Nur fliegen ist schöner

Dresden. Es ist die Chance seines Lebens: Weltmeister im Vierer, der Königsdisziplin im Bobsport. Es wäre Nico Walthers erster internationaler Titel, noch dazu auf seiner Heimbahn in Altenberg. Ein paar Kilometer weiter ist er aufgewachsen. Kann es etwas Größeres und Schöneres geben?
Seine Antwort ist kurz wie eindeutig: Ja.
Als Walther am 1. März 2020 bei der WM am zweiten Tag der Vierer-Entscheidung mit seiner Mannschaft am Start steht, ist sein Entschluss längst gefallen. Die WM-Läufe drei und vier sind die letzten, danach wird er die Karriere beenden und das Cockpit wechseln. Aus dem Bob- wird ein Flugzeugpilot. „Das ist ein Kindheitstraum von mir. Seit ich denken kann, möchte ich beruflich fliegen“, sagt der 30-Jährige und erzählt, dass seine neue Karriere nach dem Sport tatsächlich seit der Kindheit vorgezeichnet war. „Ich bin in Zinnwald groß geworden, und da ist relativ häufig ein Helikopter der Bundespolizei gelandet. Das war regelmäßig mein Tageshighlight. Ich bin hingerannt und habe mir alles erklären lassen, mit Probesitzen und so. Da war die Begeisterung für das Fliegen in mir geboren“, sagt Walther, der mittlerweile in Dresden zu Hause ist.
Den Wohnsitz hat er mit seiner Frau Lisa allerdings derzeit nach Essen verlegt, wo er bei einer Flugschule seit knapp einem Jahr die Ausbildung zum Berufspiloten absolviert. „Momentan läuft auch bei uns alles nur online, die Schule ist geschlossen“, sagt Walther. Die erste Praxisphase hat er mit probellergetriebenen Kleinflugzeugen („Die Flugstunden mit den großen Jets sind unglaublich teuer“) aber bereits hinter sich und dabei sofort wieder das gleiche großartige Gefühl verspürt, das er noch vom Erwerb der Privatpilotenlizenz vor fast drei Jahren in Erinnerung hatte.
Ein Sturz beschleunigt den Umstieg
„Die Höhe, die Aussicht – das ist faszinierend. Aber auch alles Technische ist spannend, wenn zum Beispiel ein Airbus A380 mit über 500 Tonnen Gewicht abhebt“, meint Walther, der sich im Sommer 2018 Teil eins des Kindheitstraumes erfüllte und mit einer einmotorigen Maschine zum ersten Mal allein in die Luft ging.
Nicht mal sonderlich aufgeregt sei er damals bei der ersten Flugstunde gewesen, jedenfalls nicht so wie vor der ersten Bobfahrt. „Im Cockpit saß ja der Fluglehrer neben mir, der notfalls hätte eingreifen können. Im Bob ist da niemand“, vergleicht Walther im Nachhinein.
Wirklich Sorgen hat man sich um ihn an den Lenkseilen aber nie gemacht. Ein Trugschluss, wie er jetzt zugibt. Fahrerisch galt er als bester deutscher Pilot, viel besser noch als der Dauer-Dominator und Oberbärenburger Vereinskollege Francesco Friedrich. Vielleicht war Walther sogar der Beste seiner Zeit. Als früherer Rodler, der im Juniorenbereich vier WM-Titel im Doppelsitzer gewann, dann aber aussortiert wurde („Der Wechsel zum Bob war das Beste, was mir passieren konnte“), verfügte Walther über exzellentes Fahrgefühl. Er beherrschte jede Bahn und deren Tücken. Und doch war ihm im Eiskanal nie ganz wohl.
Nach einem Sturz beim Vierer-Training im Oktober 2019 in Altenberg, bei dem unter anderem die Brustwirbelsäule verletzt wurde, reifte sein Entschluss vom vorzeitigen Karriere-Ende. Bobpiloten sind mit 30 Jahren eigentlich im besten Alter, die Ausbildung zum Flugzeugpiloten aber ist in der Regel nur bis 30 möglich. „Und wenn ein Radiologe zu einem sagt, man stehe nur kurz vor einer Querschnittslähmung, gehen einem plötzlich viele Gedanken durch den Kopf“, sagt Walther.

Es gebe wichtigere Dinge im Leben als den Sport, begründete er den für Außenstehende vollkommen unerwarteten Schritt direkt nach der WM-Siegerehrung 2020 in Altenberg mit der Bronzemedaille um den Hals. „Ich bin nicht mehr bereit, dieses Risiko auf der Bahn einzugehen“, erklärte Walther damals, und es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr es in ihm arbeitete.
Der Zeitpunkt, sagt er jetzt ein Jahr später mit fester Stimme, sei gut gewählt gewesen. Er habe sich mit einer WM-Medaille verabschiedet und gehen können, „so lange es noch ein, zwei Leuten leidtut“, wie er sagt. „Der Sturz im Training war am Ende vielleicht der größte Auslöser, aber ich war – jetzt kann ich das ehrlich zugeben – sowieso nie der allergrößte Draufgänger unter den Piloten. Da gibt es andere, denen ist alles egal. Ich hatte das Risiko immer sehr bewusst im Kopf“, gesteht Walther.
Einmal ist er seit dem Rücktritt wieder Bob gefahren – im Januar in Winterberg für die „Sendung mit der Maus“ in der ARD. „Noch nichts verlernt“, sagt Walther, betont aber, nicht etwa schwach geworden zu sein: „Naja, spätestens als ich bei der WM im Februar die Wettervorhersage für die Viererwoche gesehen habe, war wieder alles okay, so wie es ist.“ Denn sehr kalte Temperaturen bedeuten sehr hartes Eis und damit sehr harte Bedingungen. „Da leidet man mit den Piloten, weil ich weiß, wie schwierig das dann gerade in Altenberg ist. Ich habe mich für jeden gefreut, der es heil ins Ziel geschafft hat“, sagt Walther.
Das letzte Rennen im Überlebensmodus
Im WM-Podcast Dreierbob hat er kürzlich exklusiv von dem Schlüsselmoment bei der WM aus dem Vorjahr erzählt, als er vor dem dritten Lauf in Führung liegend am Start stand. Die Chance seines Lebens ...
„Mein einziger Gedanke war, dass ich heil im Ziel ankommen will. Da ist der Punkt, an dem man sich eingestehen muss, dass es vorbei ist – auch wenn das Leben als Sportler angenehm ist und viele schöne Seiten mit sich bringt“, sagt Walther und blickt noch einmal zurück auf jenen 1. März 2020: „Das war das Extremste überhaupt. Als Führende nach dem ersten Tag mussten wir als erster Bob in die Bahn. Und ich habe auf den Anzeigetafeln gesehen, dass die Spurschlitten deutlich, deutlich schneller waren als am ersten Tag. Ich habe gewusst: Ich werde jetzt so schnell hier runterfahren wie noch nie in meinem Leben. Da war in meinem Kopf nur noch Überlebensmodus eingeschaltet. Vielleicht waren das auch die entscheidenden Hundertstelsekunden, die mir zu Gold gefehlt haben.“
0,09 Sekunden verlor er in dem Lauf auf Team Friedrich, womit beide zeitgleich waren. Am Ende gewann Friedrich – und Walther mit 0,23 Sekunden Rückstand als Dritter eine Medaille, so wie bei jedem Großereignis seit 2015. Die Silberne mit dem Vierer bei Olympia 2018 ragt dabei heraus, wie er betont: „Das war der Höhepunkt meiner Karriere. Olympische Spiele stehen über allem. Da mit einer Medaille nach Hause zu kommen, ist das Größte, was man sich vorstellen kann.“
Ende Mai steht die theoretische Abschlussprüfung an
Das Größte im Sport – doch fliegen ist noch schöner, wie er feststellt. Vergleiche mit dem Bobfahren sind indes nur schwer möglich, wobei der Start bei dem einen wie dem anderen eine große Rolle spielt. „Aber die Landung“, ergänzt Walther, „ist auch gar nicht so ohne. Ich bin froh, dass die modernen Verkehrsflugzeuge inzwischen ein Autobreaksystem haben, da muss ich auch nicht selbst bremsen.“
Bevor es wieder in die Luft geht, um das Verfahren im Sichtflug zu lernen, wie es korrekt heißt, ist für Ende Mai die große theoretische Abschlussprüfung angesetzt. „Deshalb ist der Unterricht gerade auch ein Mega-Stress. Von neun bis 16 Uhr sind Seminare, danach geht es mit Lernen weiter“, sagt Walther. Insgesamt 15.000 Fragen aus 14 Fächern – die Palette reicht von Grundlagen des Fliegens, Luftrecht, Meteorologie und Navigation bis hin zum Funktionieren des Hydrauliksystems und der Klimaanlage – umfasst der Lernstoff. „Jedes für sich gut machbar, aber alles zusammen echt heftig“, meint Walther.
Läuft alles nach Plan, was neben den Corona-bedingten Einschränkungen beim ab Sommer geplanten zweiten Praxisteil auch vom Wetter abhängt, ist Walther Ende dieses Jahres Berufspilot. Für die Zeit danach hat er ganz klare Ziele. „Ich will wieder nach Dresden ziehen und ab Leipzig dann Fracht in die Welt bringen“, sagt er. Sogar das Jahr 2025 hat er dabei bereits im Blick. Dann soll die in diesem Jahr nach Altenberg verschobene Bob-WM im ursprünglich geplanten Lake Placid stattfinden. Geht es nach Walther, sitzt er im Cockpit des Transportfliegers mit den deutschen Schlitten. „Das“, meint er, „wäre in jedem Fall eine sehr coole Aufgabe.“
Unsere Serie "Die neue Karriere nach dem Sport"
Wie weiter nach dem Leistungssport? Eine Serie stellt frühere Top-Athleten vor, deren neuer Beruf mit Sport überhaupt nichts mehr zu tun hat.
- Schwimmerin Antje Buschschulte will in Sachsen-Anhalts Landtag.
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- Fußballer Volker Oppitz ist jetzt in der Firma seiner Frau angestellt.
- Biathletin Tina Bachmann gibt es Schießeinlagen jetzt nur noch im Notfall.
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- Fußballer Dexter Langen hat seine Kinderliebe zum Beruf gemacht. (folgt demnächst)