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Das große Schweigen der Dynamo-Biathleten

In Zinnwald wird der einst erfolgreichste Biathlonklub der Welt neu gegründet. Doch sprechen will über Dynamo fast niemand. Warum?

Von Daniel Klein
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Am Tor des alten Vereinsheims in Zinnwald ist das geschwungene D zu erkennen. Die Gebäude stehen seit Jahren leer. Gehören sollen sie dem Neugründer von Dynamo. Was er damit vorhat, will er nicht sagen.
Am Tor des alten Vereinsheims in Zinnwald ist das geschwungene D zu erkennen. Die Gebäude stehen seit Jahren leer. Gehören sollen sie dem Neugründer von Dynamo. Was er damit vorhat, will er nicht sagen. © Egbert Kamprath

Damit den historischen Moment niemand verpasst, hebt der Stadionsprecher die Stimme, wird immer lauter. Es ist September 2020. Bei den deutschen Meisterschaften in Altenberg wartet ein Biathlet der SG Dynamo Zinnwald auf sein Startzeichen. „Es ist das erste Mal seit 1990, dass ein Sportler wieder für diesen Verein antritt“, schreit Philipp Auerswald ins Mikro. Die Zuschauer auf den Rängen applaudieren.

Auerswald ist selbst eine Berühmtheit im Osterzgebirge. 2010 raste er die Altenberger Bobbahn mit Schlittschuhen runter und wurde zum Wettkönig bei „Wetten, dass ...“ gekürt. An diesem Herbstnachmittag aber steht nicht er im Mittelpunkt, sondern die SG Dynamo. Der Verein war bis zu seiner Auflösung in der Wendezeit nicht irgendeiner, sondern einer der erfolgreichsten im Biathlon – weit über die DDR-Grenzen hinaus. Bei der Weltmeisterschaft 1978 liefen in der Goldstaffel drei Athleten von Dynamo Zinnwald. 1967 wurde hier die WM ausgetragen, allerdings war Biathlon damals lange nicht so populär wie heute. Und es gab nur zwei Wettbewerbe.

Wer den steilen Weg hinunter zum Stadion geht, kommt an einer Infotafel im XXL-Format vorbei, einer Art Ahnengalerie des sächsischen Biathlons. Dort sind sie alle aufgelistet, die Medaillengewinner bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, und ihre Trainer. Die meisten haben ihre Erfolge vor dem Zusammenbruch der DDR gefeiert – und damit für Dynamo Zinnwald. Im August 1990 verschwand der Verein. Für 29 Jahre.

Uwe Wehner war früher selbst Biathlet, im September 2020 steht er in einem weinroten T-Shirt im Stadion. Die Farbe ist kein Zufall. Sie war früher für Dynamo-Klubs reserviert, eine Art Erkennungszeichen. Auf den Rücken hat er den Vereinsnamen so groß drucken lassen, dass man ihn nicht übersehen kann. Wir sind wieder da – so könnte man seinen Auftritt interpretieren.

Das alte Logo ist auch das neue. Die SG Dynamo Zinnwald war vor der Wende der erfolgreichste Biathlonverein der Welt.
Das alte Logo ist auch das neue. Die SG Dynamo Zinnwald war vor der Wende der erfolgreichste Biathlonverein der Welt. © Repro: SZ

Wehner ist der Vorsitzende des am 3. Juli 2019 wiedergegründeten Vereins. Mit der SZ sprechen will er darüber nicht. Er ahne, in welche Richtung das gehen würde, sagt er zur Begründung am Telefon. Der 52-Jährige ist zusammen mit seiner Frau Inhaber der Sportcollection, eines Sportfachgeschäftes im Zentrum von Altenberg, direkt am Fuß des Skihangs. Früher war der Laden auch Sponsor der Fußballer von Dynamo Dresden. Die Mannschaft bekam von Wehner Mountainbikes, er verlieh Langlaufski, wenn das Team zum Trainingslager vor Ort war.

Als einige Spieler 2011 im Geschäft Autogramme schrieben, berichtete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel darüber. Wehner hatte zu diesem Zeitpunkt auch Kleidung von Thor Steinar angeboten. Die Marke gilt als Erkennungszeichen der rechten Szene, nicht nur im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion ist sie verboten.

Reden möchte Wehner auch nicht über seine persönliche Vergangenheit. Im April 1988, da war er 19, hatte er sich als Unterfeldwebel beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verpflichtet. Beschäftigt war er als Ermittler in der Hauptabteilung Kader und Schulung. So ist es nachzulesen im Buch „MfS-Bezirksverwaltung Dresden – Eine erste Analyse“ des Bürgerkomitees Bautzner Straße e. V. Anderthalb Jahre später gab es keine Stasi mehr.

Es begann die Zeit der Aufarbeitung – auch über das Spitzensportsystem der DDR. In der spielte die Sportvereinigung Dynamo eine zentrale Rolle. Über die hat René Wiese, Vorsitzender des Zentrums deutsche Sportgeschichte, geforscht. „Träger der Dynamo-Vereine waren das MfS, das Ministerium des Innern, also die Volkspolizei, oder die Zollvereinigung“, erklärt er. „Sie waren finanziell oftmals besser ausgestattet als andere Vereine.“

Vereinschef Uwe Wehner hält die Urkunden in der Hand, die Dynamo die Mitgliedschaft im Kreis- sowie im Landessportbund bescheinigen. Die Mitglieder sind vor allem Sportschützen, aber auch Biathleten.
Vereinschef Uwe Wehner hält die Urkunden in der Hand, die Dynamo die Mitgliedschaft im Kreis- sowie im Landessportbund bescheinigen. Die Mitglieder sind vor allem Sportschützen, aber auch Biathleten. © Stephan Klingbeil / KSB

Es war nicht der einzige Vorteil: „Im hierarchischen System des Leistungssports ist die militärische Befehlsstruktur noch effektiver zum Tragen gekommen. Oder anders formuliert: Die Träger konnten leichter Einfluss nehmen, Leute auf Linie bringen, Druck ausüben“, erläutert Wiese. Dass bei Dynamo-Vereinen wie dem in Zinnwald mehr Stasi-Mitarbeiter eingesetzt wurden als bei anderen Spitzensportklubs, darüber gebe es keine Erkenntnisse. „Die Vermutung liegt anhand einzelner Aktenlagen aber nahe“, sagt Wiese.

Zu den 24 Gründungsmitgliedern der neuen SG Dynamo Zinnwald gehört Wilfried Bock. Auch er will nicht mit der SZ sprechen, verweist auf seine angeschlagene Gesundheit und die Diskussionen um seine Person in der Vergangenheit. Jahrelang war Bock Cheftrainer in Zinnwald, ab 1985 DDR-Verbandstrainer. 1974 soll er sich als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) bei der Stasi verpflichtet haben und bald zum Führungs-IM aufgestiegen sein. 1992 entließ ihn der Deutsche Skiverband (DSV) aufgrund seiner Stasitätigkeit.

14 Jahre später wurde er am Bundesstützpunkt in Altenberg angestellt, betreute dort Staffel-Olympiasieger Michael Rösch. 2007 erhielt Bock in Dresden die Auszeichnung zum „Sächsischen Trainer des Jahrhunderts“. Zu dieser Zeit sagte er im Deutschlandradio Kultur: „Wir haben hier oben eine Vielzahl von Weltmeistern und Olympiasiegern gehabt, waren bis zur Wendezeit der erfolgreichste Biathlonklub der Welt, so kann man das ganz einfach sagen.“ 2009 wurde er nach Empfehlung der Kommission „DDR-Doping“ des DSV erneut entlassen. Ex-Athleten hatten ihm öffentlich vorgeworfen, sie gedrängt zu haben, unerlaubte Mittel einzunehmen.

Doppel-Olympiasieger Frank-Peter Roetsch war der erfolgreichste Biathlet von Dynamo Zinnwald.
Doppel-Olympiasieger Frank-Peter Roetsch war der erfolgreichste Biathlet von Dynamo Zinnwald. ©  SZ-Archiv

Einer ist Jens Steinigen. Mit zwölf Jahren wechselt er von der Nordischen Kombination zum Biathlon, zieht ins Internat nach Zinnwald. „Ich war extrem ehrgeizig, wollte unbedingt zu Olympia“, erinnert er sich. Die Chancen stehen gut, doch als er aufgefordert wird, Dopingmittel einzunehmen, weigert er sich, verpasst die Spiele 1988 in Calgary und wird zurückgestuft. „Es gab zu meiner Zeit bei Dynamo drei Trainingsgruppen: eine mit den Junioren, eine zweite mit den Nationalkadern um Frank-Peter Roetsch und eine dritte Gruppe mit fünf, sechs Leuten, die zu alt waren für die Junioren und zu schlecht für die Auswahl. Dort haben sie mich dann reingesteckt“, erzählt er.

Gestartet ist diese Gruppe ausschließlich im sozialistischen Ausland und bei DDR-Meisterschaften. „Theoretisch hätten auch wir uns für Olympia und die WM qualifizieren können. Aber ich habe drei von vier Quali-Rennen gewonnen und wurde trotzdem nicht mitgenommen“, sagt er. Am 1. Januar 1990 fährt Steinigen nach Ruhpolding, er bezeichnet das als Flucht, trotz der inzwischen offenen Grenzen. „Alle bei Dynamo Zinnwald waren bei der Polizei angestellt, ich als Sportinstrukteur. Wir hatten Dienstausweise. Also war meine Fahrt nach Bayern ja Fahnenflucht.“

In Ruhpolding schafft er es in die nun gesamtdeutsche Nationalmannschaft, trifft dort aber auf ihm bekannte Trainer - auch auf Bock. Als es erneut Streit um seine Nominierung gibt, geht Steinigen mit seinen Vorwürfen an die Öffentlichkeit. Er darf zu den Spielen 1992 und wird dort mit der Staffel Olympiasieger. Nun arbeitet er als Rechtsanwalt im bayerischen Traunstein.

Beim Blick zurück auf seine Zeit in Zinnwald habe er gemischte Gefühle, sagt er. „Ohne die Ausbildung dort wäre der Olympiasieg später nicht möglich gewesen. Ich bin auch dankbar – aber natürlich nicht für die Dopingsache. Es ist erschreckend, mit welcher Skrupellosigkeit darüber hinweggegangen wurde.“

In den Vereinsräumen von Dynamo Zinnwald war die Namen der Olympia-Medaillengewinner auf Schildern angebracht.
In den Vereinsräumen von Dynamo Zinnwald war die Namen der Olympia-Medaillengewinner auf Schildern angebracht. ©  SZ-Archiv

Seine Verwandten im Erzgebirge besucht Jens Steinigen regelmäßig, von der Neugründung der SG Dynamo Zinnwald hat er jedoch noch nichts gehört. „Die Frage, die ich mir stelle, ist, inwieweit der Verein in Sachen Stasi und Doping verflochten war, oder ob er dabei nicht eigentlich völlig egal war.“ IMs gab es im DDR-Spitzensport flächendeckend, genauso wie das Staatsdoping. Dynamo Zinnwald war also kein Einzelfall. Dennoch gehört dieser Teil genauso zur Vergangenheit des Vereins wie die Medaillen und großen Erfolge. Wehner hatte in einer Mitteilung des Kreissportbundes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge erklärt: „Wir wollen nicht die DDR-Zeit verklären oder ähnliches. Nein, wir wollen modern sein, aber die Tradition wahren. Das sehen wir als eine Verpflichtung an.“

Zur Tradition gehört eine Immobilie in der Nähe des Biathlon-Stadions, das ehemalige Vereinsheim und Internat von Dynamo. Am verrosteten Tor ist noch immer das geschwungene D auf rotem Untergrund zu erkennen. Laut Kreissportbund hatte Wehner das Areal bereits 2004 gekauft. Ob es ihm weiterhin gehört, will die Stadtverwaltung Altenberg nicht verraten, verweist auf den Datenschutz.

Sie teilt lediglich mit, dass keine Bauanträge für das Objekt vorliegen würden. Was Wehner mit den leer stehenden und stark sanierungsbedürftigen Gebäuden vorhat, wäre eine der Fragen gewesen, die man ihm gerne gestellt hätte. Und vor allem, wie es mit Dynamo weitergehen soll. Laut Eintrag im Vereinsregister ist Wehner „Inhaber der Wort-Bildmarke SG Dynamo Zinnwald“, bei dem auch sämtliche „Rechte der kommerziellen Nutzung des Namens“ verbleiben.

Im Protokoll der Gründungsversammlung ist von Schießen die Rede, von Schießtraining und Waffenbesitzkarten. In der Satzung wird als Ziel die „Förderung des Sports, insbesondere des Schießsports“, angegeben. Gleichzeitig ist Dynamo jedoch auch Mitglied im Sächsischen wie Deutschen Skiverband.

Mit den Brüdern Domenic und Dorian Endler gibt es zwei Biathleten im Verein, beide wechselten von Stahl Schmiedeberg zu Dynamo. Domenic war es, der im September 2020 bei den Meisterschaften in Altenberg Stadionsprecher Auerswald – auch der gehört zu den Dynamo-Gründungsmitgliedern – laut werden ließ. In den sozialen Netzwerken wirbt der Verein zudem mit Nathalie Horstmann. Die 19-Jährige war 2020 Teilnehmerin bei den Olympischen Jugendspielen, startet aber für die TSG Ruhla. Wehners Sportcollection in Altenberg ist ihr Sponsor.

Auf einer XXL-Tafel sind am Stadion die Erfolge der Zinnwalder Athleten aufgelistet- eine Art Ahnentafel des sächsischen Biathlons.
Auf einer XXL-Tafel sind am Stadion die Erfolge der Zinnwalder Athleten aufgelistet- eine Art Ahnentafel des sächsischen Biathlons. © Egbert Kamprath

Jakob Winkler, Leistungssportkoordinator beim Skiverband Sachsen, erklärt, dass es allein Sache der Sportler sei, „für welche Vereine sie starten. Da verhalten wir uns neutral. Aber es wäre wünschenswert, wenn sich die Vereine in der Nachwuchsarbeit engagieren, davon lebt der Skisport. Mal schauen, ob da was wächst.“ Bisher bietet Dynamo kein eigenes Biathlontraining an.

Ob der neue Verein, der mit altem Namen am traditionsreichen Standort mitmischt, als Konkurrent wahrgenommen wird, darüber könnte vor allem der SSV Altenberg was sagen, in den Dynamo letztlich aufgegangen war. Präsident Gunther Kaden möchte jedoch nicht reden, zumindest nicht öffentlich. Überhaupt will sich kaum jemand äußern zur Rückkehr des Klubs. Eberhard Rösch, einer der Staffel-Weltmeister von 1978 und Vater von Michael Rösch, teilt mit, dass er abgesehen vom Gründungsdatum nicht mehr viel wisse. Das verwundert, schließlich gilt Ebs, so sein Spitzname, als „Mister Biathlon“ von Altenberg. Er hatte Funktionen beim Verband, am Stützpunkt, beim SSV – ohne ihn läuft nichts. Wehners Sportgeschäft war jahrelang Sponsor seines Sohns.

Das Stadion und die Strecken liegt im Hofmannsloch, am Rande des zu Altenberg gehörenden Ortes Zinnwald. Hier wurden 1967 die Weltmeisterschaften ausgetragen.
Das Stadion und die Strecken liegt im Hofmannsloch, am Rande des zu Altenberg gehörenden Ortes Zinnwald. Hier wurden 1967 die Weltmeisterschaften ausgetragen. © Egbert Kamprath

Frank-Peter Roetsch, Doppel-Olympiasieger von 1988 und der erfolgreichste Biathlet in der Geschichte von Dynamo Zinnwald, erklärt, dass er nichts sagen könne. Dabei ist er Trainer in Altenberg, ein Foto zeigt ihn Arm in Arm mit Wehner.

Das kollektive Schweigen wirkt so, als hätte man Angst, dass mit dem alten Namen nicht nur die Erfolge von damals hochkommen, sondern auch die anderen, die nicht so schönen Geschichten.