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Warum es in Gaza und der Ukraine auch um unsere Zukunft geht

Deutschland ist durch Jahrzehnte der Scheckbuchdiplomatie gewohnt, selbst nichts zu riskieren. Das darf nicht so weitergehen. Ein Gastbeitrag.

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Mariupol oder Maghazi? Nicht nur die Bilder der gegenwärtigen Kriege gleichen sich. Sie stellen auch beide eine Herausforderung an Deutschland dar.
Mariupol oder Maghazi? Nicht nur die Bilder der gegenwärtigen Kriege gleichen sich. Sie stellen auch beide eine Herausforderung an Deutschland dar. © dpa

Von Richard Schneider

Was hat die deutsche Diskussion über die Taurus-Rakete mit dem Kampf der israelischen Armee in Gaza zu tun? Eine ganze Menge. Und nein, hier soll nicht die Achse Iran-Russland diskutiert werden und auch nicht, inwiefern das israelische Vorgehen in Gaza gerechtfertigt ist oder nicht. Ebenso wenig geht es um die Frage, ob der Kanzler mit seiner Entscheidung, den Ukrainern diese Rakete vorzuenthalten, recht hat oder auch nicht.

Es geht vielmehr darum, wie der Kanzler die eigene Bevölkerung auf eine mögliche Konfrontation vorbereitet, respektive wie sie die Wehrfähigkeit der eigenen Nation stärkt – oder eben nicht. Ohne die Details zu kennen, die der Kanzler vielleicht hat, so kann doch dessen mediale Vermittlung der Lieferungsverweigerung bewertet werden. Sie ist, auch das ist nicht neu, katastrophal. Das Zögern und Zaudern, das Hin und Her, hinterlässt bei den Menschen in Deutschland eher ein Gefühl der Unsicherheit, als dass es die Bürgerinnen und Bürger beruhigt.

Die Angst vor einem dritten Weltkrieg ist sehr verständlich

Die Angst, eine Lieferung von Taurus-Raketen könnte dazu führen, dass die Ukraine möglicherweise sogar Moskau angreift, die Angst, Putin könnte eine solche Lieferung als direkte Beteiligung eines Nato-Mitgliedstaates in diesem Krieg werten und damit den Krieg ausweiten, möglicherweise sogar einen dritten Weltkrieg anzetteln, ist sehr verständlich, und man muss froh sein, dass man einen Kanzler an der Macht hat, der nicht mit deutschem „Hurra“-Gebrüll blindlings in einen Krieg hineinrennt.

Aber die oben genannten Bedenken erscheinen angreifbar. Experten haben versichert, dass man Taurus so programmieren kann, dass sie eben nicht bis nach Moskau kommt oder andere sensible Ziele erreicht. Und die Sorge, Putin könnte diese Lieferung als Anlass zum dritten Weltkrieg nehmen, ist ebenfalls wackelig. Zum einen, weil die Franzosen und die Briten bereits ähnliche Waffensysteme an die Ukraine geliefert haben, zum anderen, weil Putin, wenn er denn einen Angriff auf die Nato vorhat, sich jedweden Vorwand aussuchen kann, um den Krieg auszuweiten.

Die anderen riskieren ihr Leben, die Deutschen zahlen

Noch einmal: Es geht nicht darum, die Entscheidung des Kanzlers zu beurteilen. Möglicherweise hat er wirklich gute Gründe, Taurus nicht zu liefern. Und ja, Deutschland liefert in Zahlen mehr Waffen und Munition an die Ukraine als jedes andere Land. Von den „5.000 Helmen“ bis heute hat Deutschland einen langen Weg zurückgelegt. Doch er dauerte beinahe zu lange. Und der Umgang mit der Taurus-Frage scheint noch aus einer Zeit zu stammen, in der die Bundesrepublik am liebsten mit Scheckbuchdiplomatie Außenpolitik machte: Die anderen riskieren ihr Leben (meistens waren das die USA, die Briten und Frankreich), die Deutschen zahlen.

Jahrzehntelang ergab das Sinn. Es war eine der Lehren, die Nachkriegsdeutschland aus dem Zweiten Weltkrieg zog. Doch dieses Argument zieht in der heutigen Welt nicht mehr. Das freie Europa steht vor der Frage, ob und wie es überleben kann. Möglicherweise werden im November in den USA Weichen gestellt, die für die Nato „ungünstig“ sein könnten, um es vorsichtig zu formulieren. Will heißen: So oder so muss sich Europa darauf einstellen, dass die guten, nicht kriegerischen Zeiten vorbei sind.

Panik vor Putins atomaren Drohungen

Und Deutschland, als größtes und stärkstes Land in der EU, muss Führungsstärke zeigen, muss zeigen, dass es vor einer Konfrontation keine Angst hat. Dass man diese Konfrontation vermeiden will – natürlich, unbedingt. Aber das funktioniert nicht, indem man sich einschüchtern lässt. Es war der Kanzler, der gleich zu Beginn des Ukraine-Kriegs vor einem Atomkrieg gewarnt hatte, weil Putin etwas in diese Richtung erklärt hatte. Mit einem einzigen Satz hatte Olaf Scholz sein Land in Panik versetzt.

Und die Deutschen geraten schnell in Panik. Sie waren viel zu lange diese Scheckbuchdiplomatie gewohnt: Man musste selbst wenig riskieren. Alles war gut. Wie anders agierte US-Präsident Joe Biden. Wie inzwischen bekannt wurde, bereiteten sich die USA 2022 tatsächlich auf den nuklearen Ernstfall vor – im Geheimen. Die Drohungen eines atomaren Schlags zumindest gegen die Ukraine wurden sehr ernst genommen. Der Präsident schürte jedoch öffentlich keine Panik, sondern warnte Putin vor den möglichen Folgen. Insbesondere bei einem geheimen Treffen eines russischen und amerikanischen Emissärs.

Deutschland muss aus der Komfortzone heraus

Das kann die Bundesrepublik nun unbestritten nicht leisten. Doch was Deutschland im Jahr 2024 leisten kann, ist: sich endgültig aus der Komfortzone herauszubewegen und den Menschen klarzumachen, dass es zwar keinen Grund zur Panik gibt, man sich aber auf grundlegend neue Zeiten – auch militärisch – vorbereiten muss. Es gibt keine Wahl. Die Freiheit steht auf dem Spiel. Möglich, dass Olaf Scholz in genau diesen Kategorien denkt oder handelt, seine öffentlichen Auftritte bewirken genau das Gegenteil.

An dieser Stelle kommt Israel ins Spiel. Nein, hier soll auch nicht über die rechtsextreme Regierung Netanjahu diskutiert werden, ebenso wenig über die Frage, was die israelische Armee alles falsch macht in Gaza. Das ist ein anderes Thema. Es geht hier um ein Prinzip, von dem Deutschland lernen kann und wahrscheinlich lernen muss: die grundsätzliche Bereitschaft der Israelis, für die eigene Sicherheit und Freiheit alles zu riskieren.

Der Staat stand schon oft am Rande der Vernichtung

Über Jahrzehnte hatte Israel eine ziemlich simple Doktrin: Um in einem feindlichen Umfeld zu überleben, das sich nichts sehnlicher wünschte als die Vernichtung des jüdischen Staates, musste es nicht nur stets für einen Krieg vorbereitet sein und ihn im Zweifelsfall auch führen. Es ging auch darum, die feindlichen Nachbarn mit größtmöglichen militärischen Machtdemonstrationen abzuschrecken und ihnen so zu signalisieren: Überlegt euch gut, ob ihr uns angreifen wollt.

In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung ging Israels Doktrin auf. Als man sich allzu sicher fühlte, noch siegestrunken vom Sechs-Tage-Krieg 1967, überfielen Syrien und Ägypten Israel 1973 und brachten Israel in der ersten Woche an den Rand der Vernichtung. Die Armee konnte dann, in unglaublich verlustreichen und brutalen Kämpfen, den arabischen Staaten zeigen, dass auch in solch einer Situation mit Israel nicht gut Kirschen zu essen ist.

Israels Gesellschaft hat sich immer weiter „verwestlicht“

Jahrzehnte später änderte sich die Doktrin, insbesondere gegenüber der Hamas, aber auch gegenüber der Hisbollah im Libanon. Unabhängig von der Tatsache, dass vor allem unter Netanjahu im Friedensprozess mit den Palästinensern nichts mehr ging, waren er und seine Nation nicht mehr bereit, echte Abschreckung herzustellen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Hamas waren zwar blutig, aber letztlich in ihrer Konsequenz bedeutungslos.

Es waren Defensivkriege aus israelischer Sicht, die nichts anderes wollten als „containment“, also eine gewisse Eindämmung und Beherrschung der Situation, um am Status quo nichts zu verändern. Das lag zum einen an Netanjahus Politik, die Hamas zu stärken, um so die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen und damit keinen „Partner für Frieden“ zu haben. Das lag aber auch daran, dass die israelische Gesellschaft sich immer weiter „verwestlichte“, also: „verweichlichte“, wie das von autoritären Herrschern gern formuliert wird.

Die Mehrheit ist gegen Netanjahu, aber auch für den Kampf

Man genoss das gute Leben. Das Hightech-Wunder brachte dem Land einen wirtschaftlichen Boost, das Essen, das Meer, das schöne Wetter – man glaubte sich in Miami und nicht im Nahen Osten. Den Preis für die fehlgelaufene Politik Netanjahus und das Nachlassen der Abschreckungsbereitschaft muss die israelische Gesellschaft nun ausbaden.

Aber sie ist dazu bereit. Die alten Instinkte sind wieder da. Und sie ist auch bereit, den Kampf nach Rafah zu tragen, wo angeblich die letzten Bataillone der Hamas noch intakt sind. Man will die eigene Abschreckungskraft wiederherstellen. Auch wenn die große Mehrheit der Israelis die Regierung Netanjahu zum Teufel jagen will – dieselbe Mehrheit ist auch dafür, in diesem Krieg die Hamas militärisch zur Gänze zu vernichten. Inwiefern das wirklich möglich ist, ist eine andere Frage.

Die Israelis sind bereit, alles für ihr Überleben zu tun

Letztlich geht es immer nur darum, die Zeit zwischen den Kriegen zu verlängern. Und solange weder Israelis noch Palästinenser wirklich in der Lage sind, eine Zwei-Staaten-Lösung anzuvisieren und umzusetzen, solange wird es immer wieder Krieg geben. Doch diese politischen Fragen sind es nicht, um die es hier geht. Es geht um die Bereitschaft der Israelis, alles für das eigene Überleben zu tun. Zu verstehen, dass nur militärische Stärke eines Tages zum Frieden führen kann.

Das konnte man vor Jahrzehnten auch im Ost-West-Konflikt sehen, als Präsident Ronald Reagan die wirtschaftlich angeschlagene UdSSR mit der eigenen Hochrüstung in den Ruin trieb – und damit zur politischen Annäherung zwang. Klar, es kamen noch andere Faktoren hinzu. Doch die militärische Komponente spielte eine wichtige Rolle.

Wie im Nahen Osten ist der Krieg in Europa längst da

Insofern ist es heute nur schwer verständlich, warum viele europäische, insbesondere deutsche Politiker über einen eigenen Atomabwehrschirm nicht einmal diskutieren wollen, auch angesichts der Äußerungen von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump. Das eigene Überleben – es scheint so zu sein, als ob vielen Menschen in Deutschland noch nicht ganz klar ist, was auf dem Spiel steht.

Wie im Nahen Osten ist der Krieg in Europa doch schon da, direkt vor der eigenen Haustür. Die Ukraine ist längst nicht mehr „hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen“. Deutschland muss sich, gemeinsam mit der EU, endlich der Herausforderung stellen und Putin in Moskau sehr klar zeigen: Wir haben keine Angst. Wir bieten dir die Stirn. Mit oder ohne Taurus.

Unser Gastautor Richard Chaim Schneider (67) ist Buchautor und Dokumentarfilmer. Er war Leiter der ARD-Studios in Rom und in Tel Aviv, und bis Ende 2022 Editor beim BR/ARD. Er schreibt heute als freier Korrespondent für den Spiegel aus Israel und den Palästinensischen Gebieten. Sein Text erschien zuerst auf der Plattform des Zentrums Liberale Modern LibMod.