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Kämpft die Ukraine einen „gerechten Krieg“?

Was soll Deutschland tun? Darüber streiten die Ukrainerin Natalija Bock, Waffenlieferungsgegner Peter Gauweiler und Befürworterin Liane Bednarz.

Von Oliver Reinhard
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Ein ukrainischer Soldat in Awdijiwka in der Region Donezk.
Ein ukrainischer Soldat in Awdijiwka in der Region Donezk. © AP (Symbolfoto)

Frau Bock, Frau Bednarz, Herr Dr. Gauweiler, viele Menschen erinnern sich noch nach Jahrzehnten genau, wo sie waren und was sie getan haben in dem Moment, als sie von einem historischen Ereignis wie dem Mauerfall am 9. November 1989 oder dem Anschlag auf die New Yorker Twin Towers am 11. September 2001 erfuhren. Wo waren sie und was haben Sie getan, als Sie am 24. Februar vom russischen Überfall auf die Ukraine gehört haben?

Bock: Das weiß ich noch ganz genau: Ich hatte schon damit gerechnet, dass der Krieg losgehen würde, habe mir in der Nacht noch die Rede von Selenskyj angehört und bin dann ziemlich spät ins Bett, so kurz nach zwei. Schon um kurz vor sechs bin ich dann wieder aufgewacht, habe sofort auf mein Handy geschaut und die Nachricht von meiner Schwester aus Kiew gelesen: Der Krieg ist da – ich bin selbst aus Kiew und lebe seit 25 Jahren hier in Dresden. Ich habe die Nachricht gelesen und bin vor Verzweiflung und Angst regelrecht aus dem Bett gefallen und habe geschrien und geweint. Ich habe gedacht, es wird jetzt ganz viele Tote geben, es wird ganz, ganz viel Zerstörung geben. Davon sind mein Mann und meine Tochter wach geworden, die haben mich getröstet. Dann haben wir meine Familie angerufen, wir konnten die auch Gott sei Dank erreichen, sie waren schon teilweise auf der Flucht. Ja und dann haben wir mittags angefangen, meine Mitstreiter und Freunde, die Kundgebung zu organisieren, die abends dann auch hier auf dem Neumarkt stattfand, wo Hunderte Dresdner hingekommen sind.

Gauweiler: Ich war auf dem Weg nach Österreich, an den Arlberg ins Montafon. Wir haben uns über die Situation unterhalten und gedacht, es wird jetzt wieder viele Gelegenheiten für viele falsche Entscheidungen geben. Es gingen mir Hunderte Gedanken durch den Kopf, ich hatte ja vorher für den Bundestag immer wieder mit Kiew zu tun gehabt und mit Lemberg, mit der dortigen Universität. Wir hatten da einen trinationalen Dialog organisiert, auch noch in der schwierigen Zeit nach der Krim-Annexion, mit der Universität in Moskau unter Federführung der Bayerischen Universität in Würzburg. Wenn man Einzelpersonen kennt, drängt sich natürlich auch deren persönliches Schicksal auf. Und die Fragen: Ist das recht? Wie unterscheidet sich der Freie vom Knecht? Was kommt danach? Was ist der übernächste Zug?

Bednarz: Ich bin aufgestanden, habe wie immer die Nachrichten angeschaut und war geschockt. Auch darüber, wie naiv ich gewesen bin. Ich hatte nämlich wirklich geglaubt, dass Macron und Scholz Putin vielleicht umgestimmt hätten – obwohl die CIA ja eigentlich klar gesagt hatte, dass der russische Angriff unmittelbar bevorsteht. Das war ein sehr großer Schockmoment für mich. Aber dann, eigentlich fast ab Tag eins des Krieges, habe ich angefangen, mich einzuarbeiten in militärische Fragen, von denen ich vorher nicht viel verstanden habe. Ich wollte alles wissen über die Kriegsführung, über die russischen Panzer, über Artillerie, die ganze Militärtechnik. Und ich habe mich noch mal richtig eingearbeitet in die ganze Geschichte des Konfliktes, in die Maidan-Bewegung, die Annexion der Krim, überhaupt in Putins geopolitische Obsession mit der Ukraine.

Natalija Bock (48) kam in Kiew zur Welt und lebt seit einem Vierteljahrhundert in Dresden. Sie arbeitet als Dolmetscherin und Übersetzerin und ist Sprecherin der Ukrainischen Gemeinde Dresden.
Natalija Bock (48) kam in Kiew zur Welt und lebt seit einem Vierteljahrhundert in Dresden. Sie arbeitet als Dolmetscherin und Übersetzerin und ist Sprecherin der Ukrainischen Gemeinde Dresden. © Archivfoto: Ronald Bonß

Herr Gauweiler, nach der russischen Annexion der Krim 2014 haben Sie gesagt: Sanktionen sind der falsche Weg, Russland gehört zu Europa. Wie sehen Sie das heute, über ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine?

Peter Gauweiler: Genauso. Ich halte die Politik der moralischen Intervention für verheerend. Unsere Diskussion läuft ja unter dem von Cicero geliehenen Titel „Führt die Ukraine einen gerechten Krieg?“ Und unser Verständnis eines gerechten Krieges zur Verhinderung der Vernichtung des eigenen Landes hat ja seit Cicero sehr viele Wandlungen erfahren. Ich erinnere nur an Papst Franziskus, der sagt: Es gibt keinen gerechten Krieg mehr, weil es im Zeitalter der atomaren Schläge und Gegenschläge um die Vernichtung der Menschheit geht. Und da ist jedes Greifen zum Krieg, ganz kühl betrachtet, juristisch unverhältnismäßig. Artikel 87 des Grundgesetzes sagt: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf – Punkt. Das ist dann später schon durch eine umstrittene Rechtsprechung erweitert worden, auch auf die Bündnisverteidigung, aber für nichts anderes.

Natalija Bock: Es geht doch in ganz Europa um Verteidigung. Russland hat die Ukraine angegriffen, und Putin spricht ihr das Existenzrecht ab. Russland ist eine Diktatur, ein imperialistischer Staat, in dem es keine Opposition gibt, keine Demokratie, keine Freiheiten, keine westlichen Werte. Genau darum wird jetzt in der Ukraine gekämpft, denn sie will nicht ein Teil davon werden. Das ist ganz klar ein gerechter Krieg nach Artikel 51 der UN-Charta, laut dem jedes Land, das von einem anderen angegriffen wird, das Recht zur Selbstverteidigung hat.

Gauweiler: Ich teile ja Ihre Betroffenheit, und ich höre das mit Sympathie. Aber es war eigentlich immer Konsens in der Bundesrepublik von Adenauer über Kurt Schumacher, Willy Brandt bis Franz Josef Strauß: Krieg ist kein Mittel der Politik mehr. Ja, wir sind zu einer intensiven Hilfe für die Ukraine schon aus Anstandsgründen – ich will ausdrücklich sagen: verpflichtet. Aber wir sind nicht verpflichtet, unsere Bevölkerung jeden Tag mit immer mehr Eskalationen in eine Auseinandersetzung treiben zu lassen, in der sie atomar verbrennen wird.

Peter Gauweiler (73) war Bayerischer Staatsminister und stellvertretender CSU-Chef. Er gehört zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht.
Peter Gauweiler (73) war Bayerischer Staatsminister und stellvertretender CSU-Chef. Er gehört zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht. © Henning Schacht

Frau Bednarz, Frau Bock: Auch wenn Sie die Angst vieler vor einer atomaren Eskalation nicht teilen, können Sie diese nicht wenigstens respektieren?

Liane Bednarz: Ich halte diese ganze Eskalations-Panikmache vor allem mit den Atomwaffen ehrlich gesagt für absurd. Putin droht ja wiederholt damit – aber was hätte er denn von verseuchten Gebieten in der Ukraine und erst recht bei sich im eigenen Land? Nichts. Auch wenn er sich momentan noch ein bisschen auf zumindest teilweise Rückendeckung aus China und Indien verlassen kann. Aber in dem Moment, in dem er zu Atomwaffen greift, wird es auch damit vorbei sein.

Bock: Natürlich kann ich nachvollziehen, dass Menschen Angst vor einer nuklearen Eskalation haben, das geht den Ukrainerinnen und Ukrainern ja genauso. Aber wenn wir jetzt Russland nachgeben und diesen barbarischen Krieg mit all den Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgehen lassen, hat das wahnsinnige Folgen für die ganze Welt, insbesondere eine weitere nukleare Aufrüstung und davor sollten wir alle noch mehr Angst haben. Die Ukraine hat gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Sonst gibt es diese bald nicht mehr.

Liane Bednarz (49) lebt als Juristin und Publizistin in Hamburg. Sie ist CDU-Mitglied, veröffentlicht Bücher über die AfD und die Neue Rechte und engagiert sich für Waffenlieferungen an die Ukraine.
Liane Bednarz (49) lebt als Juristin und Publizistin in Hamburg. Sie ist CDU-Mitglied, veröffentlicht Bücher über die AfD und die Neue Rechte und engagiert sich für Waffenlieferungen an die Ukraine. © privat

Frau Bednarz, Sie waren in den letzten Monaten zweimal in der Ukraine. Wie sehen das die Menschen dort Ihrer Wahrnehmung nach?

Bednarz: Ich habe mit Leuten quer durch alle Bevölkerungsschichten und politischen Spektren gesprochen: Niemand will Teil der russischen Diktatur sein. Erst recht nicht diejenigen, die schon unter russischer Besatzung gelebt haben und ihre Freunde und Bekannten teilweise ermordet auf der Straße haben liegen sehen. Die Ukrainer haben sich seit der Unabhängigkeitserklärung systematisch etwas aufgebaut, nämlich Selbstbestimmung und Freiheit. Damit wäre es vorbei in allen Gebieten, die man an Russland abtreten müsste. Insofern: Selbstverständlich führt die Ukraine einen gerechten Krieg.

Gauweiler: Liebe Frau Bednarz, mit Verlaub, wir debattieren hier ja an einem besonderen Ort, der Frauenkirche, die wie das ganze Dresdner Zentrum 1945 zerstört wurde. Wir brauchen für den jetzigen Konflikt keine Churchill-Lösung und in der Konsequenz auch keine Bomber-Harris Lösung. Sondern wir brauchen eine Henry-Kissinger-Lösung, eine Johannes-Paul-II-Lösung. Die haben in den letzten 30, 40 Jahren vorgemacht, dass selbst die unversöhnlichen und die moralisch asymmetrischen Konflikte durch Verhandeln und ständiges Probieren und Versuchen gelöst werden können. Deswegen habe ich auch dieses Manifest für den Frieden unterschrieben. Weil die Kriegspropaganda wieder Mittel der Politik ist, und dem müssen wir entgegenwirken.

Bock: Natürlich kann der Westen zuschauen, wie die Ukrainer abgeschlachtet werden, ganz klar. Oder man hilft uns dabei, uns selbst zu verteidigen und die Kosten dieses Krieges so hochzutreiben, dass Russland und Putin aufgeben.

Das wäre nun eine Eskalation, also das Gegenteil dessen, um was es ja Herrn Gauweiler und den anderen Unterzeichenrinnen und Unterzeichnern des Schwarzer- Wagenknecht-Manifestes geht …

Gauweiler: Ich kann mir gut vorstellen, dass man das gerade als betroffene Nation als Unverschämtheit und Kränkung empfindet, aber ich sage es trotzdem: Redet mit ihnen, immer wieder. Und wenn Sie abgewiesen werden, versuchen Sie es weiter. Ich bin da ganz bei Karl Popper, der sagt: Alle Politik ist Problemlösen. Und ist der Friedensplan der Chinesen mit Garantie der Souveränität, Integrität und Unversehrtheit der Ukraine wirklich so abwegig? Sind diejenigen, die ihn unterstützen, Chinesen, Inder, Brasilianer, nicht die Mehrheit des Menschengeschlechts? Ist es nicht gerade unsere Aufgabe der Deutschen, auch der hier in der Frauenkirche, immer wieder den Berg zu besteigen, gerade zu den Bösen, um sie zu überzeugen? Bei den Guten brauchen Sie das ja nicht.

Oliver Reinhard (l.) diskutierte in der Frauenkirche mit Natalija Bock (2.v.l.), Liane Bednarz und Peter Gauweiler.
Oliver Reinhard (l.) diskutierte in der Frauenkirche mit Natalija Bock (2.v.l.), Liane Bednarz und Peter Gauweiler. © SZ/Veit Hengst

Frau Bock, abgesehen davon, dass Lawrow, Selenskij und erst unlängst wieder Duma-Chef Wolodin gesagt haben, dass sie alle kein Interesse an Verhandlungen haben: Verhandeln heißt immer auch Zugeständnisse machen. Welche Zugeständnisse der Ukraine wären für Sie denkbar?

Bock: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Zugeständnisse nichts bringen, im Gegenteil. Hat das Zugeständnis des Westens, die Krim Russland zu überlassen, den Frieden gebracht? Oder das Zugeständnis, die Ukraine nicht in die Nato zu lassen? Nein. Diese Zugeständnisse haben nicht zu Frieden geführt, sondern zum Krieg. Sie, Herr Gauweiler, wollen mit den anderen Unterzeichnern ein Gleichgewicht zwischen einem Opfer und einem Aggressor herstellen. Und das geht nicht. Das existiert nicht. Es gibt dazwischen kein Gleichgewicht.

Bednarz: Ich wüsste auch nicht, welche Zugeständnisse die Ukraine Russland machen sollte. Was schwierig sein wird – das sagen auch viele Ukrainer – ist die Tatsache, dass die Krim inzwischen sehr weit russifiziert ist. Und Selenskyj hatte ja ganz am Anfang mal gesagt, über den Status der Krim könne man versuchen zu reden. Aber warum sollte die Ukraine irgendwelche Gebiete im Donbas hergeben? Nur weil ihr dieses Territorium geraubt wurde? Außerdem darf man nicht vergessen: Es läuft seit Monaten militärisch ziemlich schlecht für Russland. Jetzt dürfte bald die ukrainische Gegenoffensive beginnen, mit modernen Kampfpanzern wie dem deutschen Leopard 2, die den russischen haushoch überlegen sind.

Und mit genügend Munition; die US-Kredite dafür wurden ja eben bewilligt …

Bednarz: Genau. Das heißt, es besteht gerade jetzt die Chance, Putin militärisch so weit zu schwächen, dass er sich auch aus dem Donbas zurückziehen muss und es dann hoffentlich auch nicht mehr wagen wird, in den nächsten Jahren noch mal neu anzugreifen. Aber ganz davon abgesehen finde ich grundsätzlich, dass ein Land, das angegriffen wird, keine Kompromisse schließen muss. Würde Sachsen überfallen, würde man dem Aggressor als Lohn ja auch nicht einfach die Lausitz überlassen.

Gauweiler: Auch das verstehe ich, vor allem die Haltung von Frau Bock. Aber das führt ja nicht dazu, dass ich auf einmal der gleichen Meinung bin. Ich finde diese Haltung verständlich, wenn sie von Ukrainern vertreten wird. Wenn sie von Deutschen vertreten wird, finde ich sie unerhört. Man möchte die Leute ehrlich fragen: Wisst ihr, von welchem Volk ihr kommt? Es wird einem übel, wenn man drüber reden muss ...

Versuchen Sie es trotzdem?

Gauweiler: Also was könnte man tun? Erster Schritt: Beschluss der UN-Generalversammlung zu einem sofortigen Waffenstillstand. Zweiter Punkt Überwachung dieser Waffenstillstandslinie durch Blauhelme – das ist schon ein bisschen insinuiert aus diesem internationalen Vorschlag mit Brasilien und Indien, von dem ich gesprochen habe. Dritter Punkt: Klärung, wer am Ende zu wem gehört. Es gibt ja selbst unter den großen Befürwortern einer ukrainischen Krim niemanden, der sagt, dass die Bevölkerung zu hundert Prozent nur darauf wartet, in die Ukraine zurückzukommen. Und dann, ganz nach der Empfehlung von Alexander Solschenizyn, regionale Volksabstimmungen, Landkreis für Landkreis, Oblast für Oblast. Man nennt das Volkssouveränität. Das ist ein ganz mühseliger Weg. Den halte ich aber für genauso unvermeidlich wie möglich.

Bednarz: Wären Sie dann auch dafür, dass die Katalanen darüber abstimmen, ob ihre Region unabhängig von Spanien wird?

Gauweiler: Ich bin extrem dafür, ich bin ein großer Anhänger der Katalanen. Ich bin auch ein Anhänger der Schotten, aber ich würde deswegen keinen Unabhängigkeitskrieg mit London anfangen. Ich würde ihnen auch keine Waffen liefern.

Frau Bock, Sie sehen aus, als dränge es Sie zu heftigem Widerspruch?

Bock: Herr Gauweiler, Sie erlauben mir vielleicht mal die Bemerkung, dass einige Sachen, die Sie sagen, naiv sind.

Gauweiler: Wahrscheinlich weil ich noch so jung und unerfahren bin …

Bock: Die Ukrainer haben seit 2014 immer mal wieder darum gebeten, dass Blauhelme in die umstrittenen Regionen entsandt werden. Dafür muss es aber das Einverständnis beider Seiten geben. Aber Russland wollte das nie und wird es auch niemals wollen. Wir haben die Krim abgegeben. Was sollen wir denn noch abgeben, Oblast für Oblast?

Gauweiler: Das haben Sie nicht zu entscheiden. Es ist ja nicht Ihr Land, Frau Bock, und Sie persönlich haben auch gar nichts abzugeben. Sie sollen die Leute darüber abstimmen lassen.

Bock: Wir können die Leute nur abstimmen lassen, wenn …

Gauweiler: „Abstimmen lassen“ – wie großzügig von Ihnen! Es ist ein Menschenrecht, das zu tun.

Bock: Man kann keine freien Wahlen in den Gebieten durchführen, wo der Aggressor steht. Auch auf der Krim gab es keine freien Wahlen oder überhaupt einen Wahlkampf, so wie wir das kennen. Die Leute werden intensiv indoktriniert durch russische Propaganda…

Gauweiler: Als wenn das die ukrainische Seite nicht auch macht!

Bock: Aber wir haben in der Ukraine freie Wahlen gehabt, nicht wie in Russland, wo der Präsident faktisch schon seit über 23 Jahren an der Macht ist. Auf der Krim und im Donbas aber sind unter der russischen Besatzung keine freien Wahlen möglich.

Gauweiler: (greift versöhnlich nach der Hand von Frau Bock, die das Angebot annimmt) Stimmt, und da sind wir uns ja einig, dass solche Wahlen überwacht werden müssen von den Vereinten Nationen, dass es Wahlbeobachter geben muss. Das ist ja Gemeingut, darüber brauchen wir eigentlich nicht zu diskutieren.

Bednarz: Das Wort „Entukrainisierung“ fällt in der russischen Propaganda regelmäßig. Eben darum geht es Putin ja erklärtermaßen, übrigens genauso in Transnistrien und letztlich auch in Georgien, Südossetien und Abchasien: Regionen zu destabilisieren und zu russizfizieren. Und ich kann Frau Bock nur zustimmen: Eine freie Entscheidung auf der Grundlage von Propaganda und Angst kann es nicht geben.

Eine letzte Frage noch, Frau Bock: Sollte die ukrainische Armee irgendwann siegreich sein und die russischen Truppen vertrieben haben aus dem Donbas – wie sähe dann ein gerechter Friede für die russischstämmige Bevölkerung aus, die jetzt aufseiten von Putin steht?

Bock: Für uns Ukrainer ist es wichtig, dass alle Kriegsverbrechen samt den Erschießungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Enthauptungen vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag kommen.

Es ging mir eher um die Zivilisten, die Putin unterstützen. Was sollte mit ihnen geschehen?

Bock: Es ist immer die Frage, was genau das heißt, Putin unterstützt zu haben. Es gibt Menschen, die Verbrechen befohlen und begangen haben. Viele aber sind der russischen Propaganda auf den Leim gegangen und haben nur deshalb Putin ideell unterstützt. Zwischen ihnen muss man unterscheiden. Die einen müssen wie gesagt bestraft werden. Mit den anderen, vielleicht auch mit Russland, können wir uns eventuell wieder versöhnen und Kompromisse eingehen. Aber erst dann, wenn Russland sich zurückgezogen hat und die Ukraine in ihren Grenzen wiederhergestellt ist.