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Wie eine Leipzigerin den Krieg in der Ukraine erlebt

Die gebürtige Ukrainerin Alina Artamina lebt seit vielen Jahren in Leipzig. Bei Kriegsausbruch war sie zufällig in der Ukraine - und harrt seitdem dort aus.

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Die Leipzigerin Alina Artamina harrt seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine bei ihrer kranken Mutter in Kiew aus.
Die Leipzigerin Alina Artamina harrt seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine bei ihrer kranken Mutter in Kiew aus. © Alina Artamina

Leipzig/Kiew. Der Himmel über Kiew ist an diesem Frühlingstag blau. Endlich, sagt Alina Artamina. In ihrer Wohnung in der ukrainischen Hauptstadt schwenkt sie die Handykamera zum Fenster. "Ich habe das Gefühl, dass ich zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig atmen kann, weil die Luft relativ sauber ist", sagt die Leipzigerin. In den Wochen zuvor sei das anders gewesen - durch Explosionen in den Nachbarorten. Im März etwa warnte eine App auf ihrem Handy viele Male am Tag vor Raketeneinschlägen. "Wir hörten ständig lautes Knallen und sahen wochenlang schwarze Rauchsäulen."

Eigentlich sollte die 43-Jährige gar nicht in Kiew sein, sondern in den Leipziger Himmel schauen. Die gebürtige Ukrainerin lebt seit vielen Jahren in der Messestadt und reiste kurz vor Kriegsbeginn in die Ukraine zu ihrer kranken Mutter. Das ist nun mehr als drei Monate her - seitdem harrt Artamina in Kiew aus, fernab von ihrem Alltag in Sachsen und ihrem fünf Jahre alten Sohn. Genug zu tun gibt es in Kiew dennoch. "Die Arbeit liegt hier auf der Straße. Man muss nur seine Augen offen halten und hat sofort etwas zu tun", sagt sie.

Die Müdigkeit ist Artamina auch im Videochat anzusehen. Oft klingelt das Telefon, rufen Freunde oder auch Journalisten an. "Mein Leben ist zurzeit sehr gefüllt - ich bin ständig unterwegs, telefoniere, versuche, Dinge aufzutreiben, vermittle Freundinnen, die fliehen wollen, nach Leipzig", sagt sie. Freunden an der Front bringe sie Verbandsmaterial, Medikamente oder auch IT-Zubehör. "Neulich zum Osterfest habe ich Ostersüßigkeiten gesammelt und zu einem zentralen Stützpunkt gebracht." Bei ihrer Hilfe gerate sie an ihre Grenzen, aber bekomme auch selbst Unterstützung: Vom Verein "Europa Maidan Leipzig", dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist.

Hilfe in Psychosozialen Zentren

Den russischen Einmarsch in die Ukraine erlebte Artamina von einem Kiewer Krankenhaus aus, wie sie noch am 24. Februar erzählte. Dort war sie mit ihrer Mutter, die behandelt werden musste. Die Einrichtung wurde für militärische Zwecke geräumt, die beiden Frauen mussten sie Hals über Kopf verlassen - und einen Ort finden, an dem sie zumindest ein wenig geschützt waren.

Inzwischen ist die Versorgungslage in Kiew in Artaminas Wahrnehmung deutlich besser als zu Beginn des Krieges. "Die Restaurants haben wieder geöffnet und beliefern unsere Verteidigungskräfte mit Essen. In den Supermärkten gibt es alles, was man braucht und noch viel mehr, auch exotische Früchte", sagt sie. Sorgen mache sie sich dennoch, weil das Land auf eine humanitäre Katastrophe zusteuere. Viele Menschen hätten keine Arbeit mehr und kein Geld, um sich Lebensmittel zu kaufen. "Es gibt viele Familien, in denen mehrere Generationen nur von der Rente irgendeiner Oma leben."

Hinzu kommen die psychischen Folgen, die der Krieg hinterlässt. Viele ihrer Freundinnen hätten Schreckliches erlebt und seien traumatisiert, sagt die Juristin. "Eine Freundin von mir meinte nach ihrer Flucht nach Leipzig, dass sie drei Wochen dort brauchte, um auszuatmen und zu verstehen, dass sie jetzt in Sicherheit ist. Erst dann ging es ihr besser." In Sachsen können Menschen mit Fluchterfahrung in drei Psychosozialen Zentren Hilfe bekommen. Doch die Einrichtungen in Chemnitz, Leipzig und Dresden dürften kaum für die gut 45.000 Geflüchteten reichen, die laut Einschätzung der Landesdirektion bislang aus der Ukraine in Sachsen angekommen sind.

Unterkunft in Leipzig gesucht

Auch ihr selbst gehe es manchmal schlecht, sagt Artamina. Zum Beispiel nachdem sie eine Freundin im Krankenhaus besucht habe, die mit ihren Kindern aus Mariupol geflohen sei. Die Freundin sei bei einem Raketenangriff schwer verletzt, ihr Haus zerstört worden. Nachdem sie diese Erzählungen gehört habe, habe sie erst einmal eine Stunde Zeit gebraucht, um sich zu "beherrschen", sagt Artamina.

In Selbstmitleid will sie dennoch nicht versinken. "Es muss weitergehen. Auch wenn es manchmal schwer fällt", sagt sie. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, was um sie herum passiert, beschäftige sie sich die ganze Zeit. Für die Freundin aus Mariupol sucht sie zurzeit eine Unterkunft in Leipzig.

Sie selbst plane zurzeit nicht viel, sagt Artamina. Weil ihre Mutter nicht fliehen wolle, bleibe sie in Kiew, bis sich die Lage stabilisiert habe. "Wenn ich den Tag überlebt habe, ist das schon mal gut", sagt Artamina. Und: "Morgen kommt ein neuer Tag und man weiß nicht, was dieser mit sich bringt." (dpa)