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Aufgewachsen in den Trümmern von Dresden

In neuen Essays schreibt Volker Braun offenherzig über sein Leben und wandert mit einer „Klimakleberin“ durch Berlin. Am Montag stellt er sein Buch in Dresden vor.

Von Rainer Kasselt
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Volker Braun bringt durch die Literatur sogar Wilhelm Pieck und die preußische Königin Elisabeth Christine zusammen.
Volker Braun bringt durch die Literatur sogar Wilhelm Pieck und die preußische Königin Elisabeth Christine zusammen. © Foto: Arno Burgi / dpa

Steht die Menschheit auf der Kippe? Tötet sie sich in Krisen und Kriegen? Oder kommen ihr Hitze und Fluten zuvor? Diesen Fragen geht Volker Braun in seinem schmalen, gewichtigen Band „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ nach. Kritisch, dialektisch, poetisch, sprachschön und „politisiert bis in die Fingerspitzen“. Das Buch erscheint wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag am 7. Mai. Man kann es als die geraffte Bilanz seines Denkens und Schreibens lesen. „Das ungebundene ist sogleich das glücklichere Denken.“D

Das Buch umfasst drei tiefgründige essayistische Betrachtungen über das globalisierte Leben. Braun nennt sie bescheiden Versuche. Der Büchnerpreisträger hält bei aller Skepsis eine andere als die jetzige Gesellschaft für möglich. „Es muss aber eine Welt sein, in die viele Welten passen.“ Früher hätte man einfach seine Zelte abbrechen und gehen können, schreibt er, „jetzt gibt es keine Anderwelt mehr, wir sind im Überall“. Allerorten zerstörte Umwelt. „Die Erderwärmung ist die Kapitalismuskrise.“

Es geht um die sozialen Bedingungen des Menschseins

Es gehört zu Volker Brauns Maximen, Ross und Reiter zu nennen. Mit tiefem Ernst, Humor und Hintersinn. Die Literatur habe die Pflicht, die Realität zu zeigen. Es brauche ein Denken, dass sich dem herrschenden Geist entgegenstelle, hatte Volker Braun in seiner viel zitierten Kamenzer „Dreinrede“ gesagt. Es gehe nicht mehr um Ideologien und Religionen, sondern „um die sozialen Bedingungen des Menschseins“, um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Im ersten Teil wird gefragt, wie Kunst beschaffen sein muss, um den Anforderungen der Zeit zu genügen. Braun hat sich unter Kollegen umgesehen. Der argentinische Dichter Sergio Raimondi schreibt eine Ode an den Pazifischen Ozean und verleiht ihm eine „globale Dimension“, er belädt den Ozean „mit den Lasten des Neokolonialismus“. Der Russe Sergej Sawaljow schreibt über die geschichtlichen Tragödien seiner Heimat: zaristische Eroberung, nazideutsche Blockade, stalinistische Vertreibung.

Großrussischer "Haltsmaul" diktiert der Ukraine Geschichte

Der chinesische Autor und Philosoph Chen Zhongyi hofft auf eine Zeit der „großen Harmonie“, die das multinationale Gerangel ersetzt; „andernfalls würden wir durch grenzenlose Konkurrenz und endlosen Konsum zu Robotern werden“. Für Braun ist die Poesie das Gegenstück zu Zeremonie und Formenzwang und lebt von Fülle, Intensität, Widerspruch.

In einer nachgeschobenen Passage heißt es: „Jetzt scheint ein Atlantik Eurasien zu trennen, vorgerückt bis an die russischen Grenzen: worauf der großrussische Haltsmaul erwacht und in der Ukraine Geschichte diktiert.“ Dieser nicht endende Krieg fährt wie ein Brandsatz in Brauns Text. An anderer Stelle fällt der Satz: „Die Nato in Neugotland, das geht gar nicht.“ Neugotland nannten die Nazis die Halbinsel Krim nach der deutschen Besetzung.

"Der Nationalismus ist das schlimmste Übel der Völker

Im zweiten Teil führt der Autor philosophische Dialoge mit fiktiven Personen. Dazu zählt der altersweise Enzyklop, eine Hommage an die Enzyklopädie des französischen Aufklärers Denis Diderot. Dessen drei Dialoge „d´Alemberts Traum“ inspirierten Braun. Er flaniert mit Enzyklop über eine griechische Insel, natürlich im Netz. „Die Menschheit geht online. Dasein heißt Online-Sein.“ Sie diskutieren über Verdrehung der Worte, grassierende Hast, Europa-Ichsucht.

„Der Nationalismus ist das schlimmste Übel der Völker“, meint Enzyklop, und wünscht sich „eine gemeinsame Rasse, besamt aus allen Himmelsstrichen“. Davon sind wir weit entfernt. Trübe Aussichten, wohin man schaut. „Wetterwechsel und die Weltbanken“ werden Landschaften zerstören, Kornkammern zu Wüsten machen. Und was bleibt von der Kultur in der Medienwelt? „Eine Wüste der Unterhaltung sinnverarmter Lemuren.“

Ein junges Mädchen und ein alter Mann im Sexclub

Keine Hoffnung, nirgendwo? Sie naht mit kecken Schritten und heißt Sophie. Ein wissbegieriges, engagiertes junges Mädchen. Sophie, die Wissende. Jostein Gaarder machte sie in seinem Roman „Sofies Welt“ berühmt und lässt sie die Geschichte der Philosophie erzählen. Bei Volker Braun schlendert Sophie als Klimakleberin und Vertreterin der Letzten Generation durch Berlin. Einmal will sie Braun treffen. Im Wellness-Lokal „Liquidrom“, einem Nobelschuppen, „wo man flüssig sein muss“. Ein Ort mit Indianerzelt, Waschsalon, finnischer Sauna. Sex maritim.

Natürlich kennt Sophie ihren Diderot. „Diese Philosophen waren fähig, den Kosmos ohne jeden Gott zu denken; die Gesellschaft ohne Herrschaft zu sehen.“ Sophie lebt gern, genießt den Moment, schläft nicht nur mit einem. Wird sie vorgeladen, die Autobahnmaut zu blechen? „Zahle den Zaster, lasst euch bestrafen“, sagt sie zu ihrem älteren Begleiter. „Tauche nicht ab, sei da!“

Zur "Bewährung" ins Kombinat Schwarze Pumpe

Im dritten, autobiografischen Teil erinnert Volker Braun an Stationen seines Lebens. Die Geburt 1939 in Dresden, der Vater stirbt am letzten Tag des Krieges, die Mutter zieht allein fünf Söhne groß. In den Dresdner Ruinen noch Reste von Schönheit, „eine geborstene Pracht“. Die Zeit in Rochwitz, oberhalb des Elbhangs, erste Liebe im Kornfeld. Braun eckt früh an. „Mein Laster: ich lasse mir nichts sagen.“

In der Oberschule fordert er Gedankenfreiheit, fliegt aus der FDJ. Der „renitente“ Lehrling wird aus der SZ-Druckerei fristlos entlassen, darf sich im Kombinat Schwarze Pumpe „bewähren“. Lernt die rollende Woche und die Härte körperlicher Arbeit kennen. Wechselt die Fakultäten, studiert Philosophie in Leipzig. Beginnt zu schreiben, die Zensur ist hellwach. Im frühen Stück „Die Kipper“ nennt er die DDR „das langweiligste Land der Erde“. Auf dem 11. Plenum des ZK wird es verboten. Kein Einzelfall. Braun ließ sich nicht entmutigen, heute aber fragt er sich: War er zu nachgiebig, hätte er deutlicher Alternativen aufzeigen müssen?

Ein Tischler wählt ein Schloss als Regierungssitz

Selbstkritisch schrieb er schon früher: „Aus Vorsicht hielt ich mir immer den Rückweg offen.“ In den Westen gehen? Das rieten ihm die Spitzel. „Der soll nach China gehen!“, drohte Walter Ulbricht. Braun lebt in Berlin. Nach der Gewalt des Sozialismus lernt er die Gewalt des Kapitalismus kennen. Und mit fünfzig Jahren die Gewalt einer unglücklichen Liebe. Er ist nie Mode geworden in der Spaßgesellschaft. Geübt im Training des aufrechten Gangs, reibt er sich unverdrossen an den Verhältnissen im Westen, der Restaurierung des Alten. Der Schluss des Buches verblüfft.

Auftritt von Wilhelm Pieck und der preußischen Königin Elisabeth Christine. Friedrich II. schob die Gattin ab und schenkte ihr Schloss Schönhausen. Sie ließ den Park anlegen, pflanzte vier Platanen, die noch heute stehen. Der gelernte Tischler Pieck nahm als Präsident der jungen DDR Schloss Schönhausen zum Regierungssitz. Volker Braun lässt beide Arm an Arm durch den Park wandeln. Sie hält ein Büchlein hoch „Ode an die Ozeane“, er sieht bescheiden zur Seite. Vergangenheit und Vision unterwegs in eine unbekannte Zukunft. Was für ein Bild!

  • Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp Verlag, 100 Seiten, 20 Euro
  • Lesung und Diskussion mit Volker Braun am Montag, 29. April um 19.30 Uhr im Kulturpalast Dresden.