SZ + Sachsen
Merken

Zu hohe Kosten: Bald ist der Ofen der Bäckerei Wagner in Zeithain aus

Seit über 100 Jahren gibt es die Bäckerei Wagner in Zeithain. In ein paar Wochen macht Ralf Wagner für immer zu, weil er die hohen Kosten nicht mehr stemmen kann.

Von Doreen Reinhard
 10 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Ralf Wagner liebt seinen Beruf. Trotzdem hat er sich entschlossen, seine Bäckerei aufzugeben.
Ralf Wagner liebt seinen Beruf. Trotzdem hat er sich entschlossen, seine Bäckerei aufzugeben. © kairospress

Die ersten Rosinenstollen lagern schon in der Garage. Zum Kühlen. Insgesamt 1.000 Stück wird Ralf Wagner backen, wie jede Saison. Es werden wieder harte Wochen, viel Arbeit und Stress. „Aber die Stollenzeit ist trotzdem schön“, sagt er.

Eigentlich ein Höhepunkt für einen Bäcker. Für Ralf Wagner wird es diesmal ein Abschied. „Das letzte Mal, dass ich groß backe, dann mache ich das nur noch für mich.“ Am 23. Dezember schließt er für immer. Dann ist die Bäckerei Wagner in Zeithain Geschichte, 109 Jahre nach der Gründung.

Es ist das Ende eines kleinen Dorfbetriebs, an einem stillen Fleck zwischen Riesa und Großenhain. Die Gemeinde Zeithain hat knapp 5.500 Einwohner, etliche Ortsteile gehören dazu.

Die Bäckerei Wagner liegt im alten Kern von Zeithain, kaum jemand ist hier zur Mittagszeit unterwegs. Ein bescheidener Hof, vorn der Laden, hinten die Backstube, obendrüber wohnt die Familie, Ralf Wagner mit Frau und Tochter und seine Eltern, die den Laden jahrzehntelang geführt haben.

7,70 Euro für ein Kilo Butter

Wagner, 48 Jahre, ein kräftiger Typ in Arbeitskluft, wühlt sich in seinem kargen Büro durch Rechnungen und tippt auf einem Taschenrechner herum. Mal erzählt er fast stoisch, mal poltert er herum und schimpft auf die Politik. „Was die Regierung in diesem Jahr alles verzapft hat, das muss man erst mal schaffen.“ Immer wieder zeigt er fassungslos Rechnungen. Wagner kauft seine Zutaten über eine Bäckergenossenschaft. Vor einem Jahr hat er für das Kilo Butter noch 4,84 Euro bezahlt. „Als vor kurzem die neuen Angebote kamen, habe ich gedacht: Was ist denn mit der Butter los?“ Inzwischen kostet das Kilo 7,70 Euro.

All die Krisen dieser Zeit, die auf der ganzen Welt für Unruhe sorgen, treffen so einen kleinen Betrieb wie Wagners mit voller Wucht. Energiekrise, Inflation, Ernteausfälle beim Getreide durch die Dürre im Sommer. Viele Kosten sind in den vergangenen Monaten gestiegen – für Energie, fürs Personal, für die Rohstoffe, die er zum Backen braucht.

Im August hat er entschieden, Schluss zu machen

Außer seiner Zentrale in Zeithain hat Ralf Wagner noch zwei Filialen in Supermärkten in der Nähe und insgesamt zehn Mitarbeiter. Er hat versucht mitzuhalten, aber die Preise kletterten immer weiter nach oben. Fürs Gas ist sein monatlicher Abschlag inzwischen fast 1.000 Euro höher als voriges Jahr. Sein Stromvertrag wurde vor einigen Monaten gekündigt, er sollte einen neuen, teureren abschließen. Der Mindestlohn ist inzwischen auf zwölf Euro gestiegen, das hat seine Personalkosten erhöht.

Im Frühjahr hat er einen fünfstelligen Kredit aufgenommen, um den Betrieb zu halten. Doch im Sommer hat Wagner gemerkt, dass er den Preiskampf trotzdem nicht gewinnen kann. Dass er die Reißleine ziehen muss, bevor alles nur noch schlimmer wird und er sich heillos verschuldet. Im August hat er entschieden, Schluss zu machen. „Danach hing ich erst mal zwei Wochen durch und habe geweint.“

Auf Entlastungen wie die Gaspreisbremse zu warten, kommt für ihn nicht mehr in Frage. Im September hat er seiner Belegschaft das Aus verkündet. Wagner hat versprochen, dass er sich kümmern wird, damit seine Leute woanders unterkommen. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich bei uns auf dem Dorf keine Zukunft mehr sehe“, erzählt er. „Wir arbeiten nicht mehr wirtschaftlich. Damit was hängenbleibt, müssten wir das Zwei-Pfund-Brot für sieben Euro verkaufen.“ Gerade kostet es vier Euro.

Wagner hat schon an den Preisen geschraubt, der Stollen ist dieses Jahr zwei Euro teuer, das Doppelbrötchen kostet jetzt 75 statt 68 Cent. Undenkbar für ihn, die Preise noch mehr anzuheben, „dann würde hier keiner mehr kaufen“. Auf dem Dorf wohnen viele ältere Menschen mit schmalen Renten. „Die können sich nicht viel leisten, die holen sich mal ein Brötchen oder ein halbes Brot.“

„Backen ist mein Leben“

Die Bäckerei ist seit vier Generationen Familiensache. Eigentlich wollte Ralf Wagner lieber Schlosser werden, doch in der Wendezeit fand er keinen Job in der Heimat, er wollte aber im Dorf bleiben. „Also dachte ich, gehe ich im Haus eben eine Treppe herunter und arbeite in der Backstube.“

Bereut hat er das nicht. „Backen ist mein Leben“, sagt er. Bei Wagner wird noch fast alles selbst gemacht, von Tiefkühlteig und Backmischungen hält er nichts. Im Sortiment gibt es sogar eine Zeithainer Brötchenfamilie, für die Heimatverbundenheit. Die „Zeithainer Jungs“ sind spitzer geformt als normale Doppeltbrötchen. Im Jahr 2009 ist in der Chronik der Bäckerfamilie stolz vermerkt, dass es nun auch „Zeithainer Mädels“ gibt, neue Körnerbrötchen. Und bald kamen auch „Zeithainer Schokokids“ für Kinder dazu.

Einfach war das Geschäft aber schon seit einer Weile nicht mehr, es kriselte bereits vor diesem Jahr. Zu Hochzeiten vor über 20 Jahren hatte der Betrieb noch 30 Mitarbeiter und sechs Filialen, die Hälfte wurde im Laufe der Zeit geschlossen, weil dort das Geschäft nicht gut genug lief und Personal in Rente ging.

Die Konkurrenz: Billige Backshops und Tankstellen

Auch Ralf Wagners Bruder hat zunächst mitgearbeitet, doch vor einigen Jahren ist er ausgestiegen. Er musste allein weitermachen. Mitarbeiter zu finden, wurde immer schwieriger. Auf Jobanzeigen kamen oft kaum Bewerbungen rein. Ständig gibt es Lücken im Dienstplan.

Wagner arbeitet sechs Tage die Woche, nachts wird gebacken, tagsüber schläft er ein paar Stunden. Immer wieder muss er auch beim Verkaufen aushelfen, weil Personal fehlt. Er hat auch gemerkt, dass er immer weniger Einnahmen hat. Schon letztes Jahr hat Wagner deshalb eine dritte Filiale geschlossen.

Die billigen Backshops in Supermärkten und Tankstellen sind zur Konkurrenz geworden. Und dann war noch der extreme Sommer, wochenlange Hitze, es kamen weniger Kunden als sonst, Kuchen blieb in der Auslage liegen.

Die Branche steckt in einer Krise

Ralf Wagner dachte, vielleicht hilft es, wenn er seinen Betrieb verkleinert. Er hat überlegt, was er noch verändern könnte, über neue Ladeneinrichtungen hat er nachgedacht, aber dafür hat das Geld letztlich nicht gereicht. „Ich habe immer mal gedacht, dass es vielleicht schwierig wird, mit der Bäckerei bis zur Rente durchzuhalten“, sagt er.

Ans Aufhören habe er aber noch lange nicht gedacht – bis zu diesem Sommer. Er hat in der Zeitung von ein, zwei sächsischen Bäckern gelesen, die wie er bald schließen werden. In der Umgebung sei er der einzige Fall bisher, sagt er, die anderen Kollegen halten durch. Seine beiden Filialen werden von zwei anderen Bäckereien übernommen.

Bei Wagner wird noch fast alles selbst gemacht, von Tiefkühlteig und Backmischungen hält er nichts.
Bei Wagner wird noch fast alles selbst gemacht, von Tiefkühlteig und Backmischungen hält er nichts. © kairospress

Die Branche steckt in einer Krise, das erlebt auch Michael Wippler. Er ist Präsident des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks, seine Familie betreibt eine große Bäckerei in Dresden. Eine Schließungswelle gebe es noch nicht, bisher seien es Einzelfälle, wie viele genau, ist im Verband noch nicht bekannt. „Es gibt seit Jahren einen Trend zur Konzentration. Kleine Lokale und Läden haben es schwer“, sagt Wippler. „In diesem Konzentrationsprozess gibt es harte Wettbewerbsbedingungen. Wer bereits in eine leichten Schieflage ist, die man in normalen Zeiten überspielen könnte, kommt jetzt, wo es sehr eng wird, schnell ins Aus.“

Viele Kunden sind traurig über das aus

Der Zentralverband fordert unter anderem einen Härtefallfonds und Gaspreisentlastungen für die energieintensive Bäckerbranche. Bisher sieht Wippler noch keine Entspannung. „Es hängt natürlich auch davon ab, wie sich der Krieg entwickelt, und, wie es mit der Energieversorgung weitergeht“, sagt er. „Die größten Sorgen habe ich, wie es im ersten Quartal 2023 läuft, weil dann die Heizperiode voll im Gang ist und wir schauen müssen, wie groß die Kaufkraft der Kunden noch ist.

“Der Bäcker-Präsident will dennoch optimistisch bleiben. Ein „sterbendes Handwerk“ sei seine Zunft nicht. Gerade gehe es um „harte Herausforderungen“. „Die Bäcker haben schon viel gemeistert, auch diese Krisen werden wir schaffen“, sagt er. „Aber wir werden Federn lassen.“

In Zeithain hat sich herumgesprochen, dass der Dorfbäcker schließt. Etliche Kunden hätten ihn darauf angesprochen, viele seien traurig, erzählt Ralf Wagner. Manche hätten gemunkelt, er habe wohl „schlecht gewirtschaftet“. Das will er nicht auf sich sitzen lassen, für die explodierten Kosten könne er schließlich nichts.

Der Bäcker wählt seit einigen Jahren AfD

Wer Schuld ist an seiner Lage? Wagner überlegt und sagt zuerst, die Lage auf der Welt sei eben kompliziert, „da kommt einiges zusammen“. Dann beginnt er zu schimpfen, lässt Frust ab, auf so ziemlich alles. Auf Politiker, „die keine Ahnung haben“. Auf Migranten, die ins Land kämen. Er denkt, sie hätten es leichter als er. Und es geht um den Krieg in der Ukraine. Wagner redet nicht von den russischen Angriffen und den Zerstörungen im Land. Er sagt, er würde sich am liebsten aus allem raushalten, „der Krieg geht uns doch nichts an“. Er hätte gern bald wieder russisches Gas, „damit sind wir jahrelang gut gefahren“.

Der Bäcker wählt seit einigen Jahren AfD. Aber schürt die Partei in der Krise nicht noch mehr Angst, statt an Lösungen zu arbeiten? Wagner schüttelt den Kopf, er glaubt, die AfD sei das Richtige für ihn. Dass die Partei rechtsextrem ist, stört ihn nicht. „Es sind einige aus der NPD reingeschwappt, das muss nicht sein“, sagt er. „Aber Leute wie Alice Weidel finde ich gut.“

Neulich war Ralf Wagner bei einer Unternehmer-Kundgebung in Riesa, „einem überparteilichen Protest“, wie er betont, aber viel gebracht habe ihm das nicht. „Es war gut, dass Leute mal Gesicht gezeigt haben, aber es hätten mehr sein können. Und die Politiker, die da geredet haben, leben doch in einer Scheinwelt.“

Angst vor dem Neuanfang hat Wagner nicht

Zeit für Demonstrationen habe er ohnehin gerade nicht. Die letzten Wochen in der Bäckerei stehen an. Nebenbei muss er das Geschäft abwickeln. Vielleicht kann er noch ein paar Maschinen verkaufen, aber viel wird das wohl nicht einbringen. Wagner wird auf einer Menge Schulden sitzen bleiben. Auch deshalb muss er sich so schnell wie möglich einen neuen Job suchen. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Bäckerei zu arbeiten, dafür war er zu lange sein eigener Chef.

Erich und Siegfried Wagner vor altdeutschen Backofen, 1955.
Erich und Siegfried Wagner vor altdeutschen Backofen, 1955. © SZ / REPRO / Bäcker Ralf Wagner

Ein paar Jobanzeigen hat er sich angeschaut, wahrscheinlich wird er es als Quereinsteiger versuchen, vielleicht als Kurierfahrer oder beim Kampfmittelbeseitigungsdienst. Angst vor dem Neuanfang hat er nicht, er sehe das inzwischen als Chance. „Vielleicht kann ich mich woanders noch mal neu entfalten.“

Noch steht Ralf Wagner am Ofen. Die lange Liste mit allem, was in der nächsten Schicht gebacken werden muss, hängt in der Backstube: 41 Mischbrote, 286 Doppelbrötchen, 90 Quarkspitzen, 47 Pfannkuchen… Auf einem Regal liegt ein abgegriffener Ordner mit Familienrezepten. Wagner blättert ihn durch, zeigt auf das Rezept für den Rosinenstollen, „das hat mein Vater noch geschrieben“.

Bald wird der Ordner in einer Schublade verschwinden, die Backstube verwaist sein. Nur der süße Geruch, der überall im Haus hängt, wird wohl noch lange bleiben.

So richtig fassen kann es Ralf Wagner noch immer nicht, dass er bald kein Bäcker mehr ist. „Das passiert wahrscheinlich erst am letzten Tag, wenn ich das Licht ausmache.“