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„Scherben, überall Scherben“

Die Reichskristallnacht 1938 bedeutete das Ende des jüdischen Handels in der Stadt. Teil 3 der Serie über Stolpersteine in Meißen.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Ob Rosa Cohn sich so etwas überhaupt hatte vorstellen können? Einerseits musste die inzwischen 44-jährige Händlerin sich noch gut an den antijüdischen Boykott von 1933, fünf Jahre zuvor, erinnern. Auch die Absetzung des Meißner Oberbürgermeisters Dr. Busch, im „Stürmer“ als Judenknecht bezeichnet, im Jahr 1935 konnte ihr kaum entgangen sein. Die Gesetze gegen die Juden spürte sie täglich und immer drastischer am eigenen Leib. Die NSDAP markierte deren Geschäfte durch große Plakate, an den Eingangstüren stellte sie uniformierte Posten auf. „Kein (guter) Deutscher kauft bei einem Juden!“ wurde den Menschen eingetrichtert.

Heute erinnert ein Stolperstein an die ermordete Jüdin.
Heute erinnert ein Stolperstein an die ermordete Jüdin. © Claudia Hübschmann

Andererseits machte es der Witwe vielleicht auch Hoffnung, dass sich noch genügend Käufer regelmäßig mit diesen Wachposten anlegten, noch immer genügend Menschen in ihr Bekleidungsgeschäft kamen, das sie seit 1924 führte. Vielleicht war sie auch deshalb noch hier, in dieser Stadt, in die sie am 14. Januar 1894 geboren wurde und wo sie den Turnverein „Frisch auf“ besucht hatte. Die Stadt, die noch vor wenigen Jahren als Hochburg der Sozialdemokratie galt.

Ob sie zu Hause war, als in der Nacht zum 10. November 1938 die Steine durch ihre Schaufenster flogen, ihr Geschäft, wie so viele andere, geplündert wurde? Sie lebte ja in der Wohnung direkt darüber, damals Gerbergasse 29, heute Roßmarkt 1, damals wie heute das schmalste Haus des Straßenzuges.

„In dieser Nacht ist kein Judengeschäft verschont geblieben“, erinnerte sich eine Zeitzeugin, Frau R., in einem Tonbandprotokoll. Zwei Meißner Gymnasiasten hatten dieses und weitere Protokolle für eine Belegarbeit im Fach Geschichte im Jahr 1992 angefertigt. „Man mußte dann auch aufpassen, damit man keinen Stein an den Kopf bekam“, so Frau R. In der Stadt habe es furchtbar ausgesehen. „Nichts als Scherben, überall Scherben.“

Am Abend zuvor: Auf dem Burgberg versammeln sich über 100 Fackelträger der Hitlerjugend, eine riesige Hakenkreuzfahne ist am Wendelstein der Albrechtsburg angebracht. „Dort sprach irgendein Nationalsozialist“, erinnert sich Frau R. Sie habe ihre Großmutter besucht, die gleich in der Nähe wohnte, und hörte so die Rede. Eine regelrechte Hetzrede, wie andere Zeitzeugen berichteten. Ein Bekannter von Frau R. warnte sie: „Bleiben Sie nicht hier stehen, für heute Nacht ist etwas Furchtbares geplant, gehen Sie lieber nach Hause.“

Die Folgen der Reichskristallnacht sind hinlänglich bekannt , die unmittelbaren wie die längerfristigen. Die Geschäfte der jüdischen Händler Sachs, Loewenthal und Heymann, sowie das große Kaufhaus Schocken, wurden geplündert. Männliche Juden wurden in „Schutzhaft“ genommen und am anderen Tag auf dem Marktplatz zur Schau gestellt. Darunter war auch Doktor Willi Weiner, welcher bekannt dafür war, arme Patienten schon einmal umsonst zu behandeln. Vorbeikommende Bürger spuckten ihm ins Gesicht. „Nach dieser Nacht sind einige geflüchtet“, sagte Frau R. laut Tonbandprotokoll. „Sie wußten dann auch nicht mehr, wem sie noch trauen können.“

Im Geschäft von Rosa Cohn entstand ein Schaden von knapp 856 Reichsmark. Heute würde das über 6 000 Euro entsprechen. Schon am 11. November musste sie ein Schriftstück unterzeichnen, das besagte, dass sie die Kosten dafür selbst tragen würde. Im Dezember verkaufte sie ihr Grundstück und ihr Geschäft. Sie zog erst an den Münchner Platz in Dresden, dann, im Februar 1939, nach Leipzig.

Lange blieb sie aber auch dort nicht, denn am 21. Januar 1942 wurde sie nach Riga deportiert und kam dann in das KZ Stutthof, 37 Kilometer östlich von Danzig. Am 3. Oktober 1951 wurde sie vom Amtsgericht Leipzig für tot erklärt, zuvor galt sie als verschollen. Der Stolperstein, der seit Anfang Dezember 2013 in den Fußweg vor dem Roßmarkt 1 eingefasst ist, gibt ihr Todesdatum als den 1. Oktober 1944 an. Auch das Mahnmal im Käthe-Kollwitz-Park, dort, wo das Ehepaar Mosszizki falsche Vornamen trägt, nennt ihren Namen.