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Wie Karl-Heinz Rummenigge den Fußball jetzt sieht

Der Ex-Vorstandschef des FC Bayern über die Folgen von Corona, die Konkurrenz mit England, den Einstieg von Investoren und das Comeback der DFB-Auswahl.

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„Der Fußball entwickelt sich immer mehr zu einer Industrie":
„Der Fußball entwickelt sich immer mehr zu einer Industrie": ©  dpa/Sven Hoppe

München. Fast zwei Jahrzehnte hat Karl-Heinz Rummenigge den FC Bayern München erfolgreich als Vorstandsvorsitzender angeführt. Nach seinem Rückzug beim deutschen Fußball-Rekordmeister hat sich der 66-Jährige inzwischen im neuen Leben eingerichtet.

Beim Treffen in seinem Wohnort Grünwald bezeichnet er es als „stressfreier“. Den Fußball und den FC Bayern verfolgt das Uefa-Exekutivmitglied weiter intensiv – und er bleibt ein meinungsstarker Gesprächspartner.

Herr Rummenigge, Sie standen 20 Jahre an der Spitze des FC Bayern. Können Sie aus Ihren Erfahrungen den abrupten Rückzug von Geschäftsführer Max Eberl bei Borussia Mönchengladbach nachvollziehen? Hat der Druck auf die Entscheider im Fußball – in Corona-Zeiten – nochmals zugenommen?

Der Druck im Fußball war und ist immer groß. Corona hat finanzielle Schäden verursacht. Und das hat Konsequenzen für Vorstände oder Sportdirektoren. Sie müssen damit umgehen. Sie müssen sehr umsichtig agieren auf dem Transfermarkt, insbesondere bei Gehältern, im Umgang mit Beratern und Spielern, die nach wie vor nicht akzeptieren wollen, dass sich der Markt verändert hat, speziell in Deutschland. Ich habe in den 20 Jahren als Vorstandschef bei Bayern München auch nicht nur Sonnenschein erlebt. Man muss ein dickes Fell haben in diesem Geschäft. Uli Hoeneß und ich haben das nach außen immer ausgestrahlt. Aber ich weiß schon, was es bedeutet, wenn du am Samstag in der Bundesliga ein Spiel verloren hast. Dann war das Wochenende hinüber.

Sie haben Ihrem Nachfolger Oliver Kahn etwas früher Platz gemacht. Was denken Sie: Wie will er den FC Bayern ausrichten?

Wenn man neu beginnt, muss man Dinge ein Stück weit modernisieren und neu ausrichten, ohne das Bewährte aufzugeben. Das ist die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe, die Oliver hat. Wir blicken auf zehn Jahre zurück, die für Bayern München unglaublich erfolgreich waren – sportlich und auch finanziell. Wir waren ein Vorbild im europäischen Fußball. Diese Stellung zu halten ist – speziell durch Corona – schwieriger geworden. Aber auch durch die Gesellschaft, die sich verändert hat und möglicherweise gegenüber dem Fußball kritischer geworden ist.

Woran machen Sie das fest?

Ich mache das daran fest, dass Fan-Gruppierungen kritischer mit dem Fußball umgehen. Das hat man nicht nur bei Bayern München auf der jüngsten Jahreshauptversammlung gespürt. Wir sind an einem Punkt, an dem man seriös diskutieren muss: Quo vadis deutscher Fußball? Es ist natürlich für den FC Bayern toll, wenn er jetzt wahrscheinlich zum zehnten Mal nacheinander deutscher Meister wird. Aber für das Thema Emotion im Fußball und in der Bundesliga ist das wiederum nicht gut. Ich empfehle, einen Blick über die Grenzen zu werfen, etwa nach England. Wir haben in Deutschland jahrelang versucht, einige Dinge auszusitzen. Das führt zwangsläufig zu Problemen, national wie international.

Von den 16 Vereinen, die gerade das Achtelfinale der Champions League ausspielen, kommen vier aus England, drei aus Spanien, je zwei aus Italien, Frankreich und sogar Portugal – aber nur einer aus Deutschland. Ist das eine Momentaufnahme oder doch mehr?

Beides. Im letzten Jahr waren noch alle vier Bundesligisten im Achtelfinale. Aber es ist ein negativer Trend erkennbar. Wir können uns die Europa League mit noch vier deutschen Teilnehmern schönreden. Aber der große Fußball findet nun mal in der Champions League statt. Da ist nur noch Bayern München dabei – und das hoffentlich lange.

Was sind die Gründe für den Abwärtstrend?

Die Gründe liegen immer im Faktor Qualität. Und der hat auch mit Finanzen zu tun. Wobei ich sagen muss: Das Dortmunder Aus in der Champions League war für mich eine Überraschung. Die Gruppe mit Ajax Amsterdam, Sporting Lissabon und Besiktas Istanbul erschien mir machbar. Klar war dagegen von Anfang an, dass es der VfL Wolfsburg und speziell auch Leipzig, in einer Gruppe mit den beiden großen Kalibern Paris Saint-Germain und Manchester City, schwer haben würden.

Robert Lewandowski, der zurzeit verletzte Manuel Neuer sowie Thomas Müller sind weiterhin die Anführer beim FC Bayern. Die Entdeckung der bisherigen Saison ist aber ein gereifter Leroy Sané. Folgt für ihn jetzt in der K.-o.-Phase der Champions League die Reifeprüfung zum europäischen Topstar?

Als wir Leroy 2020 verpflichtet haben, haben wir viel Glauben und viel Geld in ihn investiert. Er hat vielleicht das erste Jahr gebraucht. Gar nicht so sehr wegen seiner Kreuzbandverletzung zuvor. Er musste ein wenig heraus aus seiner Bequemlichkeit. Das, was Anfang dieser Saison passiert ist, mit den Pfiffen der Fans, den Kritiken der Experten, war hilfreich. Das war offenbar ein Weckruf für ihn nach dem Motto: ‚Ich muss Dinge verändern, und die Erwartungen des Klubs und das Talent, das mir der Liebe Gott in die Wiege gelegt hat, auch erfüllen.‘ Jetzt erfüllt er sie. Der ganze Verein ist happy, er ist happy. Er ist ein ganz anderer Spieler geworden. Er partizipiert ganz anders am Spiel. Er hat in der letzten Saison auf Rechtsaußen oft ein Mauerblümchendasein geführt. Jetzt will er den Ball haben. Er ist nicht nur schnell und torgefährlich, er ist auch laufstark und hilft in der Defensive aus.

Eine große Veränderung steht in der K.-o.-Phase an: Nach 56 Jahren gilt im Europapokal die Auswärtstorregel nicht mehr. Steht es also im Gesamtvergleich unentschieden, geht es nun in die Verlängerung. Was erwarten Sie von der Regeländerung?

Wir haben in der Uefa-Exekutive lange über dieses Thema diskutiert. Ich war für die Abschaffung – nicht, weil wir mit Bayern München letztes Jahr gegen Paris Saint-Germain so noch in die Verlängerung gekommen wären. Ich bin überzeugt, es wird für mehr Spannung sorgen. Es werden mehr Spiele in die Verlängerung gehen. Die Champions League fängt mit dem K.-o.-System für mich erst so richtig an. Und die Abschaffung der Auswärtstorregel wird helfen, den Wettbewerb sportlich noch attraktiver zu machen.

Ist Julian Nagelsmann trotz seiner erst 34 Jahre schon ein Trainer, der Champions-League-Siegerformat besitzt wie Jürgen Klopp (FC Liverpool), Hansi Flick (Bayern München) und Thomas Tuchel (FC Chelsea), die deutschen Sieger in den vergangenen drei Spielzeiten?

Ich habe einen positiven Eindruck von Julian Nagelsmann. Er musste in sehr große Fußstapfen treten, die ihm Hansi mit sieben Titeln in 14 Monaten hinterlassen hat. Er hat sich davon aber nicht irritieren lassen. Er hat den FC-Bayern-Stil, der seit Louis van Gaal Bestand hat, ein Stück weit auf seine Philosophie angepasst. Und unsere Mannschaft verlangt genau so etwas von einem Trainer.

Können Sie das näher erläutern?

Ich habe es erlebt, wenn die Spieler merken, dass ein Trainer dieses Niveau nicht hat. Dann wird es – ich nenne es mal so – kälter in einer Kabine. Die Mannschaft vermittelt mir den Eindruck, dass sie mit Julian sehr happy ist, dass die Partnerschaft zwischen Trainer und Mannschaft sehr gut funktioniert. Er besitzt natürlich ein Manko an Erfahrung gegenüber Jürgen Klopp, Pep Guardiola oder Thomas Tuchel, um drei Trainer zu nennen, die ebenfalls große Mannschaften trainieren, mit denen sie schon viel gewonnen haben. Erfahrung ist wichtig. Aber jugendlicher „Leichtsinn“ ist auch ein Attribut, das helfen kann. Also: Alles ist möglich.

Trauen Sie Hansi Flick zu, dass er – wie beim FC Bayern – auch die Nationalmannschaft im Eiltempo wieder in die Spur bringen und nach zwei vermurksten Turnieren schon bei der WM Ende dieses Jahres wieder um den Titel mitkämpfen kann?

Hansi hat bei uns einen herausragenden Job gemacht. Er hat die Mannschaft übernommen, da stand sie auf Platz sechs. Er hat dann sechs Titel in dem Jahr gewonnen. Dazu hat er einen großartigen Beitrag geleistet. Da muss eine Mannschaft perfekt funktionieren. Hansi hat sie dazu gemanagt. Wenn man sich nun seine ersten Monate als Bundestrainer ansieht, muss die Antwort lauten: Ja, klar!