen Druck ausüben. Sie soll selbst entscheiden“, sagt er. Denn was Druck bedeutet, hat er selbst erfahren. Seine ältere Schwester arbeitet bis heute auch in der Manufaktur mit, aber vor allem er wuchs mit dem Satz auf: „Und du übernimmst einmal die Firma.“

Vor gut 125 Jahren gegründet, war die Manufaktur immer ein privates, eigenständiges Unternehmen, das jeden Tag produzierte – auch in Kriegszeiten und die gesamte DDR-Ära hindurch. Als Sohn von „Privaten“ konnte Ringo Müller nur Holzspielzeugmacher bei seinem Vater lernen, anderswo hätte er zu DDR-Zeiten keine andere Ausbildung gefunden, vielleicht auch deshalb, weil seine Familie mit der vielen Westverwandtschaft dem Staatsapparat nicht geheuer war. Das Gefühl, nicht das werden zu dürfen, was man wollte, schmerzte. So erzählt er erst zum Ende des Gesprächs von seiner Flucht in den Westen, wenige Tage vor dem Mauerfall. Ein gutes Jahr später war er wieder zurück im Erzgebirge.

„Die Wende kam zur richtigen Zeit“, sagt Ringo Müller, der nicht den Eindruck erweckt, seine Rückkehr jemals bereut zu haben. Er absolvierte den Betriebswirt des Handwerks, studierte an der Hochschule Görlitz-Zittau Unternehmensführung und machte an der FU Berlin seinen Master in Marketing, seit dem Jahr 2000 ist er alleiniger Geschäftsführer. Einer, der bis heute noch selbst an der Drechselbank steht und die Späne fliegen lässt.