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Verkaufen, verschenken, wegwerfen: Was machen die Sachsen mit ihren alten Büchern?

Die Zeiten, in denen das eigene Bücherregal wie ein Schatz gehütet wurde, sind vorbei. Während das Kulturgut auf der Frankfurter Buchmesse gefeiert wird, droht so manchen Staubfängern zu Hause die Blaue Tonne.

Von Henry Berndt
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Der Massenmarkt ist tot, geblieben sind die Nischen-Sammler: Antiquar Michael Kunze in Bautzen.
Der Massenmarkt ist tot, geblieben sind die Nischen-Sammler: Antiquar Michael Kunze in Bautzen. © SZ/Veit Hengst

Im 1-Euro-Regal ganz in der Ecke warten ein Bildband über die Naturwunder Deutschlands, eine Anleitung zum Feng-Shui und Honoré de Balzacs „Glanz und Elend der Kurtisanen“ neben Hunderten anderen ausrangierten Werken auf leselustige Käufer. Viele von ihnen warten wohl vergeblich.

Das Schnäppchen-Regal im Antiquariat von Michael Kunze direkt am Bautzener Dom war einst dreimal so lang wie heute. Von jetzt an soll es nur noch schrumpfen. „Anfangs habe ich viel Mist angenommen“, erinnert sich der promovierte Politikwissenschaftler, der mit seinen 41 Jahren zu den jüngsten der wenigen verbliebenen Antiquare in Sachsen gehört. Nach drei Jahren im Geschäft weiß er inzwischen, was begehrt ist, was noch halbwegs geht und was überhaupt nicht mehr. Und es ist viel, was nicht mehr geht.

Das Kulturgut Buch ist in einer existenziellen Krise, was nicht heißt, dass niemand mehr liest. Bestseller wie die von Prinz Harry oder über Harry Potter verkaufen sich gut, und auch in diesen Tagen pilgern wieder Tausende Leseratten zur Frankfurter Buchmesse.

"Kaufen Sie an?": Keine Frage hört und liest Antiquar Michael Kunze häufiger.
"Kaufen Sie an?": Keine Frage hört und liest Antiquar Michael Kunze häufiger. © SZ/Veit Hengst

Und doch hat sich der Wert des Buches gewandelt. Einst wurde es gesucht, verschlungen, gesammelt und in wandfüllenden Bücherregalen zur Schau gestellt. Die um sich greifende Digitalisierung hat alles geändert. Inzwischen empfinden viele Menschen ihre Büchersammlungen als Last. Ihnen fällt auf, dass sie seit Jahren keines der Werke mehr in die Hand genommen haben und den Platz lieber für den neuen Fernseher nutzen möchten. Sie müssen sich eingestehen, dass sie ihren Nachkommen keinen Gefallen tun werden, wenn sie ihnen eines Tages all das bedruckte Papier vererben, darunter die 30-bändige Brockhaus-Enzyklopädie, die das Regalbrett bedrohlich nach unten biegt.

„Buchbesitz spielt heute nicht mehr dieselbe Rolle wie früher“, sagt der Buchwissenschaftler Franz Stephan Pelgen von Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. „Es gibt nicht mehr das klassische Bildungsbürgertum, und Bücher werden vielfach nicht mehr als ‚sexy‘ empfunden.“ Zudem habe sich die Mediennutzung gewandelt. In einer Welt, in der Mobilität gefragt ist, gelten Bücher als Ballast. Zudem werde die Büchernutzung auch weniger trainiert, angefangen von der „grassierenden Arbeitsblätteritis“ in den Schulen.

"Tollkühn, heute noch solch einen Laden zu betreiben"

Die Erkenntnis, dass der größte Teil der gesammelten Bücher überflüssig ist, führt direkt zu der Frage: Wohin damit? Michael Kunze hört in seinem Antiquariat in Bautzen die Geschichten der älteren Männer und Frauen, die ihm erzählen, wie froh sie zu DDR-Zeiten waren, dieses oder jenes Buch ergattern zu können, und wie traurig sie heute sind, dass sich niemand mehr dafür interessiert. „Wenn Sie diese Geschichten ein-, zwei- oder dreimal hören, dann sind Sie ergriffen, aber irgendwann stumpfen Sie ab“, sagt er.

Wenn ihm die Leute dann von ihrer Hoffnung erzählen, dass das Buch irgendwann wieder einen Aufschwung erleben werde, dann hat er daran gehörige Zweifel.

Bis 2020 verdiente der gebürtige Zwickauer, der heute in Dresden lebt, sein Geld hauptberuflich als Journalist, beschäftigte sich aber schon lange leidenschaftlich gern mit alten Büchern. Mit seinem eigenen Antiquariat hat er sich einen Lebenstraum erfüllt und sich sehenden Auges in eine kuriose Lage gebracht. „Auf der einen Seite ist das der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Auf der anderen Seite ist es schon tollkühn, heute noch solch einen Laden zu betreiben.“ Seine Öffnungszeiten hat Kunze inzwischen deutlich verkürzt: Dienstag bis Freitag 13 bis 18 Uhr, im Winter erst ab 14 Uhr. Manchmal kommt den ganzen Tag kein einziger Kunde. Ein reges Begängnis wie zur Langen Nacht der Kultur im Juni ist die Ausnahme.

© Gerhard Mester

Er startete mit einem Bestand von rund 15.000 Büchern. Inzwischen sind es etwa doppelt so viele. Halbwegs gut verkauft sich alles, was im weitesten Sinne mit Heimatgeschichte zu tun hat, außerdem Reiseführer und Kinderbücher aller Art. Noch weitaus schneller wechseln Kunstwerke wie Lithografien oder Farbradierungen den Besitzer, während das 13-bändige Kirchenlexikon vom Anfang des 20. Jahrhunderts auch zum günstigen Komplettpreis von 100 Euro wohl so schnell keinen Interessenten finden wird.

Der typische Kunde in Kunzes Antiquariat ist heute eher der Typ Sammler, Ü60, männlich. Ganze Buchreihen, wie die legendäre Insel-Bücherei, von der bis heute mehr als 1.000 Bände erschienen sind, werden auf Vollständigkeit gesammelt. Oft sind die Suchenden auf der Jagd nach Raritäten, nach der einen seltenen Ausgabe, die ihnen noch fehlt. Michael Kunze hilft gern, wenn er kann. „Es ist heute einfacher, zwei Bücher für 50 Euro zu verkaufen, als zehn Bücher für fünf Euro“, sagt er. Der Massenmarkt ist tot, geblieben sind die Nischen.

Um den Nachschub muss sich Kunze keine Sorgen machen. Keine Frage hört und liest er häufiger als „Kaufen Sie an?“. Im Schnitt einmal wöchentlich ist er bei einer Wohnungsauflösung zu Gast. Außerdem findet er regelmäßig Kisten voller Bücher vor seinem Geschäft. Manch einer fährt gleich mit dem Auto vor, öffnet den Kofferraum und sagt: „Wenn Sie das nicht nehmen, Herr Kunze, dann fahre ich zum Wertstoffhof.“ Natürlich schaut er in den Kofferraum und sucht sich ein bisschen was aus. Und der Rest?

Makulieren klingt schöner als Wegwerfen

Niemand spricht gern darüber, aber es muss immer wieder getan werden. Im Fachjargon spricht man vom Makulieren. Das hört sich besser an als wegwerfen, in den Müll schmeißen, vernichten. Ist aber nichts anders. Die Leiterin der Meißner Stadtbibliothek, Laura Siebert, spricht von bibliothekarischen Richtlinien, die besagen, dass man jährlich etwa 10 Prozent des Bestandes makulieren sollte, um ihn durch 10 Prozent Neuanschaffungen zu ersetzen. Bei einem Bestand von rund 30.000 Medien sind das immerhin rund 3.000 Bücher im Jahr, wobei die Rechnung nicht ganz aufgeht, weil längst nicht mehr alle Medien Bücher sind. Gründe zum Makulieren gibt es laut Siebert viele: zerfleddert, nicht mehr zeitgemäß und auf dem neusten Stand, zu niedrige Ausleihzahlen.

Streng genommen sind die meisten Bücher Sondermüll, erklärt Antiquar Kunze. Erst wenn man die Papierseiten vom Buchrücken trenne, dürften sie ins Altpapier. Die Konsequenz: Wenn Kunze mit einer Kiste unbrauchbarer Bücher auf den Wertstoffhof fährt, zahlt er dafür dort um die acht Euro. Privatleute müssen sich aber trotzdem keine Sorgen machen, wenn sie ihre Bücher in die Blaue Tonne werfen. Beanstandet wird das in der Regel nicht, wie das Amt für Stadtgrün und Abfallwirtschaft in Dresden bestätigt.

Bevor es so weit kommen muss, versucht manch einer jedoch viel, um noch jemanden für die eigenen Bücher zu begeistern. Das bringt manchmal noch ein wenig Geld, vor allem aber ein reines Gewissen. Möge das Kulturgut Buch auch an Wert verloren haben, Bücher wegzuwerfen fällt den meisten immer noch schwerer als bei ausrangierten Klamotten oder Spielzeug.

1.000 Bücher für 1.000 Euro: Barbara Stolle möchte im Internet die Hälfte ihrer Büchersammlung verkaufen.
1.000 Bücher für 1.000 Euro: Barbara Stolle möchte im Internet die Hälfte ihrer Büchersammlung verkaufen. © privat

Möglichkeiten zum Loswerden gibt es jede Menge. Besonders beliebt sind Plattformen im Internet. Jeden Tag werden auf der bekanntesten Kleinanzeigenseite allein in Dresden Dutzende Angebote ganzer Büchersammlungen eingestellt. Erst für gutes Geld, dann für einen symbolischen Betrag und irgendwann zum Verschenken.

Barbara Stolle aus Schirgiswalde ließ sich von ihrem Sohn Florian helfen. Die 57-Jährige liebt Bücher, hat jetzt aber auch das Tablet für sich entdeckt, nachdem sie sich jahrelang dagegen gewehrt hatte. Um Platz zu schaffen, will sie nun etwa die Hälfte ihrer rund 2.000 Bücher loswerden. „Ich sammle seit 30 Jahren“, sagt sie. „Romane lese ich allerdings schon länger mehr, deswegen fällt es mir nicht schwer, sie wegzugeben.“ 22 Umzugskartons hat Barbara Stolle gepackt, die Hälfte davon aus Platzgründen in den Keller geschleppt.

Auf den zehn Fotos in der Anzeige mit der Überschrift „Bibliotheksauflösung/Büchersammlung“ sind unter anderem Sebastian Fitzeks „Der Augensammler“ und Frank Schätzings „Lautlos“ zu erkennen. Im Text dazu steht der fromme Wunsch: „Ich würde mich freuen, dich mit dieser umfassenden Sammlung glücklich zu machen.“ Für alles zusammen möchte Barbara Stolle 1.000 Euro haben. „Das ist gerade mal ein Euro pro Buch und das ist ja kein Schund. Viele sind nur einmal gelesen.“

"Kann immer noch Zettel in Supermärkten aushängen"

Dennoch habe ihr Sohn ihr nicht sehr viel Hoffnung gemacht, wie sie sagt. Interessenten gebe es bislang keine, aber sie wolle geduldig sein. „Es reicht ja ein Einziger, der sich eine Bibliothek einrichten will. Ich versuche das jetzt mal ein halbes Jahr, dann kann ich immer noch Zettel in Supermärkten aushängen.“ Ihre Romane irgendwann einfach in einen Container zu werfen, kann sie sich nicht vorstellen. „Das würde mir schon wehtun.“

Eine weitere Option zum Verkauf im Internet wäre Momox, ein 2006 in Berlin gegründetes Unternehmen für den An- und Verkauf von Büchern. Das Prinzip: Über den ISBN-Code kann jeder Nutzer sofort erkennen, wie viel Geld Momox dafür zahlt. Ab einem Mindestverkaufswert von 15 Euro holt der Anbieter das Paket sogar zu Hause ab. Der einzige Haken: Längst nicht jedes Buch wird angenommen und für die meisten gibt es nur wenige Cent.

Vielleicht landen einige von Barbara Stolles Büchern ja auch eines Tages in einer der Büchertauschschränke, die auch in Sachsen gerade wie Pilze aus dem Boden schießen. Allein in Dresden gibt es inzwischen drei Dutzend dieser Orte, an denen Bücher abgegeben und im Tausch andere mitgenommen werden können. Das funktioniert oft prima, solange sich jemand um die Tauschorte kümmert und verhindert, dass sie innerhalb kürzester Zeit vermüllen. In manchen Fällen sind das alte Wohnzimmerschränke, eigens zusammengezimmerte Regale oder alte Telefonzellen, so wie im Fall der „Schmökerkiste“ im Radeburger Ortsteil Bärnsdorf.

Anja und Albrecht Sack kümmern sich in Bärnsdorf mit großer Hingabe um ihre „Schmökerkiste“.
Anja und Albrecht Sack kümmern sich in Bärnsdorf mit großer Hingabe um ihre „Schmökerkiste“. © SZ/Henry Berndt

Als hier Familie Sack inmitten der Coronakrise daheim die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, starteten sie ihr Büchertauschprojekt direkt an der Hauptstraße. Albrecht Sack besorgte bei der Telekom das alte Telefonhäuschen als Weihnachtsgeschenk für seine Frau Anja. Ihre kreativ talentierte Tochter kümmerte sich um die Bemalung. Seitdem wechseln hier auf einem Quadratmeter jeden Tag Dutzende Bücher den Besitzer.

Mit viel Zeit und Liebe kümmert sich Grundschullehrerin Anja Sack um die Pflege, putzt, sortiert und räumt viermal am Tag auf. Wer Bücher abgeben will, kann sie auch in eine Plastikkiste hinter der Zelle legen. „Die Kiste ist jeden Tag voll“, sagt Anja Sack. Wenn das nicht reicht, kommen Umzugskartons und Taschen dazu. Zum Teil bringen die Leute ihre Bücher schubkarrenweise vorbei. Hauptsache weg. Irgendwer wird die schon brauchen. Inzwischen hat Familie Sack ihre halbe Garage als zusätzliches Lager bereitgestellt, allerdings geht auch viel weg.

Manchmal ist auf einen Schlag die ganze Box leer oder Besucher scannen direkt in der Zelle Bücher ab, um zu schauen, was sie beim Verkauf über Momox bringen. „Das ist dann schon dreist“, sagt Anja Sack. Die meisten Gäste seien allerdings weitaus fairer und würden das Angebot wertschätzen. Besonders beliebt seien Krimis und wie im Antiquariat Kinderbücher, Kochbücher und Reiseführer. „Viele der alten DDR-Schinken will dagegen niemand.“ Deswegen muss auch Familie Sack ab und an mal zum Wertstoffhof fahren.

Kein Grund für Kulturpessimismus

Für sie ist das kein Drama, sondern Teil des Services. Das Buch als Auslaufmodell? „Wenn sie die Leute erleben würden, wie sie hier bei uns zum Teil Schlange stehen und später glücklich mit ihren neuen Büchern nach Hause gehen, dann denken sie nicht mehr daran, dass Bücher keine Zukunft haben“, sagt Anja Sack. Oft beobachtet sie ganze Familien, die immer wieder kommen und in denen sich jeder ein Buch aussuchen darf.

Auch wenn die Zeit der großen privaten Büchersammlungen vorbei ist, brauche man „keineswegs in einen grundsätzlichen Kulturpessimismus zu verfallen“, sagt auch Buchwissenschaftler Franz Stephan Pelgen. „Wir sind uns sicher, dass das Buch seine Bedeutung behalten wird.“

Ein Gedanke, der auch dem Antiquar Michael Kunze in Bautzen Hoffnung macht. Er hat noch geschlossen, als die Tür aufgeht und ein Mann mit langem Bart eine Kiste mit dicken Büchern hereinträgt. „Wir hatten telefoniert“, sagt er und Kunze antwortet mit leidendem Gesichtsausdruck. „Ja, und ich hatte Ihnen doch gesagt, dass das vermutlich schwierig wird“. „Ich würde ja auch tauschen“, versucht es der bärtige Mann erneut, und die Miene des Antiquars hellt sich auf, als er sieht, was genau ihm da angeboten wird: „Die Kunst des deutschen Möbels“ in drei Bänden. Das wird sich rasch verkaufen und könnte beim neuen Besitzer zu Hause ein Schmuckstück im Bücherregal werden. Sobald dort wieder Platz ist.


Wohin mit meinen alten Büchern?

Kleinanzeigen: Anzeigen samt Bildern können auf Onlineportalen kostenlos eingestellt werden. Die einzelnen Bücher oder ganze Sammlungen werden dann auf Verhandlungsbasis verkauft oder verschenkt.

Bücherschränke: In fast jedem größeren Ort in Sachsen gibt es inzwischen mindestens ein Regal oder eine alte Telefonzelle, in der Bücher kostenlos getauscht werden können. In Dresden gibt es bereits drei Dutzend dieser Angebote.

Momox: Online-Händler für gebrauchte Bücher. Über den ISBN-Code kann geprüft werden, wie viel Geld Momox zahlt. Ab einem Mindestverkaufswert von 15 Euro holt der Anbieter das Paket zu Hause ab.

Spenden: Kindergärten und Altenheime freuen sich über Buchspenden. Organisationen wie Oxfam unterstützen soziale Projekte.