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So wird ein sorbischer Brauch bewahrt

Im Kirchspiel Schleife schenkt das Christkind den Menschen Gottes Segen, Frieden, Glück und Gesundheit.

Von Andreas Kirschke
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In der Adventszeit vor Weihnachten kommt in den Dörfern des Schleifer Kirchspiels das Christkind Boze Dzecetko zu den Einwohnern. Unter anderem besucht es die Kindergärten, die Senioren und die Vereine. In Rohne besuchte das Rohne Christkind dieses Jahr u
In der Adventszeit vor Weihnachten kommt in den Dörfern des Schleifer Kirchspiels das Christkind Boze Dzecetko zu den Einwohnern. Unter anderem besucht es die Kindergärten, die Senioren und die Vereine. In Rohne besuchte das Rohne Christkind dieses Jahr u © Andreas Kirschke

Die Ankunft des Christkindes ist ein ursorbischer Brauch. Bože Dźěćetko (Gottes Kindlein) heißt es in Sorbisch. Im Kirchspiel Schleife bleibt er in den Orten Schleife, Rohne, Mulkwitz, Mühlrose, Trebendorf, Halbendorf und Groß Düben bis heute bewahrt. „Das Christkind schenkt Gottes Segen. Es bringt Frieden, Gesundheit und Glück“, meint Lydia Noack (62). Seit 1985 kleidet sie in ihrem Heimatort Rohne Jahr für Jahr das Dźěćetko und seine beiden Begleiterinnen an. Die ältesten Stücke – Schleifen und Bänder – sind fast 100 Jahre alt.

Heidnischen Ursprungs ist der Brauch. „Die Kirche übernahm ihn. So tief verwurzelt war der Brauch im Volk“, schilderte Dieter Reddo (1942-2020) in Klein-Trebendorf, Mitgründer des Vereins Njepila-Hof in Rohne. Im Winter, so die Überlieferung, trafen sich die Mädchen in den Orten des Kirchspiels jeweils in der Spinnstube. Aus ihrer Mitte wählten sie das Christkind. Es musste ein junges, unverheiratetes, konfirmiertes Mädchen sein. Die Ankleidefrau „Gładźarnica“ legte ihm die Tracht an. Diese entsprach der Grundtracht der ledigen Patin zur Taufe. Die Grundelemente – weiße Schürze, Blaudruckschürze, grüner Rock, Schleifen (sorbisch: šnorki), Bänder (banty) und Halstuch sind in allen Orten des Schleifer Kirchspiels gleich. Variierend ist die Anordnung.“ Mindestens zwei Stunden brauchte früher die Gładźarnica (Ankleidefrau) zum Anziehen des Christkindes. Heute geht es zügiger. Denn Bänder und Kopfputz sind meist vorgearbeitet. Lydia Noack zur Seite stehen beim Ankleiden Inge Muschalek und Gertrud Hermasch im Njepila-Hof. Fünf Mal besucht in der Adventszeit in Rohne das Christkind die Menschen. Auf dem Njepila-Hof erfreute es am 1. Dezember die Vereinsmitglieder und Mitglieder der Domowina-Ortsgruppe. Am 8. Dezember war es im Witaj-Kindergarten „Milenka“ in Trägerschaft der Gemeinde Schleife. Einen Tag darauf kam es zur Senioren-Weihnachtsfeier und in vier Rentner-Haushalte. Am 15. Dezember besuchte es die Mitglieder des Sorbischen Fokloreensembles Schleife zur Weihnachtsfeier auf dem Njepila-Hof, am Sonnabend den Weihnachtsmarkt in Rohne.

Christkind muss unerkannt bleiben

Das Christkind trägt ein Glöckchen und eine umwickelte Rute aus Ginster, Birkenreißig oder Blaubeerkräutig. Die Rute muss jedes Jahr frisch gebunden sein. Zwei Mädchen unverschleiert in winterlicher Tracht begleiten das Christkind. Eines trägt die Laterne und leuchtet den Weg. Die andere Begleiterin trägt den Korb mit Äpfeln, Nüssen und Süßigkeiten. Dem Brauch nach darf das Christkind nicht sprechen. Unerkannt muss es bleiben. „Sonst würde es seinen Zauber verlieren. Das Christkind ist ein heiliges, geheimnisvolles Wesen“, sagt die Rohnerin Edith Penk (86). Viele Jahre hat sie die Tracht des Rohner Christkindes gepflegt. Jedes Trachtenteil wickelte sie sorgsam einzeln ein.

Mit dem Glöckchen kündigt sich das Christkind an. An der Türschwelle und im Haus verneigt es sich mit den beiden Begleiterinnen drei Mal. Sanft streichelt das Christkind dem Erwartungsfrohen drei Mal mit dem Handrücken über die Wange. So schenkt es Gottes reichen Segen. Daraufhin legt das Christkind dem Beschenkten die Rute auf die linke Schulter. Denn dort schlägt das Herz. Frieden, Gesundheit und Glück verheißt diese Geste. „Es ist ein lebensspendendes Zeichen“, sagt Lydia Noack. „Das Christkind ist wie ein Stellvertreter Gottes auf Erden. Durch das Streicheln der Wange und das Auflegen der Rute soll neue Lebenskraft gegeben werden.“

Das Christkind darf die Ortsgrenze nicht überschreiten. Es darf es keinem anderen Christkind begegnen. So überliefert es der Brauch. Lydia Noack wuchs damit auf. Ihre Mutter Lenka Noack pflegte den Brauch. Die Tochter half durch Zureichen und Bügeln der Tracht. Mitte der 1970er Jahre, so erinnert sie sich, war sie selbst einmal Christkind. Mehrfach ging sie als Begleiterin des Dźěćetko mit. „Da war viel Freude, Demut und Ehrfurcht dabei. Das war eine Ehre für mich“, erzählt Lydia Noack.

Viel hat die Sorbin in den 38 (!) Jahren Ankleiden in Rohne erlebt. Mitunter fielen Mädchen durch Krankheit aus. Lydia Noack suchte und fand dann spontan für das Dźěćetko Ersatz. Mitunter lief nur eine Begleiterin mit dem Christkind mit. „Eine Lösung fanden wir immer“, schildert sie. Meist bleiben heute die Mädchen mindestens drei Jahre dabei. Christkind oder Begleiterin zu sein, ist für sie eine Ehre. Doch passt jedes Mädchen in die Tracht hinein? „Da gibt es durchaus Spielraum“, sagt Lydia Noack. „Der Trachtenrock kann geweitet werden. Spielraum gibt es beim Mieder und bei den Hemden.“

Suche nach Christkind schwieriger

Die Suche nach Mädchen für den Brauch ist zunehmend schwieriger. Denn nach der 10. Klasse gehen sie oft aufs Gymnasium, in die Lehre oder in die Berufsfachschule. Dann fehlt oft die Zeit, um sämtliche Termine des Brauchs wahrnehmen zu können. Umso größer ist die Freude, wenn sich neue Mitstreiterinnen finden. „Vor allem die Kinder danken es ihnen“, meint Lydia Noack. „Das Berührendste für mich ist das Strahlen der Kinderaugen – vor allem der Vorschulkinder.“

Mit der jungen Erzieherin Dana Kavelmann im Rohner Kindergarten hofft sie, eine engagierte Mitstreiterin für das Ankleiden zu finden. Ihr gibt sie gern Wissen weiter. Daran liegt auch Edith Penk. Von Ort zu Ort, so verdeutlicht sie, unterscheidet sich das Dźěćetko. Ein besonderes Merkmal für das Schleifer Christkind ist seit 1918 ein auf dem Rücken angestecktes blaues Band. Es stand symbolisch für das Ende des Ersten Weltkrieges und für die Gefallenen. Eben in Schleife wird das Christkind am ersten Advent in der Kirche eingesegnet. Pfarrer Matej Handrik begann 1918 damit. heute tut es Pfarrerin Jadwiga Malinkowa.

Das Christkind mit seinen beiden Begleiterinnen.
Das Christkind mit seinen beiden Begleiterinnen. © Andreas Kirschke

Typisch in Trebendorf sind die über 40 gebundenen Schleifen auf der Schürze, auf dem Ärmel und auf dem Rücken der Tracht. In Klein-Trebendorf trägt das Christkind ein schwarz gesticktes Halstuch und schwarze Strümpfe, in Halbendorf sind die Schleifen besonders angeordnet. Typisch für Groß Düben sind lange Schleifen auf der Schürze, an den Ärmeln und auf dem Rücken sowie die langen bunten Ketten um den Hals, für Mühlrose ist es vorn und hinten eine gedruckte Schürze und ein englisches Halstuch. Am schlichtesten ist die Tracht des Dźěćetko in Mulkwitz. Dort trägt es nur wenige Bänder und kein Tuch. Edith Penk unterstreicht mit Blick auf das Ankleiden: „Je sorgfältiger eine Tracht genäht ist, je liebevoller und gewissenhafter sie gepflegt ist, umso leichter ist das Ankleiden. Das ist wie mit einer Pflanze, wie mit einem kleinen Kind. Liebevoller Umgang ist wichtig.“ Nur so bleibt der Brauch erhalten.