Liebe Vögel, es ist serviert

Wir haben eine Meise. Sie sitzt auf dem Balkongeländer und wartet. Es ist eine Kohlmeise. Schwarz-weißer Kopf, gelber Bauch, moosgrüner Mantel. Beim Männchen sieht die Farbe kräftiger aus und der Bauchstreifen breiter als beim Weibchen. Könnte bitte eines zum Vergleichen danebenfliegen?
Man muss schon genauer gucken. Das ist der Sinn eines Vogelhauses. Wir füttern doch nicht für sie. Wir füttern für uns. Wir wollen sie beobachten: Wie sie sich stürmisch oder vorsichtig nähern je nach Art, Charakter und Hunger. Wie sie blitzschnell nicken und picken, also eine Kleinigkeit zu sich nehmen, was das Wort Picknick erklärt. Wie sie sich um die fettesten Bissen balgen. Das ist besser als Fernsehen. Weil es lebt. Da kann man eine echte Beziehung eingehen. Da darf man von gefiederten Freunden sprechen. Mit dem Vögelgucken verbindet sich ein unerhörter Zugewinn an Natur.
Manche Städter neigen zum wilden Gärtnern. Andere halten sich einen Bienenschwarm. Einige tragen modische Gummistiefel wegen der Landlust. Wagemutige ziehen gleich ganz aufs Dorf. Da sind sie als Städter bald wieder unter sich.
Im Internet wird leidenschaftlich diskutiert
Vögelgucken wäre die gefahrlosere Alternative. Wer je im Sommer auf dem Balkon ein aufgeregt zitterndes rundliches Spatzenkind sah, das mit aufgesperrtem Schnabel um Futter bettelt, vergisst das nicht wieder. Es ist ein anrührendes Erlebnis. Pädagogisch wertvoll.
Bei vielen Futterstellen etwa im Großen Garten von Dresden kommen nicht nur Meisen ganz dicht heran. Man kann ihnen die Hand geben. Zwei Vogelfüße auf dem Daumen: Der schöne Schauder ist mit nichts zu vergleichen. Der Kleiber hält den Kopf schräg, als würde er sorgfältig wählen, was gibt es denn heute Feines, dann nimmt er zwei Erdnussstückchen. Er nimmt immer zwei. Er vergräbt sie zum Wiederfinden, bis wir weg sind.

Früher wurde einfach so geguckt und gefüttert. Erhitztes Kokosfett und Sonnenblumenkerne in einen Pappring, abkühlen, aufhängen, fertig. Heute gilt das als Trend. Wildfremde Menschen verbünden sich miteinander in Internetforen und diskutieren so leidenschaftlich über die richtige Futtermischung wie über Kindererziehung. Sie zeigen ihre Vogelfotos mit dem gleichen Stolz wie ein Großwildjäger den Löwenkopf. Vogelfotos schaden nicht.
Profifütterer mahnen: Ungesalzener Rindertalg vom Fleischer eignet sich besser als Kokosfett. Manche sagen Metzger. Sie gehen mit Zwitscher-App, Kamera und Feldstecher hinter der Gardine auf die Pirsch. Der Brite David Lindo feuert die Begeisterung an. Sein Buch gilt als Bibel für Urban Birding, was nicht ganz jugendfrei übersetzt werden kann als Städtisches Vögeln. Sorry.
Vögelgucken trägt zur Entschleunigung bei
Die Briten sind sowieso führend in der Vogelforschung, seit Charles Darwin am Beispiel der Finken und Drosseln von den Galapagos-Inseln seine Evolutionstheorie durchbuchstabierte. Beide Arten lassen sich auf einem sächsischen Balkon selten sehen. Die Haussperlinge genannten Spatzen sind eindeutig in der Überzahl. Im Sommer waren es mal 23 zugleich! Irres Heckengeschnatter. Privatsphäre sieht anders aus. Aber Schwarm hält warm. Die Kohlmeise wartet immer noch. Sie hält wohl nichts von Intervallfasten. Künftig wird man ein Schild aufstellen müssen: Liebe Vögel, Futter kommt später, bin beim Zahnarzt.
Aufmerksame Geduld ist gefragt. Man weiß nie, ob er kommt, der Vogel, allein oder mit Familie. Taucht vielleicht das knopfäugige Rotkehlchen vom letzten Jahr wieder auf? Hat das Spätzchen, das auf dem rechten Bein hinkt, die Nacht überlebt? Traut sich womöglich der Eichelhäher noch mal ran, der den Erdnussteller geplündert hat? Toller türkisblauer Rallyestreifen übrigens!
Die Ungewissheit erhöht die Spannung. Das Warten auf den richtigen Augenblick übt fürs Leben. Wer nichts erwartet, wird am ehesten überrascht. Vögelgucken trägt zur Entschleunigung bei. Es strengt nicht an. Wer es mit Meditation vergleichen will: warum nicht. Auf jeden Fall zwingt es zum genaueren Hinsehen. Dabei fällt einem manches auf, was man sonst vielleicht verpasst hätte. Männliche Hausspatzen haben einen dunklen Brustlatz. Die Nachbarn haben ein neues Küchenrollo. Die Kastanienknospen im Hof glänzen fett und frühlingshaft in der Sonne.

Im Frühling wird man wieder beobachten, wie die Spatzen energisch Strohhalme und Bindfaden vom Futterhaus abzupfen zum Nestbau. Sie wissen nicht, dass sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Mancher wird das Futterhäuschen in den Keller bringen. Oder nicht? Kein anderes Thema, von Corona und Ampel mal abgesehen, wird so kontrovers diskutiert wie die Ganzjahresfütterung von Vögeln. Nicht einmal innerhalb der Naturschutzvereine und Umweltverbände ist man sich einig.
Und wie immer finden sich auch bei diesem Reizthema glaubhafte Studien, kompetente Experten und Überzeugungstäter für Pro und Kontra. Die Gegner warnen: Die Natur gerät aus dem Gleichgewicht. Vögel verlieren ihre Selbstständigkeit. Der Nachwuchs wird nicht artgerecht ernährt, Meisenknödel bestehen vor allem aus Fett und verkleben den Schlund. Man möge nur bei strengem Frost und hohem Schnee Futter streuen.
Guru der Ganzjahresfütterung
Alles Mumpitz, sagt Peter Berthold. Der aus Zittau stammende Ornithologe ist der Guru der Ganzjahresfütterung. Ihre Verweigerung ist für ihn ein „Aufruf zum Vogelmord“. Sein Argument: Durch Intensivierung der Landwirtschaft, Industrialisierung und Bodenversiegelung verschwinden Wildkräuter und Insekten und damit die Vögel. Erntemaschinen holen noch das letzte Getreidekorn vom Acker.
Statt naturnaher Vorgärten sieht der Ornithologe „Psychopathen-Rasen“. Seit sechzig Jahren kämpft Berthold deutschlandweit für vogelfreundliche Landschaften. Solange es die nicht ausreichend gibt, füttert er durch – mit dem Ergebnis, dass seine Vögel früher brüten, mehr Zeit haben bis zur Selbstständigkeit und größere Widerstandskraft entwickeln.
Außerdem, meint der Professor, suchen die Elternvögel für ihre Jungen stets leckere Räupchen und nutzen Futterstellen im Sommer nur für sich. Oder, wie einer seiner Kollegen sagt: „Vögel sind nicht zu doof, die richtige Nahrung zu wählen.“ Sie greifen nicht wie manche Schüler nur zu Pommes.

Die Kohlmeise würde das bestätigen. Sie kann andere Sachen. Kohlmeisen zwitschern ganze Sätze mit komplexem Rufrepertoire und perfektem Satzbau. Das haben Japaner herausgefunden. Zwitschern ihre Meisen japanisch? „Wie viele Sprachen haben auf einem Vogel Platz?“, fragt der Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer als großer Vogelkenner und -beschreiber angesichts unterschiedlicher Namen für ein und dieselbe Art: Wo hört der Stieglitz auf, und wo wird er zum russischen schtschegol, zum polnischen szczygiel, zum tschechischen stehlik und letztlich zum Distelfinken? Wie weit ist der Weg, und was verändert sich beim Grenzübertritt?
Stieglitz ist der kleine Bunte mit dem roten Gesicht. Ein echter Hingucker. Er liebt Distelsamen. Marcel Beyer serviert auf seinem Küchenbalkon auch klein gehackte Cashewkerne. Haustauben hält er mit einem Trick fern. Er besprüht sie mit Wasser.
Kopfunter klettert die Kohlmeise an einem Meisenknödel herum. Aber bitte nicht die Knödel im Plastiksäckchen verwenden, wegen der Weltmeere und der Gefahr für verfitzte Vogelfüße. Vegane Knödel gibt es auch. Wer hätte daran gezweifelt. Ein Anbieter von Bärlauchpesto und Vollkornbrot schickt sie ins Haus, garantiert mehlwurmfrei. Bei Mehlwürmern hört die Freundschaft auf. Sie rascheln in der Tüte. Angeblich sind sie getrocknet. Das Kilo für rund zehn Euro.
Designer-Vogelhäuschen für 159 Euro
Jeder statistische US-Amerikaner gibt im Jahr umgerechnet 100 Euro für Vogelfutter aus, jeder Brite drei Euro, jeder Deutsche einen. Selbst bei Fertigfutter hat der richtige Mix schon zu Familienkrisen geführt. Doch, Wacholderbeeren sind erlaubt. Abgestimmt wird mit den Füßen. Liebe Vögel, auf unserem Balkon gibt´s alle Speisen auch to go!