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SZ-Reporterin in den USA: Land ohne Grenzen

Drei Monate hat SZ-Reporterin Franziska Klemenz in den USA gelebt, Gewalt, Rassismus und Elend gesehen. Gleichzeitig sind ihr mehr Freundschaft, Freude und Licht begegnet als je zuvor in so kurzer Zeit.

Von Franziska Klemenz
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Drei Monate war SZ-Reporterin Franziska Klemenz in Portland, eine 650.000-Einwohner-Stadt in Oregon an der US-Westküste.
Drei Monate war SZ-Reporterin Franziska Klemenz in Portland, eine 650.000-Einwohner-Stadt in Oregon an der US-Westküste. © Franziska Klemenz

Brendas Lippen zittern. Sie streichelt Buck über die Wange. „Wach auf.“ Buck Marshall wacht nicht auf. Stoffhandschuhe hüllen seine Hände ein. Seinen Kopf bettet ein Rüschenkissen, in das Tränen seiner Verlobten sinken.

Ein Dienstagmittag, draußen frisst Spätsommersonne sich in den Beton. Ein Austauschprogramm hat mich für drei Monate nach Portland geführt, eine 650.000-Einwohner-Stadt in Oregon an der US-Westküste. Über Morde, Explosionen und Schießereien habe ich in der Zeitung The Oregonian berichtet, in meinem Tagebuch über fassungsloses Staunen, abenteuerliche Begegnungen – alles sehr dicht, schnappatmend getaktet.

Das Land, in dem Donald Trump Präsident sein konnte, das mehr Feuerwaffen als Menschen beherbergt, Hühnchen-Flügel aus Bottichen saugt, sobald ein Football fliegt. Hollywood, Rocky Mountains und Lady Gaga teilen sich das Land. Die USA können ins Weltall fliegen, haben erfolgreich gegen Hitler und desaströs im Irak gekämpft. Vor meiner Reise waren die USA für mich wie Britney Spears: zu intime Informationen dafür, dass wir uns nie begegnet sind. Es wurde Zeit für eine Reise.

Ich landete in Portland, wo Pflanzen-Meere, Schaukelstühle und Lampions Veranden bunter Holzhäuser mit Schnörkelsäulen zieren, Jamsessions und kostenlose Konzerte durch Sommernächte schallen. Regenbogen zieren Flaggen häufiger als Sterne und Streifen, Mini-Brauereien und vegane Taco-Läden malen ein idyllisches Hippie-Bild. Menschen, die nicht männlich, weiblich oder heterosexuell sind, können sich beinahe selbstverständlich zeigen. Die Person mit Bart, Karo-Rock und Lidstrich kann in Tankstellen abkassieren, ohne verstörte Blicke zu ertragen.

© Franziska Klemenz

Wald, Wasserfälle und weite Strände rahmen Szenen, in denen Edward als „Twilight“-Vampir funkelte. „Keep Portland weird“, fordert die Stadt. Bewahrt Portlands Seltsamkeit. „Dispensaries“, Marihuana-Fachläden, haben sich manifestiert wie Spätshops in Berlin. Wer ungern raucht, kaut Pfirsichringe, Schokolade oder saure Würmer voll mit THC.

Freiheit, darauf einigten sich einige vor vielen Jahren, ist das radikale Mantra der USA. Ein Mantra, das sich so leicht missbrauchen, das so viel hoffen lässt. Daraus resultiert viel Schillerndes und viel Grausames.

Brenda sagt, sie habe als Kind nach einem Autounfall einen Hirnschaden erlitten. „Es ist hart für mich zu lesen oder zu schreiben.“ Ihre vier Kinder leben bei Brendas Mutter. Die lehne Kontakt ab. Brenda zieht ihr Top nach unten. Gigi, Lizzy, Sofia und Bella prangen in Schnörkelschrift auf ihrem Dekolleté. „Meine Babys.“ Bald soll Bucks Name dazukommen.

Das Leben der 35-Jährigen spielt nicht auf bunten Bühnen. Sie und fast alle, die sie kennt, wohnen in Campern, Autos, Zelten. Im äußeren Ost-Portland, einer Gegend mit viel Verfall und viel Verlust, wenig Grün und wenig Geld.

Brenda (35) trauert um ihren Verlobten Buck Marshall, der an der Wand einer Schule von einem Auto zerquetscht wurde.
Brenda (35) trauert um ihren Verlobten Buck Marshall, der an der Wand einer Schule von einem Auto zerquetscht wurde. © Franziska Klemenz

Seit 20 Tagen ist ihr Verlobter Buck Marshall tot. Überwachungsaufnahmen einer Schule im Nachbarort Gresham zeigen, dass der 36-Jährige sich am Abend des 3. August erst unterhalten, dann gestritten hat, es ging wohl um ein Messer. Marshall soll auf sein Fahrrad gesprungen sein. Mit seinem Minivan im Rückwärtsgang presste der Widersacher ihn gegen eine Wand.

Eine Freundin hat Brenda zur Leichenhalle gefahren. Löcher klaffen in der Frontscheibe des weißen Pontiac. Paketband hält die Heckscheibe zusammen. Brenda presst ein Taschentuch in ihrer Hand zusammen, als sie Bucks Gesicht mustert. Per Video ist seine Mutter dabei.

Freiheit bedeutet in den USA auch offene Gewalt. 2021 gab es in Portland 92 Morde. Die meisten sterben durch Pistolen und Gewehre. 673 Schießereien erfasste Portlands Polizei 2022 in den ersten sechs Monaten. Gut 40.000 Opfer forderten Feuerwaffen vergangenes Jahr in den USA durch Suizid und Mord. Waffenbesitzer argumentieren mit Freiheit und der Notwendigkeit, sich zu beschützen. „Ich würde nie die Republikaner wählen, aber stimme mit den Waffen-Vorstellungen der Demokraten überhaupt nicht überein“, sagte mir ein Kollege. Er wolle sich nie eine Pistole zulegen. „Aber im Ernstfall müssen wir uns gegen die Regierung verteidigen können.“

© Franziska Klemenz

Eine Haltung, die aus der Zeit der Unabhängigkeitsgefechte stammt und mindestens so fest an der Verfassung haftet wie das Grundgesetz an Deutschland.

Die Vereinigten Staaten sind ein Ort der Extreme. Auch Portland wandelt zwischen Elendsmilieu und Sehnsuchtsort. Viele flüchten vor hohen Kosten aus Kalifornien und drängen Geringverdiener aus den Wohnungen. Multnomah County, dem Portland angehört, hat gezählt, dass in der Stadt zuletzt mehr als 5.200 Menschen wohnungslos waren. Schicksalsschläge, psychische Krankheiten und Suchtprobleme vermengen sich zu einem Knäuel der Ausweglosigkeit. Was Ursache, was Folge war, verwässert. Wohnungslose und Wohnhafte teilen sich Straßen und Parks.

Neben Bars mit Bier für 7,50 Euro: Zerrissene Stühle, Essensreste und Planen umringen eine Frau wie eine Festung. Karten mit Runen hat sie auf dem Bordstein ausgelegt. Wie einen Wall, der sie umringt. Sie brüllt. Passierende bemühen sich, an ihr vorbeizusehen.

Lichtkompositionen haben mich oft fasziniert starren lassen. Einfachste Bars malen Bilder wie in Filmen.
Lichtkompositionen haben mich oft fasziniert starren lassen. Einfachste Bars malen Bilder wie in Filmen. © Franziska Klemenz

Im Bus bilden sich häufig Grüppchen. Um Menschen, deren Pupillen in rot gefaserten Augen schwimmen. Ein Mann, er zittert. Schrammen kreuzen sich auf seinem nackten Oberkörper, Decken schlingen sich um seinen Rücken. Vier ausgefranste Zahnbürsten hängen aus seiner Hosentasche.

Auf der Straße landen Menschen in den Vereinigten Staaten schneller als in Deutschland, vergleichbare Sicherungssysteme gibt es nicht. Job weg, keine Miete bezahlt – zack, raus. In amerikanischen Unterkünften lebten neuesten Zählungen nach mit 178.000 Wohnungslosen zwar kaum doppelt so viele Menschen wie in Deutschland, der Anteil ohne Unterschlupf dürfte aber weit größer sein. Das County Los Angeles etwa berichtete im November, dass von 69.144 Wohnungslosen im County 48.548 Menschen keine Unterkunft hatten. Das sind gut 70 Prozent.

Zelte und Planen bedecken in Städten wie Portland ganze Straßen. Tausende Menschen können sich keine Wohnung leisten.
Zelte und Planen bedecken in Städten wie Portland ganze Straßen. Tausende Menschen können sich keine Wohnung leisten. © Franziska Klemenz

Wagenburgen aus Planen, Einkaufswagen, Schrott säumen Westküsten-Straßen, in San Francisco wie in Portland ziehen Menschen öffentlich sorbetfarbene Pulverbahnen in ihre Nasen oder versenken Spritzen in ihren Armen. Die Polizei ist mit Härterem befasst, illegale Drogen zu konsumieren, gilt weitgehend als entkriminalisiert. Mehr als 100.000 Menschen sind dem National Center for Health Statistics zufolge in den USA innerhalb eines Jahres an Überdosen gestorben – die meisten an dem Schmerzmittel Fentanyl, das bis zu 50 mal so stark ist wie Heroin.

In „Born in the USA“ sang Bruce Springsteen 1984: „Du endest als geprügelter Hund, der sein halbes Leben damit verbringt, Wunden zu verdecken.“ Der Vietnamkrieg, vor dessen Hintergrund der Text entstanden ist, war seit drei Jahrzehnten vorbei, als Sängerin Pink sich mit „Dear Mr. President“ an George W. Busch wandte. Der führte Krieg gegen den Irak, im eigenen Land lag die Armutsrate mit 12,3 Prozent fast auf dem Niveau von 1984. „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie all die Obdachlosen auf den Straßen sehen?“, fragt sie. „Wie träumen Sie, wenn eine Mutter keine Chance hat, sich zu verabschieden?“

© Franziska Klemenz

Auch 2021 lebten dem U.S. Census Bureau zufolge 11,6 Prozent unter der Armutsgrenze. 37,9 Millionen Menschen. Zahlen bestätigen, was ich erlebe. Menschen, die sich von Check zu Check hangeln, abwägen, ob es heute Dosenbier oder Dinner gibt.

Dabei gehören die USA zu den reichsten Nationen. Das Forbes-Magazin kürt jährlich die reichsten Menschen der Welt. 2021 waren acht von zehn US-Amerikaner. 2022 waren sieben der zehn Reichsten weiße Männer aus den USA. Weiße waren im Land zuletzt zu gut acht Prozent von Armut betroffen, Schwarze zu fast 20, Indigene zu 27 Prozent.

Die Südstaaten sind besonders bekannt für ihre finstere Geschichte. Nirgends haben Weiße so viele Schwarze gelyncht wie in Mississippi. Die weißeste US-Großstadt der Gegenwart liegt gleichwohl im Westen: Portland. Oregon, der Bundesstaat, dessen größte Stadt Portland ist, hat Schwarzen einst verboten, den Staat zu betreten. In keinem Bundesstaat hatte der rechtsextreme Ku-Klux-Klan während der 1920er-Jahre so viele Mitglieder pro Einwohner wie in Oregon. Portland gilt als progressives Paradies. Der Anteil Schwarzer dort beträgt heute sechs Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, arm zu leben, ist für sie am größten, gefolgt von Indigenen und Hispanos. Weiße Haushalte verdienten jährlich zuletzt gut 65.000 Dollar, schwarze weniger als die Hälfte.

„Stop the Killing“, fordern Schilder immer wieder. Ein großer Teil der Menschen in den USA wünscht sich härtere Waffengesetze.
„Stop the Killing“, fordern Schilder immer wieder. Ein großer Teil der Menschen in den USA wünscht sich härtere Waffengesetze. © Franziska Klemenz

Fast die Hälfte der Mordopfer ist schwarz.

Der Mord an Buck Marshall ist in die Statistik der Nachbarstadt Gresham eingegangen. Ein paar Tage bevor Brenda seinen Leichnam sehen darf: 21 Uhr, auf dem Asphalt zwischen Schulwand, Mülltonnen und Bordstein glänzen Pfützen. Eine LED-Lichterkette an einem Baum taucht Pappherzen mit Plastikrosen in ozeanblaues Licht. „Buck Marshall“ steht in Glitzerschrift darauf. Es ist der 18. August, 37 Jahre alt wäre Buck Marshall heute geworden.

In einem leer stehenden Haus lernte Brenda ihren späteren Verlobten kennen. „Wir sind rumgezogen, haben Dosen gesammelt, Leute nach Kram gefragt. Buck stiehlt nichts, er fragt nach allem. Er wusste, wie er für uns sorgt. Er hat immer Müllcontainer durchwühlt, so hat er viel guten Kram gefunden. Klamotten, die er mir gegeben hat, meinen Verlobungsring.“

Wer seine Wohnung verloren hat, zieht oft in Camper.
Wer seine Wohnung verloren hat, zieht oft in Camper. © Franziska Klemenz

In einem Camper haben die beiden gelebt. Brenda zeigt Fotos. Buck, der Crack raucht. Buck, der lacht. „Er war ein guter Mann. Er hat ein wunderschönes verdammtes Lachen.“ Ein knochenfarbener Anstrich überdeckt das Blut auf der Schulwand. Auf der Eisentür bleiben rostrote Spritzer. Brenda lebt jetzt bei Freunden. „Ich kann gerade nicht allein sein.“ Sie lässt sich auf den Bordstein sinken. „Ich hasse es hier. Die Schießereien, die Morde, all die Gewalt.“

Der Freiheitsbegriff der USA führt zu Grenzenlosigkeit. Der Welt-Abfall-Index hat ermittelt, dass der globale Abfall-Durchschnitt pro Kopf 527 Kilogramm im Jahr beträgt. Deutschland liegt mit 632 Kilogramm darüber, gilt aber als dritteffizienteste Abfallwirtschaft der Welt. Den meisten Müll produzieren die USA: 811 Kilogramm pro Kopf im Jahr. In Hotels spucken Automaten Plastikgabeln aus. Ventilatoren und Licht schlafen auch nachts nur selten. Wenn Deutschlands elektrischer Fußabdruck elefantös ist, marschiert mit den USA ein Urzeit-Mammut durch den Lampenladen.

Deutsche verbrauchten pro Kopf zuletzt 6.454 Kilowattstunden Strom im Jahr für persönlichen Konsum, Menschen in den USA 11.757. Klimaanlagen verwandeln Büroräume in Kühlkammern, manche Kollegin wärmt sich mit einer elektrischen Heizdecke auf. Im Sommer. Eis draußen essen? „That’s so european“, sagen viele, schütteln den Kopf und drängen sich in Eisdielen aneinander. „Das ist so europäisch. Ich will mein Eis essen, nicht trinken.“ Abendessen in Washington D.C. – auf dem Balkon speisen? Nur wenn die Klimaanlage brummt, der Insektentöter knistert. Vieles im US-Alltag zielt auf größtmöglichen Komfort. Arme greifen aus Autofenstern in Apotheken, ohne auszusteigen, Brokkoli fällt gern vorgeschnitten aus Plastikbeuteln in Bratpfannen.

© Franziska Klemenz

Wenige haben den Freiheitsbegriff so pervertiert wie Unternehmen. Viele Angestellte starten mit fünf Urlaubstagen pro Jahr. Oft gehen Krankheitstage davon ab. Kündigungen sind problemlos über Nacht erlaubt, Betriebsräte sehr rar. Tech-Industrie und Werbebranche können mangels Datenschutz leicht ins Innere von Konsumentinnen marschieren, sie auslesen.

„Wenn kein Ziel zu weit ist, findest du irgendwo auf dem Weg vielleicht heraus, wer du wirklich bist“, besang James Brown 1995 „Living in America“. Das weite Land malt Grenzenlosigkeit, Blickachsen ragen fast ins Unendliche. Endlose Straßen streifen Seen, die Galaxien spiegeln, ins nächste Universum führen könnten. Kurven queren Bäume so hoch, dass sie vielleicht bis in die Wolken reichen. Küsten spucken Wellen aus ihren Schlünden, als rüttelten versteinerte Krater-Monster den Ozean auf.

In New York City wuseln Menschen aller Welt so selbstverständlich durcheinander, ihr bloßer Anblick verhöhnt großmütig Sorgen über kulturelle Differenzen. Kleinkariert zeigen sich höchstens Gemälde in Museen.

New York City lässt Floskeln plötzlich alternativlos klingen. So viel Licht aus so vielen Winkeln, so viel Weite, Grenzenlosigkeit und Kulturen, die koexistieren: Es wirkt wirklich wie das Tor zur Welt.
New York City lässt Floskeln plötzlich alternativlos klingen. So viel Licht aus so vielen Winkeln, so viel Weite, Grenzenlosigkeit und Kulturen, die koexistieren: Es wirkt wirklich wie das Tor zur Welt. © Franziska Klemenz

San Franciscos Golden Gate oder New Yorks Brooklyn Bridge räkeln sich in mehr Licht aus mehr Winkeln, als irdische Plätze es eigentlich erlauben. Schimmernde Blitze strömen über Brückenpfeiler wie wilde Diamantenketten. Konturen der Skylines leuchten, als gieße der Himmel geschmolzene Planeten über Städte. Simpelste Spelunken wirken wie Werke von Hollywood-Requisiteuren. Funkelnde Sitzbänke, Skulpturen aus Neon-Röhren, Interieurs, die Filmen würdig wären.

Die Weite des Landes verleitet zu Besitz und Dimension. Autos, Kühlschränke, Portionen – alles groß. Besitz als Devise mancher. Viele sind abgehängt. „Girls fragen dich auf Dates, warum dein Auto nicht größer ist“, erzählt mir ein Freund. Die amerikanische Freiheit bedeutet oft auch: Autos. Selbst in Portland, das sich als Hochburg des Umweltschutzes wähnt, glaube ich oft, Gebäude rauschten an mir vorbei. Hochgeliftete Pick-up-Trucks sind Standard, ein kleines Auto mieten: schwierig. „Nur SUV“, heißt es von Vermietungen. Ein „Mittelklasse-SUV“ hat schnell 400 PS und sieben Sitze.

Die Magie des Roadtrips ignoriert die Weltlage und ist doch schwer zu leugnen. Die Grenzenlosigkeit der Landschaft weitet Gedanken und Ideen: Die Menschen scheinen einander scheuloser zu begegnen als in Deutschland. Fremde fragen auf der Straße: „Ist das nicht eine großartige Nacht?“, ohne viel Misstrauen zu erzeugen. Während einige Deutsche die Frage „Wie geht es dir?“ mit „Muss ja“ beantworten, erwidern viele in den USA: „Kann nicht klagen“. Die Wahrheit mag dazwischen liegen.

© Franziska Klemenz

Ich erlebe Kolleginnen und Freunde, die Düsterkeit schlicht überstrahlen, sobald die freie Zeit anbricht. Ich denke an einen Abend im Oktober. An eine 24-Jährige, die seit drei Jahren gegen Krebs ankämpft. An diesem Tag hat sie erfahren, dass ihr wahrscheinlich wenige Jahre bleiben. Sie träumt von einer Familie, Kindern, einer Reise nach Europa. Nächstes Jahr will sie alle Urlaubstage dafür nehmen. Zwei Wochen. Stunden nachdem sie der Diagnose lauschte, flattert sie strahlend in eine Karaokebar. „Ich will leben, solange ich kann“, sagt sie, bevor sie auf die Bühne geht und Lady Gaga singt.

Freiheit kann Offenheit bedeuten. An deutschen Mittagstischen mögen Kollegen Details über Blinddarmdurchbrüche teilen, Depressionen behalten sie für sich, oft genug aus Scham. „Mich ängstigt“, „überfordert“ oder „mich hat geprägt“ kam Menschen meines Umfelds in den USA viel schneller über die Lippen.

© Franziska Klemenz

In Deutschland spotten viele über die Missstände in den USA. Über Hinterwälder, die Waffen genug lieben, um Schulattentate zu akzeptieren. Über eine Mehrheit, die selbst schuld daran ist, dass sie auf Krankenversicherung und Arbeitnehmerrechte verzichten muss – hat sie doch wieder mal dagegen angewählt. Doch dieses Urteil verkennt, dass Geld die Politik gnadenlos bedingt und dass Struktur, Wahlsystem, Gesetzgebung in den USA es fast unmöglich machen, Macht auf mehr als zwei Parteien aufzuteilen. Das wiederum führt dazu, dass es häufig nur zwei einander widersprechende Vorschläge gibt und keine Kompromisse wie im Deutschen Bundestag, in dem sieben Parteien rund 83 Millionen Menschen repräsentieren. In den USA stehen zwei Parteien für 330 Millionen.

Während Deutschland das größte Verbrechen der Geschichte vollbracht und grandiose Niederlagen eingefahren hat und dadurch gezwungen war, sich grundlegend zu ändern, waren die USA nie Verlierer. Sie haben bis heute nur in Ansätzen reflektiert, was ihre Vorfahren Sklavinnen und Sklaven angetan haben. Und sie brauchten immer und brauchen noch den den Rest der Welt weniger als andere Nationen, können sich weitgehend selbst versorgen. Über den Landweg können keine ernst zu nehmenden Feinde anrollen.

© Franziska Klemenz

Ein Land ohne Grenzen.

Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner würden gerne anders leben, sich aus dem Wunder-Apparat abseilen. Sie können schlicht sehr wenig ändern. Ich bewundere Menschen, die trotz wenigen Urlaubs, massiver Gewalt und mangelhafter Krankenversicherungen Freude schöpfen. Und immer weiter hoffen.

„Wir sind heute nicht allein“, sang Joan Baez in „We shall overcome“, einer Hymne der Bürgerrechtsbewegung: „Wir sollen eines Tages in Frieden leben ... Wir sollen eines Tages alle frei sein ... Schwarz und weiß zusammen jetzt, eines Tages.“ Das war 1971.

Eine Frau steckt ihren Kopf zur Tür herein. „Es klingt so hart, aber wir brauchen den Raum bis 14 Uhr zurück“, kündigt sie den Trauernden an. „Es ist das Beste, zur Hölle keine Feinde zu haben“, sagt Brendas Freund, der sie zum Sarg ihres toten Verlobten begleitet hat. „Nichts ist es wert, dein Leben zu verlieren.“ Die meisten gehen. Nur zwei bleiben noch bis zum Schluss. Brenda beugt sich ein letztes Mal zu Buck herunter. Ihre Freundin verabschiedet sich zuletzt. „Du siehst sehr schön aus in der Box, aber es ist Zeit, zu gehen.“