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Ach du liebes Schwein! Wildschweinplage in Ústí

In Ústí nad Labem sorgt ein besonderes Wildschwein für Aufregung. Dafür erntet es inzwischen auch Bewunderung.

Von Steffen Neumann
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Da das Abschießen in der Stadt nicht geht, hilft sich Ústí mit großen Käfigen.
Da das Abschießen in der Stadt nicht geht, hilft sich Ústí mit großen Käfigen. © Stadt Usti

Es ist sieben Uhr am Morgen in Ústí nad Labem (Aussig). Der Berufsverkehr ist voll im Gange, da kreuzen fünf Wildschweine, angeführt von einer großen Bache, den Kreisverkehr Hvězda (Stern) im Stadtteil Klíše (Kleische). Zügig, aber nicht eilig, nehmen sie den Fußgängerüberweg. Neben ihnen fahren Autos. Das Video, das Anfang des Jahres aufgezeichnet wurde, ging in den letzten Wochen viral. Diese und viele andere werden auf der Stadtteil-Facebook-Seite „Klíše Střížovický vrch/Klíšeberg“ versammelt.

Fast täglich kommen neue Aufnahmen hinzu. Immer sind Wildschweine zu sehen, die häufig mitten am Tag zwischen Häuserblöcken, Wäschestangen, an Müllplätzen oder in Parks nach Essbarem suchen. Auf anderen lassen sie sich auf Fußwegen nieder oder traben fein aufgereiht den Fußweg entlang. Immer machen sie einen entspannten Eindruck, so als ob sie im Viertel zu Hause seien. „Als ich meinen Sohn an der Universitätsgrundschule angemeldet habe, wusste ich noch nicht, dass er ganzjährig ‚Schule in der Natur‘ haben wird“, heißt nicht der einzige nicht ganz ernst gemeinte Kommentar.

Gefährliche Begegnungen

Die Videos sorgen für Heiterkeit. Doch die zahlreiche Anwesenheit der wuchtigen Allesfresser ist beileibe kein Spaß, wie Petra Morvay weiß: „So geht das schon seit Herbst und die ganzen letzten zwei Jahre“, sagt Morvay, welche die Facebook-Seite vor Jahren für Nachbarschaftshilfe eingerichtet hatte.

Die Wissenschaftlerin wohnt im Viertel und hat schon ihre Erfahrungen mit den Tieren gemacht. Ihr Schäferhund überlebte das Zusammentreffen mit der Bache, die ihre Jungen schützte, nur knapp. Es blieb ein Biss ins Bein, der genäht werden musste. Der Hund humpelt noch heute.

An anderen Tagen musste Morvay wegen einer Rotte, die den Weg blockierte, einen kilometerweiten Umweg nehmen. Immer wieder kommt es vor, dass ihr Mann vom Gassi gehen mit dem Hund nicht zurückkehrt. „Er musst dann warten, weil die Wildschweine den Zugang zu unserem Haus blockierten“, erzählt Morvay.

Die Anwesenheit der wilden Tiere in der Nachbarschaft hat sie eines gelehrt: „Totale Aufmerksamkeit. Wenn ich das Haus verlasse, muss ich damit rechnen, dass eine Wildschweinrotte vor mir auftaucht.“ Unkonzentriert durchs Viertel zu schlendern, kann auch am Tage gefährlich sein.

Morgendliche Begegnung beim Gassi gehen: eine Rotte Wildschweine.
Morgendliche Begegnung beim Gassi gehen: eine Rotte Wildschweine. © FB Klíše Strížovický vrch

Wildschwein-Angriffe sind zwar eher die Ausnahme und fallen dann auch nur in die Zeit der Aufzucht. Aber auch so sind die hinterlassenen Schäden erheblich: durchwühlte Parks und Gärten, kaputte Zäune.

Simona Karpíšková vom Umweltamt Ústí könnte die Bilanz noch fortsetzen. Bei der Stadtverwaltung weiß man um das Problem. Dass Wildschweine im Winter auf Nahrungssuche ins Stadtgebiet von Ústí vordringen, ist nichts Neues, sagt Umweltamtsleiterin Karpíšková. „Ústí ist nicht nur von Natur umgeben, sondern hat auch viel innerstädtisches Grün.“

Die Scheu verloren

Die Situation habe sich jedoch durch die Corona-Pandemie verschärft, als die Einwohner von Ústí ihre direkte Umgebung für Spaziergänge und Ausflüge entdeckten. So wurden die Schweine nicht nur aus ihrem natürlichen Lebensraum verdrängt, sondern sie verloren auch ihre Scheu. Auf wilden Grünflächen in der Stadt fanden sie einen neuen Unterschlupf, sodass sie den Menschen nun noch näher sind. Das ist auch der Fall im Stadtteil Klíše, der an den Střížovický vrch (Strisowitzer Berg) grenzt.

Dass die Wildschweine den Menschen in Ústí so nahe kommen, hat noch einen längerfristigen Grund: Es werden immer mehr. Gleichzeitig müssen die Jäger immer mehr Wildschweine schießen. Waren es im Bezirk Ústí 2015/16 noch über 12.000 gejagte Wildschweine, lag diese Zahl 2019/20 bei knapp 22.000 getöteten Tieren. Eine Rolle spielt auch der verstärkte präventive Abschuss im unmittelbaren Grenzgebiet zu Deutschland, um ein Eindringen der Schweinepest zu verhindern.

Wildschweine im Park vor dem Haus sind in Ústí nad Labem inzwischen Alltag.
Wildschweine im Park vor dem Haus sind in Ústí nad Labem inzwischen Alltag. © FB Klíše Strížovický vrch

In den Städten ist ein Abschuss dagegen nur bedingt möglich. „Die Jagd erfolgt nur auf gesperrten Flächen, wo niemand durch die Schüsse bedroht wird. Eine Variante ist die Treibjagd hin auf solche Flächen und die Tötung dann dort“, sagt Amtsleiterin Karpíšková. Die neueste Lösung ist das Aufstellen von Käfigen. Auf diese Weise wurden bereits einige Tiere gefangen und im Anschluss getötet.

Doch Petra Morvay hat ihre Zweifel. „Ich glaube nicht, dass sie Maruna da rein kriegen“, sagt sie und meint die Leitbache der Rotte, von der alle nur mit ihrem Spitznamen sprechen. „Wildschweine sind sehr klug, umso mehr die älteren. Die sind ja in der Stadt, gerade weil sie nichts zu fürchten haben“, sagt sie nicht ohne Bewunderung. „Ja, ich mag sie“, gibt sie zu: „Das sind edle, wilde Tiere.“

Riesenkäfig für Maruna

Bisher bleibt der Polizei bei Maruna und ihrer Rotte nur die Statistenrolle. Immer wieder gibt es Videos, in denen die Wildschweine „polizeilichen Begleitschutz genießen“, wie es Morvay sagt. Um Maruna wirklich zu fangen, bräuchte es einen riesigen Käfig. Genau so einen lässt die Stadtpolizei nun bauen.

Sollte es der Polizei so gelingen, die gewiefte Leitbache tatsächlich zu fangen, wäre das für die Einwohner ein Tag mit gemischten Gefühlen. „Einerseits wird das für uns eine große Erleichterung“, sagt Petra Morvay. „Aber gleichzeitig drücken wir ihr jedes Mal die Daumen und freuen uns, wenn wir sie wiedersehen. Ich würde trauern, wenn sie getötet würde. Sie ist ja inzwischen meine Nachbarin. Klíše wird Maruna immer lieben“, ist sie sich sicher.