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So feiert Familie Liebscher ihren Olympiasieger Tom

Der Dresdner gewinnt mit dem Kajak-Vierer sein zweites Olympiagold. Das macht eine Sackgasse früh um 5 Uhr zur meistbefahrenen Straße der Stadt.

Von Alexander Hiller
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Das ist das Ding! Tom Liebscher und seine olympische Goldmedaille, die zweite nach 2016 in Rio de Janeiro.
Das ist das Ding! Tom Liebscher und seine olympische Goldmedaille, die zweite nach 2016 in Rio de Janeiro. © dpa

Dresden. Hier geht ziemlich wenig - oder eigentlich nichts. An diesem Samstagfrüh, kurz vor 5 Uhr, aber wird die Oehmestraße in Dresden knapp hinter dem Blauen Wunder zur meistbefahrenen Straße in der Landeshauptstadt. Dabei endet die Sackgasse auf dem Vereinsgelände des KC Dresden. Knapp 80 Menschen haben sich hier versammelt, um beim olympischen Public Viewing dabei zu sein - und Tom Liebscher die Daumen zu drücken. Der Weltklasse-Kanute paddelt um 5.37 Uhr MEZ mit dem deutschen Kajak-Vierer über 500 Meter um Olympiagold.

Fünf Jahre nach dem Triumph von Rio auf der damals noch doppelt so langen Distanz wäre das für den Modellathleten vom KC Dresden der sportliche Ritterschlag. Wegbegleiter, Freunde, sein erster Trainer Bernd Spiller, die Eltern Ria und Tino Liebscher, gewissermaßen die gesamte Kanufamilie der Stadt sitzt gebannt auf den Holzbänken, die der KC Dresden vor einer großen Leinwand aufgebaut hat. Die Fernsehbilder verheißen Gutes. Über der Regattastrecke im Tokio Sea Forest Waterway verschwinden die Regenwolken, am Dresdner Fernsehturm in Wachwitz kündigt sich der Sonnenaufgang in Dresden an.

Ein sonniger Tag kündigt sich an. Ein goldener!?

Liebschers Heimtrainer Jens Kühn (rechts) ballt die Fäuste. Sein Schützling, den er seit 14 Jahren betreut, ist nun zweifacher Olympiasieger.
Liebschers Heimtrainer Jens Kühn (rechts) ballt die Fäuste. Sein Schützling, den er seit 14 Jahren betreut, ist nun zweifacher Olympiasieger. © Alexander Hiller

Die acht Boote liegen nach dem Start noch dicht auf, dann setzen sich Spanien und der deutsche Vierer vom Feld leicht ab. Zwischen vielen Trainingsbooten im Bootshaus an der Elbe schwillt der Lärmpegel an. "Los, los", schreien einige, andere ein langgezogenes "Jaaaaa". Liebscher und seine drei deutschen Kollegen Ronald Rauhe, Max Rendschmidt und Max Lemke ziehen den Endspurt an - und an Spanien vorbei. Der Lärmpegel im Bootshaus des KC Dresden steigt. Klatschen, Jubel, Kreischen, Schreien. Was wohl die Nachbarn davon halten?

In dem Moment ist das egal, ist alles egal. Es wird Gold, wieder Gold. Landestrainer Jens Kühn wirft seine Arme in die Luft, ballt die Fäuste, fällt kurz darauf einem Kollegen um den Hals. Ria Liebscher, die längst aufgesprungen ist, wirft sich ihrem Mann Tino in die Arme, Freudentränen kullern. Ihr Sohn hat sein zweites Olympiagold gewonnen.

Und das nach dieser Vorgeschichte. "Das ist schon etwas Besonderes", sagt Heimtrainer Kühn sichtlich gerührt. Seit 14 Jahren betreut er Liebscher. "Wenn man gesehen hat, wie sein Zustand im Januar war. Dann ein halbes Jahr später dieses Ding. Das ist schon was", sagt er.

Ria Liebscher sinkt freudetrunken in die Arme ihres Mannes Tino. Die Eltern des Olympiasiegers sind komplett aus dem Häuschen.
Ria Liebscher sinkt freudetrunken in die Arme ihres Mannes Tino. Die Eltern des Olympiasiegers sind komplett aus dem Häuschen. © Alexander Hiller

Liebscher hatte sich am 31. Oktober 2020 bei einem Verbandslehrgang des Deutschen Kanu-Verbandes bei einer Raftingtour mit dem Nationalteam eine fünffache Wirbelfortsatz-Fraktur am Rücken zugezogen. Drei Monate Zwangspause ließen einen Start in Tokio in weite Ferne rücken. Wahrscheinlich auch deshalb - und um während der Rehabilitation seine Ruhe zu haben - macht der sechsfache Weltmeister selbst aus seiner Verletzung ein Geheimnis. Erst im Februar, als für ihn Starts wieder greifbar schienen, hat er sich mit seiner Verletzungsgeschichte an die Öffentlichkeit gewagt.

Der Erfolg gibt ihm recht. Liebscher und seine Kollegen holen die einzige Goldmedaille für den deutschen Verband im Kanu-Rennsport. Das Paradeboot, das Aushängeschild. "Jetzt gönne ich mir ein Bier. Ich habe bis jetzt keins getrunken, genauso wie die Sportler in Tokio", sagt Kühn, der zu seinem Schützling einen engen Kontakt pflegt.

In der Euphorie ist auch Kritik erlaubt und vielleicht sogar angebracht. Das Halbfinale war nur knapp zwei Stunden vorher. Grenzwertig für alle Beteiligten. "Das ist ein hartes Programm, innerhalb von zwei Stunden zwei solch harte Rennen zu fahren. Ich glaube, das macht in der Leichtathletik kein 800-Meter-Läufer mit", zieht Kühn einen Quervergleich.

Wiedersehen nach der Goldfahrt: Tom Liebscher umarmt seine Freundin Dora Lucz, selbst Weltklasse-Kanutin aus Ungarn.
Wiedersehen nach der Goldfahrt: Tom Liebscher umarmt seine Freundin Dora Lucz, selbst Weltklasse-Kanutin aus Ungarn. © dpa/Jan Woitas

In Rio war er als Heimtrainer privat noch mit vor Ort. In Japan ist das bei diesen Corona-Spielen nicht erlaubt. Auch Tino und Ria Liebscher mussten ihren für 2020 in Tokio geplanten Jahresurlaub abblasen. "Ist das nicht der Wahnsinn", fragt die stolze Mama mit einem Sektglas in der Hand glückselig in die Runde. "Ich hatte 180 Puls oder 200. Die 1.000 Meter vor fünf Jahren waren ja ein ganz anderes Rennen. Kontrolliert, von Anfang an klar. Dieses Mal nicht, durch die starken Spanier, die hätten es sicher auch verdient. Aber das jetzt, das ist irre", sagt sie und plaudert munter drauflos: "Ich muss jetzt mal mit den anderen Mamas telefonieren."

Tino Liebscher ist nach außen hin viel gelassener. "Das lief alles so perfekt, ich bin begeistert. Die Vorbereitung hat genauso gepasst, wie er sich das gedacht hat", erklärt der Papa. "

Und Tom Liebscher? Kehrt am Montag nach Dresden zurück und wird um 20 Uhr auf dem Vereinsgelände empfangen - als nun zweifacher Olympiasieger. Zeitiges Kommen sichert dann erneut die besten Plätze, denn die Sackgasse an der Oehmestraße wird wieder mehr als üblich befahren sein.