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Sehnsuchtsort Seiffen: "Das ist unsere heile, kleine Welt"

Seiffen ist für viele der Inbegriff der sächsischen Weihnacht. Woher kommt der Mythos des Spielzeugdorfs? Unterwegs mit einem Paar, das sechs Wochen im Jahr hier Urlaub macht und dessen Liebe zu Seiffen inzwischen den Ort selbst verändert.

Von Dominique Bielmeier
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Seiffen Ende November 2023. Unter einer dicken Schneeschicht und am Abend ist das Dorf im Erzgebirge für viele Menschen besonders magisch.
Seiffen Ende November 2023. Unter einer dicken Schneeschicht und am Abend ist das Dorf im Erzgebirge für viele Menschen besonders magisch. © kairospress

Seiffen. Es gibt unter den Seiffenern mittlerweile diesen einen Satz, erzählt Tino Günther: "Die Ziethens sind wieder da!" Der Spielwarenmacher grinst und das Paar, das ihm in dem Raum voller Vitrinen mit Schwibbögen, Pyramiden und Holzfiguren gegenübersitzt, lacht. Sylvia und Wolf-Dieter sind diese Ziethens. Und ja, sie sind wieder da.

Fünf-, sechsmal im Jahr kommen die beiden, die in Berlin und Eberswalde leben, nach Seiffen. 2023 verbringen sie insgesamt sechs Wochen im Spielzeugdorf. Gerade ist es ein einwöchiger Urlaub zwischen Totensonntag und erstem Advent. Der Zeitpunkt könnte nicht günstiger gewählt sein: Vor ein paar Tagen hat sich eine dicke Schneedecke über das Dorf gelegt. Passend zum Beginn der Seiffener Weihnacht, die am Wochenende mit der kleinen Bergparade eröffnet werden wird. Ein Gänsehautmoment sei das, sagt Sylvia, wenn zum Schluss das Steigerlied gespielt wird und alle mitsingen.

Mit Erzgebirge, Volkskunst oder gar dem Steigerlied hat die Berlinerin bis 2002 nicht viel am Hut. Damals - elf Jahre bevor sie Wolf-Dieter kennenlernt - ist die heute 58-Jährige zum ersten Mal im Kurort Seiffen. Sie besucht das Dorf nur, weil sie gerade in der Nähe im Osterzgebirge Urlaub macht. Und "Seiffen", das hat man ja schon gehört. Aber irgendwas passiert mit ihr bei diesem Besuch. "Das Dorf hat gesagt: Komm zu mir. Immer wieder." Sylvia lacht.

Für schöne Fotos aus Seiffen haben Wolf-Dieter und Sylvia Ziethen bei ihren Besuchen das Handy immer griffbereit. So halten sie knapp 4.000 Seiffen-Fans bei Facebook immer auf dem Laufenden über ihren Sehnsuchtsort.
Für schöne Fotos aus Seiffen haben Wolf-Dieter und Sylvia Ziethen bei ihren Besuchen das Handy immer griffbereit. So halten sie knapp 4.000 Seiffen-Fans bei Facebook immer auf dem Laufenden über ihren Sehnsuchtsort. © kairospress

Im Februar 2014 muss dann auch Wolf-Dieter dran glauben, es ist sein erster Besuch in Seiffen. "Aus dem Muss ist schnell ein 'Sehr-sehr-Gern' geworden", sagt der 62-Jährige lächelnd. Seine Mütze wirbt für Seiffens 700-Jahr-Feier im kommenden Jahr. "Die Begegnungen, die man hier hat, die Menschen, mit denen man ins Gespräch kommt, ob an der Wurstbude oder in Fachgeschäften ..." Er beendet den Satz nicht, aber sein Gesichtsausdruck verrät: Das Seiffen-Virus hat auch ihn infiziert.

Was die Ziethens an ihren Besuchen hier so lieben, bringt Sylvia im perfekten Berlinerisch auf den Punkt: "Ick hab manchmal dit Jefühl, Seiffen ist Family." Mit diesem Gefühl sind die beiden nicht allein.

Seiffen-Fans bei Facebook: "Seiffen ist die Wärme der Menschen"

Wer wissen will, warum das 2.000-Seelen-Dorf im Erzgebirge so viele Menschen weit über Sachsen hinaus begeistert, kommt an der Facebook-Gruppe "Wir lieben Seiffen - ein Sehnsuchtsort im erzgebirgischen Weihnachtsland" nicht vorbei. Gegründet haben sie die Ziethens im Jahr 2020, mittlerweile hat sie knapp 4.000 Mitglieder. Die meisten von ihnen kommen aus Dresden und Seiffen selbst, viele aber auch aus Tschechien, Österreich, der Schweiz oder Holland. In der Gruppe werden reihenweise Fotos von aufwendiger Dekoration mit erzgebirgischer Volkskunst, Videos oder auch Medienberichte geteilt. Kurz: die ganze Liebe zu Seiffen.

Fragt man die Mitglieder, woher diese Sehnsucht kommt, wird wider Erwarten nicht die Volkskunst als Erstes genannt. "Es ist eine Wärme, Menschlichkeit und Herzlichkeit in der Luft", antwortet Katrin Hofmeister-Risch. "Man kommt an und taucht in eine wunderbare Welt ein." "Was einem als Besucher dort entgegenschlägt, ist eine Gastfreundschaft, die wirklich ihresgleichen sucht", schreibt Juppi Schmitz. Haren Gus betont: "Seiffen ist nicht nur die Hauptstraße oder die Stimmung der Weihnachtszeit. Seiffen ist die Wärme, die Herzlichkeit der Menschen, die Liebe zu ihrem Beruf, die Gastfreundschaft."

Für die gebürtige Seiffenerin Bettina Oehme spielt auch die Natur eine große Rolle: "Ich kann stundenlang durch die Wälder streifen. Bei Schnee natürlich auf Skiern. Da bekomme ich den Kopf frei, und aller Stress fällt von mir ab." Und Manja Gläser fasst es kurz so zusammen: "Die Menschen, die Natur, die Luft, das Füreinander-noch-da-Sein und das Handwerk. Das macht Seiffen und das Erzgebirge so einzigartig und wunderschön."

Viele schreiben, dass sie mindestens einmal im Jahr nach Seiffen kämen. Doch wenn jemand etwas darüber berichten könne, woher die Sehnsucht nach diesem Ort kommt, dann diese vier: die Ziethens, der Pfarrer der Bergkirche, Michael Harzer, und Spielwarenmacher Tino Günther.

Spielwarenmacher Günther: "Unserem Handwerk geht es nach Corona sogar besser"

Die Spurensuche nach Seiffens Geheimnissen beginnt bei Letzterem, genauer in dessen Schauraum, wo sich an diesem Morgen Ende November auch das befreundete Ehepaar Ziethen eingefunden hat. Tino Günther hat die 1914 gegründete Firma 1997 von seinem Vater übernommen und ist heute unter anderem bekannt als Erfinder des Drosten-Räuchermännchens. Der 61-Jährige hat außerdem den Seiffener Sternenmarkt ins Leben gerufen, einen Voradventsmarkt, der schon Ende September beginnt, und ist allgemein umtriebig, wenn es darum geht, seinen Heimatort und dessen Handwerk bekannter zu machen.

Zurzeit lässt Günther Showmaster Thomas Gottschalk als "Raachermannel" heiße Luft ausstoßen, passend zu dessen Abschied. Während er im Schauraum im Erdgeschoss seines Familienhauses über Seiffen spricht, werden unzähligen breit grinsenden Gottschalks im Obergeschoss die hölzernen Haarkränze auf den Kopf geklebt.

Tino Günther und seine kleinen Gottschalks: Der umtriebige Erfinder des Räucherdrosten hat eine neue hölzerne Prominenz geschaffen.
Tino Günther und seine kleinen Gottschalks: Der umtriebige Erfinder des Räucherdrosten hat eine neue hölzerne Prominenz geschaffen. © kairospress

Seiffens Erfolgsgeheimnis fasst Günther in einem Wort zusammen: Vorfreude. Ein Besuch im Weihnachtsdorf sei immer mit Vorfreude auf das große Fest verbunden, selbst wenn Weihnachten noch in weiter Ferne ist. "Wir haben im Oktober noch nie so viele Baumstriezel verkauft wie in diesem Jahr." Die Umsätze mit Glühwein und Glühbier seien verrückt gewesen. Und das bei zweistelligen Temperaturen.

Je näher das Fest rückt, desto mehr wird das kleine Seiffen zum Touristenmagneten. "Wir erwarten am ersten Advent pro Tag 10.000 Leute", sagt Günther. "Bei 2.000 Einwohnern." Das "Minidorf mit Minibudget" habe nicht nur knapp 1.000 Gästebetten, sondern betreibe ein Spielzeugmuseum, ein Freilichtmuseum, diverse kulturelle Einrichtungen, mehrere Gaststätten und besitze die einzige Holzspielzeugmacherschule weltweit. Nein, des Universums! Günther ist vor Lob über seinen Heimatort kaum zu bremsen.

Er räumt aber auch ein, dass dieser Andrang den Seiffenern vor allem an den Adventswochenenden einiges abverlangt. Dann wird die Kernzone für den Verkehr gesperrt, Anwohner müssen ihre Autos außerhalb abstellen. "Die haben sogar den Pfarrer abgewiesen, als er durchfahren wollte", erzählt Günther. Die Besucher parken in dieser Zeit auf großen umfunktionierten Feldern am Ortsrand, und das kleine Dorf wird von Menschenmassen regelrecht überrannt. Ein immenser logistischer Aufwand, der sich lohnt für einen Ort, der wie kaum ein anderer vom Tourismus lebt. Rund 50 Geschäfte in Seiffen verkaufen erzgebirgische Volkskunst.

Doch es gibt auch viele Seiffener, die mit dem Tourismus nichts zu tun haben, weil sie zum Beispiel außerhalb arbeiten. Die seien zu Recht manchmal genervt, sagt Günther. "In der Woche parken vor deinem Haus Autos, es dudelt Weihnachtsmusik, und den ganzen Tag riechst du entweder Baumstriezel oder hast Bratwurstduft in der Nase." Seiffen habe ja keinen Weihnachtsmarkt. "Seiffen IST der Weihnachtsmarkt." Dass die Einwohner das trotzdem Jahr für Jahr mitmachten, "das bewundern wir wirklich", sagt Sylvia.

Was aber, wenn der Tourismus mit einem Mal wegbricht? Im Winter 2020 ist der Erzgebirgskreis einer der Brennpunkte der Corona-Pandemie, zu dieser Zeit gelten Ausgangsbeschränkungen, es ist die erste richtig große Welle. Nachdem es am 1. Advent trotzdem zu einem Besucheransturm gekommen ist, verstärkt die Polizei ihre Kontrollen in Seiffen. Wer mit einem auswärtigen Kennzeichen erwischt wird, muss zahlen. Touristen dürfen nicht einmal durch den Ort fahren, um den weihnachtlichen Schmuck zu bewundern. Noch heute tut das Günther weh.

Alle zehn Jahre werde der kleine Ort totgesagt, erzählt der Spielwarenmacher. Zuletzt wegen Corona. "Aber unserem Handwerk geht es heute sogar besser." Innerhalb kürzester Zeit seien überall Onlineshops eröffnet worden - mit Erfolg. "Die Leute haben förmlich nach unseren Produkten gegiert." Es passte genau in die Zeit: Man geht besser nicht raus, also macht man es sich zu Hause gemütlich.

Doch noch etwas hat den Seiffenern wie Fans geholfen, die Pandemie zu überstehen: die Facebook-Gruppe der Ziethens. Diese ist als Reaktion auf die Corona-Maßnahmen entstanden, als Versuch, einen Ort zu schaffen, wo Menschen sich zu ihrer Seiffen-Liebe austauschen können und gleichzeitig den Händlern geholfen wird, indem Infos über ihre Produkte geteilt werden. Nebenbei wollte das Paar zeigen: Man kann ruhig auch mal zu einer anderen Zeit nach Seiffen fahren als immer nur im Advent.

Ist Seiffen denn mehr als ein Weihnachtsdorf? Sylvia und Wolf-Dieter antworten wie aus einem Mund: "Auf jeden Fall!" Das ganze Jahr über seien Seiffen und seine Umgebung wunderschön, immer gebe es irgendwelche Veranstaltungen wie den Erzgebirgs-Bike-Marathon im Sommer. Und auch bei der Deko hört es mit Weihnachten ja längst nicht auf.

"Nach Weihnachten kommen die Schneemänner", erklärt Sylvia Ziethen. Danach gibt es Figuren für den Frühling, dann folgen Osterhäschen. "Und es gibt Sommerpyramiden mit Blumen und Käfern." In Sylvias Wohnung in Berlin und Wolf-Dieters Haus in Eberswalde ist genügend Platz für die große Sammlung, je nach Jahreszeit wird umdekoriert. Wie viele Teile es wohl mittlerweile sind? Wolf-Dieter atmet tief durch. "Man traut es sich fast gar nicht zu sagen." Weit über 1.000. "Sie haben mehr als ich", sagt Günther lachend.

Die Sammelleidenschaft ist aber längst keine Einbahnstraße mehr. Als Sylvia sich von Tino Günther einen kleinen Stufenbaum wünscht, der aussieht, als sei er eingeschneit, und diesen dann auf Facebook postet, gehen die Bestellungen durch die Decke. "Vergangene Woche habe ich Stufenbaum Nummer 312 bemalt", sagt Günther. Mindestens 150 Leute aus der Gruppe hätten mittlerweile einen. Das Geschäft rettet ihn durch die Coronazeit.

Es ist ihre Art, etwas zurückzugeben, sagen die Ziethens. In Seiffen sind sie nicht mehr bloße Urlauber, sondern nehmen aktiv am Leben der Gemeinde teil. Wenn es heißt, dass die Naturbühne in der Binge wieder zum Leben erweckt werden soll, fahren sie für ein Wochenende zum Arbeitseinsatz hierher. Und ein Teil des Erlöses aus einem speziell für die Gruppe konzipierten Räuchermännchen geht an die Bergkirche. "Wir sind beide nicht kirchlich, aber die Atmosphäre und der Pfarrer, das muss man einfach mal erlebt haben", schwärmt Sylvia. Nächster Anlaufpunkt an diesem Tag daher: die Seiffener Bergkirche.