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Pechstein wird Letzte - und feiert wie eine Siegerin

Claudia Pechstein hat es bei Olympia in die Rekordbücher geschafft – mit einer sportlichen Enttäuschung. Doch das ist der Eisschnellläuferin herzlich egal.

Von Tino Meyer
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Glücklich trotz des letzten Platzes: Claudia Pechstein ist vor allem stolz auf ihre acht Olympia-Teilnahmen.
Glücklich trotz des letzten Platzes: Claudia Pechstein ist vor allem stolz auf ihre acht Olympia-Teilnahmen. © dpa/Peter Kneffel

Peking. Die neue Beste der Welt lässt auf sich warten. Erst ziemlich genau eine Stunde, nachdem Claudia Pechstein beim Zieleinlauf die Arme wie eine Siegerin in der Höhe gerissen hat, erreicht sie am Samstagnachmittag Ortszeit die Interview-Zone im Eisschnelllauf-Stadion von Peking. Ob sie so lange durchatmen musste? Es bleibt ungeklärt. Vom ersten Platz aber, das weiß auch die Berlinerin, ist sie inzwischen so weit entfernt wie China von freier Meinungsäußerung. Die Jubel-Geste im Ziel muss trotzdem sein, das ist für Pechstein vollkommen klar.

"Das war natürlich ein Sieg für mich. Mit dem Start über die 3.000 Meter habe ich den Rekord auch offiziell erreicht, als weltweit erste Frau achtmal bei Olympischen Winterspielen dabei zu sein. Da kann man eigentlich nur mit einem Jubeln über die Linie laufen", erklärt die 49-Jährige, und die Zufriedenheit ist ihr auch deutlich anzusehen. "Ich komme gar nicht mehr aus Strahlen raus", meint Pechstein.

Sie genießt diese Tage mit all den Wertschätzungen, die sie jetzt bei Olympia erhält. Als erfolgreichste Eisschnellläuferin wird sie vorgestellt, ihre Medaillenbilanz vom Hallensprecher noch einmal im Detail gewürdigt, die insgesamt neun Olympiaplaketten also, davon fünf Goldene. Mehr hat in Deutschland niemand. Und die Chinesin Ahenaer Adake, mit 22 Jahren könnte auch sie Pechsteins Tochter sein wie fast alle Gegnerinnen, erzählt ihr bei der Erwärmung, wie sehr sie sich freue, gegen eine Legende laufen zu dürfen. Das gehe runter wie Öl, sagt Pechstein.

Erst mal hinsetzen, Beine ausstrecken und... genießen! Claudia Pechstein ist trotz des letzten Platzes mit sich absolut im Reinen.
Erst mal hinsetzen, Beine ausstrecken und... genießen! Claudia Pechstein ist trotz des letzten Platzes mit sich absolut im Reinen. © dpa

Normalerweise nehmen Athleten das alles so kurz vor dem Start nicht mehr wahr, sie sind allein fokussiert auf das, was bevorsteht: In diesem Fall quälend lange siebeneinhalb Runden auf dem Eis. Pechstein hört diesmal ganz genau hin, jedes Wort saugt sie auf. Quälend lang, das ahnt sie, wird das Rennen ohnehin. Und danach stellt sie fest: "Mit all den Komplimenten zu laufen, das spielt im Kopf schon eine Rolle. Deshalb konnte ich im Rennen gar nicht das zeigen, was ich kann. Das hat man, glaube ich, auch gesehen."

Spätestens in der Ergebnisliste ist es offensichtlich: Pechstein wird Letzte, mehr als 20 Sekunden hinter Siegerin Irene Schouten aus den Niederlanden. Aber das, sagt sie, spiele gar keine Rolle. Es kommt schließlich auf den Blickwinkel an. "Ich habe alle Mädels, die am Start waren, schon mal geschlagen. Das weiß ich", meint Pechstein und legt fest: "Dass ich heute 20. werde, ist mir völlig egal. Für mich ist das ein Sieg."

Selbstverständlich ist sie keine Medaillenkandidatin gewesen bei der ersten Eisschnelllauf-Entscheidung von Peking, diese Zeiten sind längst vorbei, fast ein Jahrzehnt. Um Medaillen geht es Pechstein aber auch gar nicht mehr. Sie läuft inzwischen ihr eigenes Rennen, vor allem aber läuft sie gegen ihre Kritiker. Der Seitenhieb muss auch diesmal sein. In Deutschland, sagt sie und zielt auf die Medien, sei das mit der Wertschätzung leider nicht so. Wobei das augenscheinlich nur die halbe Wahrheit ist.

Es ihr Zieleinlauf, ihr Jubel: Claudia Pechstein feiert sich und ihre achte Teilnahme bei Olympischen Winterspielen. 1992 war die Berlinerin zum ersten Mal dabei.
Es ihr Zieleinlauf, ihr Jubel: Claudia Pechstein feiert sich und ihre achte Teilnahme bei Olympischen Winterspielen. 1992 war die Berlinerin zum ersten Mal dabei. © dpa

Bei der Wahl des deutschen Fahnenträger-Duos entfielen mit gut 40 Prozent die meisten Stimmen der Öffentlichkeit auf Rodlerin Natalie Geisenberger, die Sportler der deutschen Olympia-Mannschaft wiederum sprachen sich fast zur Hälfte für die Snowboarderin Ramona Hofmeister aus. Nur knapp 15 Prozent wollten Pechstein an der Fahne sehen. In Summe hat es allerdings für Pechstein gereicht, und nur das ist ihr wichtig.

"Nach dem Moment gestern, als Fahnenträgerin gemeinsam mit Francesco Friedrich ins Stadion zu laufen, war das der absolute i-Punkt auf meine Karriere." Olympiasieger, meint sie, gebe es ganz, ganz viele, Fahnenträger nicht. Nun gehöre sie auch zu dem erlesenen Kreis, und das mache sie stolz.

Dass so eine Eröffnungsfeier nicht die beste Vorbereitung auf einen Wettkampf keine 24 Stunden später darstellt, ihr völlig klar. Deshalb habe sie den Einmarsch der Nationen bei den letzten sechs Spielen weggelassen – doch diesmal ganz bewusst nicht. "Es war mir eigentlich egal, ob die Beine frisch sind oder nicht", sagt sie – und das in unzählige Mikrofone und Aufnahmegeräte, auf Wunsch auch in Englisch und tatsächlich immer mit diesem Strahlen im Gesicht. "Das werden wahrscheinlich nur wenige verstehen, aber ich kann trotz dieser Platzierung immer noch strahlen. Weil ich ganz stolz darauf bin", sagt sie den deutschen Journalisten.

Kurz nachdem Pechstein die Laudatio auf sich selbst beendet hat, fällt im letzten Lauf die Entscheidung. Die neue Olympiasiegerin und die Zweitplatzierte erreichen das Ziel. Und Irene Schouten aus den Niederlanden, die sich gegen die Italienerin Francesca Lollobrigida durchsetzt, holt nicht nur Gold. Mit einer starken Schlussrunde unterbietet sie auch den olympischen Rekord aus dem Jahr 2002 – aufgestellt von Pechstein. Deren Glückseligkeit kann natürlich auch das nichts anhaben. Da ist eine mit sich im Reinen, sollen alle anderen doch denken, was sie wollen.

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