Das hätte Tötung im Affekt werden können: Alle Gemeinheiten und Versuchungen hatte der Teufel ausprobiert, die Seele des frommen Einsiedlers Udo zu erwischen. Doch der betete und sang munter weiter zu Gott. Da brach der Beelzebub entnervt ein paar Felsbrocken los, groß wie Kleinwagen, und warf sie auf seinen Widersacher. Doch umsonst: Udos Schutzengel flogen schneller.
Aus der Missetat ist eins der schönsten Postkartenmotive der Sächsischen Schweiz geworden: das Uttewalder Felsentor. Man könnte sagen, Wasser, Wind und Wetter haben die Brocken von der Schluchtkante gelöst, die dann, weil schlicht zu dick, kurz vor dem Aufschlag stecken blieben. Doch die Idee, Udos Engel hätten in letzter Sekunde die Felswände um ihn her zusammengerückt und so die Steine eingekeilt, passt viel besser zu dem magischen Ort.
Und deshalb erzählt auch Alrun Flechsig jedes Mal, wenn sie Gäste zum Felsentor bringt, die Geschichte vom Duell zwischen Gut und Böse. Alrun Flechsig ist Nationalparkführerin. So steht es auf der grünen Marke, die am Rucksackriemen baumelt. Um die sechzig dieser Spezialisten gibt es in der Sächsischen Schweiz. Ihr Auftrag ist, die Natur nicht bloß mit Fakten zu erklären, sondern auch mit dem Herzen.
"Die Sächsische Schweiz ist kein Abenteuerspielplatz"
Es war ihr Herz, das die Dresdnerin Alrun Flechsig vor vielen Jahren in die Sächsische Schweiz lotste. Schon als Kind war sie hier gern gewesen, auf Ausflügen mit den Eltern, zum Wandern, Klettern, Rad fahren. Studiert hat sie Betriebswirtschaft, immerhin mit Fachrichtung Gaststätten und Hotellerie. Mit Menschen umgehen, die unterwegs sind, war ihr Ziel. Das hat sie erreicht. Sie hat den optimalen Job, findet sie.
Ihr Job ist es, im Aktivzentrum der städtischen Tourismusgesellschaft von Bad Schandau Ausflüge für Elbsandsteinneulinge zu organisieren und teils auch anzuführen. Sie wandert mit Firmenbelegschaften, Tagungsgästen, Busreisegruppen, Junggesellenrudeln, Sportvereinen und Schulklassen. Je länger, je lieber. Bei Mehrtagestouren bleibt mehr hängen, sagt sie, auch mehr Verständnis für die Landschaft. "Das hier ist kein Abenteuerspielplatz."
Der Uttewalder Grund gehört zu den populärsten Wanderzielen in der Sächsischen Schweiz, und zu den schönsten Abschnitten auf dem Weg der Wege, dem Malerweg. In Wehlen aus der S-Bahn gestiegen, ist die rund zwei Kilometer lange, teils canyonartig eingeschnittene Schlucht bald erreicht. Der Zugang ist breit, Felsklötze locken zum Kraxeln. Eltern geben den Kindern hier "Leine". Anders als auf den Berggipfeln können sie den Aufpassmodus auch mal abschalten.
Alrun Flechsig wählt heute das Kurzprogramm. Von Örtchen Uttewalde steigt sie über die Stufen des nach Heimatdichter Bruno Barthel benannten Wegs direkt in den Grund hinab, hinein in eine eigene Klimazone - das Kellerklima. Der Temperaturunterschied zwischen oben und unten, zwischen Prasselsonne und Dämmerschatten, soll zeitweise um die 16 Grad betragen. Eine Differenz, so erzählt sie, wie zwischen Bagdad und Stockholm.
Gelber Schwefel in der grünen Hölle
An diesem Herbsttag ist der Gegensatz dem Thermometer nach weniger deutlich. Die Vegetation macht den Unterschied. Diese kleine grüne Hölle, ausgepolstert mit Farnbüscheln und Kissen aus Moos, entspannt die Augen. Nur manchmal funkt Chrysotrix chlorina dazwischen, die dottergelbe Fels-Schwefelflechte. Laut Sage ist sie der Rest von Pech und Schwefel, verspritzt vom Teufel beim Abzug aus der Schlucht.
Dass der Uttewalder Grund schon früh erschlossen und begangen wurde, zeigen Inschriften auf Schritt und Tritt, an Stufen, in Stützmauern, unter Felsvorsprüngen. Die Jahreszahlen reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Woran sie im Einzelnen erinnern, weiß auch die Fachfrau nicht immer. Klar ist der Vermerk an "Zieglers Grab". Hier stürzte kurz vor Weihnachten 1806 ein Handwerksbursche, der wohl oben im Dunkel den Weg verfehlt hatte, zu Tode.
- Noch mehr Nachrichten aus Pirna, Freital, Dippoldiswalde und Sebnitz.
"Bald traten die Felswände so nahe aneinander, daß wir nur noch einer hinter dem anderen gehen konnten", schreibt der Dichter Hans Christian Andersen 1831 über seinen Eintritt ins Uttewalder Felsentor. Drohend lasten die Wurfgeschosse des Teufels im Nacken. Sie zu unterqueren ist noch immer eine kleine Mutprobe, sagt Alrun Flechsig. Noch hat sich jeder ihrer Wanderer getraut. Jahrhunderte hält das Naturgewölbe nun schon, sagt sie. "Es wird auch weiter halten."
Darauf vertrauen Birka und Olaf Lenzig ebenfalls. Die beiden Berliner, sie Architektin, er Software-Entwickler, sind von ihrem Hotel auf der Bastei hier herunter gewandert und haben eben mit eingezogenen Köpfen das Tor durchschritten. Die Schlucht hat sie überrascht, und gleich in ihren Bann gezogen. "Echt cool hier", sagt Birka. Für diesmal bleiben sie nur eine Nacht. "Aber wir kommen auf jeden Fall wieder."
Auf diese Weise sind schon Unzählige dem Uttewalder Grund verfallen. Einer seiner bekanntesten Fans ist Caspar David Friedrich, der große Maler der deutschen Romantik. In einem Brief berichtet er, er habe dort eine ganze Woche gehaust, zwischen Felsen und Tannen, ohne eine Menschenseele zu treffen, und er gesteht, dies sei selbst für ihn zu viel gewesen. Diese Methode, schreibt er, rate er niemandem.
Es heißt, Friedrich habe im Grund kampiert, um die Landschaft mit all ihren Facetten in sich aufzusaugen. So hat er mehrfach das Felsentor in Szene gesetzt. Übernachten können hätte er aber auch im nahen Wehlen. Warum die Einöde? Vielleicht fand er es einfach praktisch, vor Ort zu bleiben, mutmaßt Alrun Flechsig. Vielleicht war es aber auch der Drang, der uns heute noch an entfernte, an einsame Orte zieht. "Vielleicht wollte er einfach nur seine Ruhe."
Alrun Flechsig ist auch viel unterwegs gewesen in der Welt, vornehmlich im Gebirge: Pamir, Kaukasus, Himalaya, Patagonien. Aber sie ist immer auch gern zurückgekehrt, in die Sächsische Schweiz, die sie liebt, und die ja auch fast wie Amerika aussieht. Davon will sie ihren Gästen erzählen. "Und wenn dann alle mit guten Eindrücken nach Hause gehen, war ich der richtige Guide."