Erst Corona, dann Selleriesaft und jetzt Olympiasiegerin

Peking. Als Olympiasieger wird man nicht geboren. Und auf dem Skeleton sind sogar späte wie ungewöhnliche Karrieren möglich, wie der Triumph der deutschen Männer zeigt. Sowohl Goldmedaillengewinner Christopher Grotheer als auch Axel Jungk, der am Freitagabend Ortszeit auf den zweiten Platz fuhr, haben als Skispringer angefangen. Bei Hannah Neise aber, die tags darauf den deutschen Goldrausch im Eiskanal fortsetzt, kommt alles zusammen.
Dass sie, 21 Jahre alt und bestenfalls ausgewiesenen Experten bekannt, sich jetzt Olympiasiegerin nennen darf, ist für sich genommen schon eine Sensation. „Das hört sich komisch an und dauert noch ein bisschen, bis ich das richtig realisiere“, sagt Neise am Tag nach ihrem Überraschungscoup vom Samstagabend.
Teamkollegin Tina Hermann vom Königssee gehörte zum Favoritinnenkreis, die viermalige Weltmeisterin wurde am Ende Vierte. Auch Jaqueline Lölling, die Olympia-Zweite von 2018 aus Winterberg, zählte dazu – und belegte schließlich Rang acht. Aber Neise!?

Weder einen Weltcup hatte sie bislang gewonnen und auch noch nie auf dem Siegerpodest gestanden. Überhaupt hat Neise erst 14 Weltcup-Rennen bestritten. Ihr größter Erfolg ist der Junioren-WM-Titel im Vorjahr. Und nun also der Triumph schlechthin. Es fühle sich an wie im Film, meint sie – und hat zudem einen ganz prinzipiellen Gedanken.
Was soll, was kann jetzt noch kommen in einer Karriere, die gerade erst Fahrt aufgenommen hat? „Das ist eine gute Frage, die ging mir auch schon durch den Kopf“, sagt Neise. Womöglich wird sie auch diesmal ihre Mutter um Rat fragen, das hat in den vergangenen Tagen und Wochen mal wieder gut funktioniert.
Sehr nervös sei sie am Samstag gewesen und schon um sechs Uhr morgens aufgewacht, so Neise. „Ich habe dann direkt meiner Mama geschrieben. Sie hat gesagt, ich soll in das vertrauen, was ich kann. Das ist mir gelungen“, erzählt sie und verrät zudem den Ratschlag der Mutter: tief atmen. „Das hat mit sehr geholfen“, sagt Neise. Der Rest ist bekannt: Im vorentscheidenden dritten Lauf abends kurz vor halb neun setzt sie sich an die Spitze – und ist knapp zwei Stunden später Olympiasiegerin.
Dabei war auch bei ihr der Flug nach Peking bis zuletzt nicht sicher. Wie Axel Jungk wurde Neise nach dem letzten Weltcup corona-positiv getestet. „Das war ein Riesenschock für mich. Einen Tag zuvor hatte ich mich für Olympia qualifiziert, da ist erst mal die Welt untergegangen“, sagt sie.
Wieder war ihre Mutter erster Ansprechpartner und auch die Mutter ihrer Stiefschwester, „mit Anweisungen“, wie Neise es ausdrückt. Die Ansage: positiv bleiben. Was einfacher klingt, als es ist für eine, die von sich selbst sagt, oft das Negative in einer Sache zu sehen.
Die mentale Stärke als Schlüssel
Jetzt weiß sie: „Mentale Stärke ist der Schlüssel. Wenn das nicht sitzt, geht gar nichts.“ Und noch etwas ist Neise klar: Nie wieder Selleriesaft! Den habe sie getrunken, um ihren Körper in der Quarantäne mit Vitaminen zu stärken. „Das werde ich nicht noch mal machen“, betont sie.
Und dann erklärt Neise noch, wie alles angefangen hat, damals in der siebenten Klasse. Trainer seien in der Schule gewesen, um nach Talenten zu schauen. Sie gehörte nicht zu den Auserwählten, war aber doch dabei. „Ich habe gesagt, dass ich gerne mit will. Wir hatten danach Englisch und mir fehlte eine Unterschrift, die unangenehme Situation wollte ich vermeiden. Da habe ich mich reingedrängt“, sagt Neise.
„Wenn sie etwas möchte“, verdeutlicht Bundestrainer Christian Baude, „dann drückt sie das durch. Das Ziel ist nun Olympia in vier Jahren, da wollen wir den Titel verteidigen.“ Durch die Olympiasiege und die damit verbundene Erhöhung der Fördergelder können man die Sportler noch besser ausbilden und wolle die Leistungen in den Weltcups bestätigen.
Beste Werbung für die Sportart sind Erfolge wie diese außerdem, vor allem bei Olympia. Neise meint, dass Skeleton gar nicht so gefährlich sei, wie es aussieht, selbst wenn man mit Geschwindigkeiten von weit über 100 km/h kopfüber die Bahn hinunterfährt. „Ihr könnt mir das schon glauben“, meint sie dann noch, „ich bin ein sehr ängstlicher Mensch.“