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Schöner retten in Pirna

Der Rettungsdienst der Kreisstadt hat eine brandneue Wache bezogen. So will er schneller werden, aber auch attraktiver fürs dringend gesuchte Personal.

Von Jörg Stock
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"Man will die Herausforderung." Christopher Neidhardt ist Vizechef des DRK-Rettungsdienstes in Pirna, fährt aber auch selbst Schichten, so wie hier in der neuen Rettungswache von Pirna-Copitz.
"Man will die Herausforderung." Christopher Neidhardt ist Vizechef des DRK-Rettungsdienstes in Pirna, fährt aber auch selbst Schichten, so wie hier in der neuen Rettungswache von Pirna-Copitz. © Daniel Schäfer

Um kurz nach sieben steigt die Nachtschicht aus ihren Einsatzklamotten. Dreimal gab's Alarm. Statistisch betrachtet ist das ein halber Alarm mehr, als hier in einer durchschnittlichen Nacht anfallen. Aber so eine Nacht gibt es eigentlich gar nicht. Alles ist möglich, sagt der Notfallsanitäter Christopher Neidhardt. Auch nichts. Wobei Leerlauf ebenso anstrengend sein kann, wie der Stress im Einsatz. "Mit freier Zeit umzugehen, muss man lernen."

Schnelle Hilfe ist noch nicht schnell genug

Christopher Neidhardt hat das jahrelang getan. Zwischen den Ausrückern hat er zum Beispiel für sein Fernstudium gepaukt. Heute ist der 38-Jährige Vizechef des Rettungsdienstes beim Pirnaer Deutschen Roten Kreuz. Er sitzt viel im Büro, aber die Hälfte seiner Zeit auch auf dem Rettungswagen. So wie heute, bei der Tagschicht in der Rettungswache Copitz.

Erster Alarm für die Schicht: Kurz vor 8 Uhr rollt der Rettungswagen vom Hof der neuen Wache des DRK in Pirna-Copitz.
Erster Alarm für die Schicht: Kurz vor 8 Uhr rollt der Rettungswagen vom Hof der neuen Wache des DRK in Pirna-Copitz. © Daniel Schäfer

Das Haus an Pirnas rechtselbischem Ausläufer ist erst drei Monate am Netz. Es soll helfen, dieses Netz, das die Menschen im Notfall auffängt, noch enger zu knüpfen. Mit der Hilfsfrist hat der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge ein Problem. Zu 95 Prozent der Fälle sollen die Retter in höchstens zehn Minuten beim Patienten sein, sagt die Vorschrift. Erreicht wurden zuletzt landkreisweit nur 80,6 Prozent.

Immer mehr Alarme für die Lebensretter

Die neue Copitzer Wache, Kostenpunkt 2,4 Millionen Euro, vermeidet den Flaschenhals der Elbquerung, der bisher von der Hauptwache auf der Altstadtseite aus zu überwinden war, wenn Notrufe aus Copitz, Graupa, Dürrröhrsdorf oder Wehlen kamen. Das Anrücken in diese Orte geht nun schneller. Kürzere Wege bedeuten kürzere Einsatzdauer. Die Gefahr, dass bei einem weiteren Alarm ein Wagen von auswärts einspringen muss, der dann nicht pünktlich ist, sinkt.

Tendenziell mehr Einsätze und stetig steigende Kosten: Der Rettungsdienst im Landkreis muss auch künftig weiter ausgebaut werden.
Tendenziell mehr Einsätze und stetig steigende Kosten: Der Rettungsdienst im Landkreis muss auch künftig weiter ausgebaut werden. © SZ Grafik

Das Arbeitspensum des Rettungsdienstes im Landkreis nimmt indes immer weiter zu. 2017 gab es knapp 67.300 Einsätze. Fürs laufende Jahr werden mehr als 71.400 prognostiziert. Der Rettungsdienst in Pirna, der 2017 etwa 12.000 Einsätze hatte, fuhr zuletzt 15.000 - ein Plus von fast 20 Prozent.

Ein Kettenraucher spuckt Blut

Die Tagschicht läuft an. Sie wird nach Neidhardts Statistik 4,95 Einsätze bringen. Noch ist alles ruhig. Was denkt der Sanitäter, während der Pieper schweigt? Hat er Sorge, was ihn als Nächstes erwartet? Eher im Gegenteil, sagt Neidhardt. Wer ständig den komplexen Einsatz übt, will auch mal einen haben. Man darf das nicht missverstehen. Man freut sich nicht, wenn andere leiden. "Man freut sich darauf, effektiv zu helfen."

Vor der Fahrt zum Krankenhaus: Notfallsanitäterin Sarah Leupold nimmt dem Patienten Blut zur Analyse ab.
Vor der Fahrt zum Krankenhaus: Notfallsanitäterin Sarah Leupold nimmt dem Patienten Blut zur Analyse ab. © SZ/Jörg Stock

Und schon könnte es so weit sein: Um 7.54 Uhr wirft sich Christopher Neidhardt auf den Sitz neben seiner Kollegin Sarah Leupold, die den viereinhalb Tonnen schweren Rettungswagen aus der Garage hinaus und auf die Straße Richtung Stadt treibt. Mit Tatütata geht es durchs Pirnaer Zentrum. Ein 47-Jähriger hat Blut erbrochen. Womöglich ist er in Lebensgefahr.


Ankunft nach vier Minuten. "Verdammt schnell", freut sich Zahlenfreund Neidhardt. Mit Rucksack, EKG und Sauerstoff geht es die Treppen hoch. Der Patient sitzt klein und aschfahl in seinem Zimmer, zwischen Teekanne und Aschenbecher mit halb aufgerauchter Zigarette. Er klagt über reißende Schmerzen in der Brust und Abgeschlagenheit. "Ich bin völlig platt." Das Erbrechen war vorgestern.

"Das Herz öffnen." Notarzt Michael Franke betreut den Patienten im Rückraum des Rettungswagens.
"Das Herz öffnen." Notarzt Michael Franke betreut den Patienten im Rückraum des Rettungswagens. © SZ/Jörg Stock

Die Sanitäter schließen das EKG an. Der Mann erzählt. Dass er trockener Trinker ist, und dass er jetzt die Raucherei reduziert hat, von 140 Kippen täglich auf zwanzig. Der Notarzt trifft ein, mustert den Papierstreifen, die Zacken und Kurven. Der Sinus-Rhythmus geht zu hastig. Akute Gefahr aber, etwa durch Herzinfarkt, besteht nicht. Woher das erbrochene Blut kam, muss die Klinik klären.

Alarmstufe rot in der Notaufnahme

Der Kranke wird in den Wagen verladen, bekommt einen Tropf Elektrolyte und Schmerzstiller. Dann geht es auf den Sonnenstein hinauf. Notarzt Michael Franke sitzt an der Liege und redet dem Patienten gut zu. "Es ist wichtig, dass man sein Herz öffnet", sagt er über diesen Job. "Damit der Mensch das Gefühl hat: Er ist geborgen in unseren Händen."

Ankunft am Pirnaer Helios-Klinikum. Viele Notaufnahmen sind schon früh am Tag völlig ausgelastet.
Ankunft am Pirnaer Helios-Klinikum. Viele Notaufnahmen sind schon früh am Tag völlig ausgelastet. © SZ/Jörg Stock

Die Übergabe verläuft flink. Das geht auch anders. Wenn es Mittag wird, füllen sich die Notaufnahmen. Ärzte und Pflegepersonal sind im Stress, da warten die Sanis auch mal länger. Christopher Neidhardt schaut auf sein Diensthandy. Es zeigt die Auslastung der nächsten Krankenhäuser an. Eine wichtige Entscheidungshilfe dafür, wohin er seine Fracht bringt. Pirna ist noch grün. Aber Friedrichstadt? Joseph-Stift? Uniklinik? Alarmstufe rot. Ausgebucht.

"Man kann nicht jeden retten"

Zurück in der Copitzer Wache. Das Auto wird klargemacht, verbrauchtes Material ersetzt. Noch ist der Wagen, der samt Technik etwa 220.000 Euro wert ist, hier allein im Einsatz. Nächsten September soll ein zweiter kommen. Insgesamt schafft der Rettungsdienst Pirna bis 2024 vier zusätzliche Fahrzeuge an. Sie zu betreiben, braucht er 40 Prozent mehr Leute. Eine Riesenherausforderung, sagt Christopher Neidhardt.

Nachbereitung: Christopher Neidhardt reinigt die Patientenliege, bevor er sie zurück in den Rettungswagen schiebt.
Nachbereitung: Christopher Neidhardt reinigt die Patientenliege, bevor er sie zurück in den Rettungswagen schiebt. © SZ/Jörg Stock

Sanitäter sind auf dem Arbeitsmarkt de facto nicht vorhanden. So muss der Pirnaer Dienst auf Quereinsteiger zählen und auf eigene Azubis. Bei der jüngsten Einstellungsrunde gab es 120 Bewerber. Für fünf Plätze. 16 Azubis gibt es aktuell insgesamt bei den Pirnaern. Die Zahl wird letztlich von den Krankenkassen bestimmt. Aber auch davon, was die Rettungsdienste an praktischer Ausbildung leisten können. In Pirna fährt schon jetzt auf fast jedem Wagen ein Azubi mit. Das Maximum ist erreicht, sagt die Leitung.

Wieder Alarm! In einem Copitzer Wohnblock liegt eine Frau um die siebzig mit schlimmen Bauchschmerzen im Bett. Sie liegt dort schon seit Jahren. Christopher Neidhardt kennt sie von vielen Einsätzen. Eine Frau, die nicht nur an der Magen-Entzündung leidet, sondern an so ziemlich allem. Sie will nicht mehr ins Krankenhaus. Sie will eigentlich gar nicht mehr da sein, sagt sie. "Ich will sterben."

Der nächste Einsatz kommt bestimmt: Die Sanitäter füllen verbrauchtes Material in ihrem Fahrzeug auf.
Der nächste Einsatz kommt bestimmt: Die Sanitäter füllen verbrauchtes Material in ihrem Fahrzeug auf. © Daniel Schäfer

Da die Kranke den Transport ablehnt, gibt es für die Sanitäter weiter nichts zu tun, als die Werte zu checken und zu versprechen, dass am Abend der Bereitschaftsarzt vorbeischaut. "Traurig, wenn man einen Patienten so zurücklassen muss", sagt Christopher Neidhardt, als er wieder ins Auto steigt. Aber auch das, sagt er, muss man lernen in diesem Beruf. "Man kann nicht jeden retten."