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Le Pen und die Hochburg der Hoffnungslosigkeit

Im französischen Département Aisne liegt die Rechtspopulistin Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen deutlich vor Macron. Dort erinnert manches an Sachsens AfD-Hochburgen.

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Am Sonntag entscheiden die Franzosen in der Stichwahl über den Präsidenten. In Umfragen liegt der liberale Macron vor der rechtspopulistischen Marine LePen.
Am Sonntag entscheiden die Franzosen in der Stichwahl über den Präsidenten. In Umfragen liegt der liberale Macron vor der rechtspopulistischen Marine LePen. © Christophe Ena/AP/dpa

Von Birgit Holzer

Nur ein einziges Wahlplakat hängt etwas verwaist am Parkplatz vor dem Bahnhof von Chauny. Es zeigt eine lachende Marine Le Pen und daneben in weißen Lettern die Aufschrift: "Den Franzosen ihr Land zurückgeben". Das Plakat von Präsident Emmanuel Macron, den Le Pen in der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahl am nächsten Sonntag herausfordert, muss jemand heruntergerissen haben.

Oder es wurde gar nicht erst aufgehängt. Weil es sich in dem knapp 12.000 Einwohner zählenden Städtchen ohnehin nicht lohnen würde, für Macron zu werben? Das Département Aisne, in dem Chauny liegt, gehört zu Le Pens Hochburgen, so wie der gesamte Nordosten des Landes. Die Region ist ländlich geprägt, durchzogen von kleinen Städten und Gemeinden. Handelte es sich einst um ein stark industrialisiertes Gebiet, das historisch in der Hand der Kommunisten war, so erzielen die Rechtsextremen hier seit einigen Jahren Spitzenergebnisse.

In der ersten Runde am 10. April wählten 39 Prozent der Bewohner des Départements Aisne Le Pen, während 22 Prozent für den Mitte-Politiker Macron stimmten. In Chauny bekam die Rechtspopulistin 37 Prozent. Mehr als jeder dritte Wahlberechtigte enthielt sich hier allerdings ganz.

"Sie tut mehr für unsere Kaufkraft"

Er habe kein Problem zu sagen, dass er Le Pen seine Stimme gegeben hat, sagt ein junger Mann mit aufgeschlossenem Lächeln, der unter der Markise eines Geschäfts steht, um sich vor dem Nieselregen zu schützen, und kurz von seinem Handy aufblickt. Als 19-Jähriger hat er zum ersten Mal gewählt. "Ich glaube, dass es uns mit ihr besser gehen wird. Sie tut mehr für unsere Kaufkraft." Warum sie ihn stärker überzeugt als die anderen Kandidaten? Der angehende Immobilienmakler überlegt ein wenig, er sucht nach Worten. "Sie ist für die Franzosen, und Macron ist für alle." Die Aufgabe des Präsidenten sei doch, die Nation zu schützen. Macron gehe es um Europa.

Laut der Erkenntnis der Demoskopen neigen die Bewohner der Städte in Frankreich eher Macron zu und die Menschen im ländlichen Raum Le Pen. Es handele sich um eine "Klassen-Wahl", sagt der Politologe Jérôme Sainte-Marie. "Die Entscheidung für Le Pen ist eng verbunden mit schwachen Immobilienpreisen, das heißt mit der Entfernung von den Metropolen, aber auch den Küsten. Erfolgreich ist sie in ehemaligen industriellen Regionen, wo die Wohnungspreise sinken." Dort, wo Krankenhäuser und Schulen schließen und der Staat sich zurückzieht, hofft man auf die Rechtspopulistin, die sich als Anwältin der "kleinen Leute", der Vergessenen und Abgehängten gibt.

Dass sie selbst in einer Villa in einem Nobel-Vorort von Paris aufgewachsen und selbst sehr wohlhabend ist, stört ihre Wähler nicht, solange Le Pen sich volksnah, gerne auch etwas derb gibt. Sie steht gegen den "Block der Elite", wie Sainte-Marie es ausdrückt. Während Macron überwiegend von Menschen mit guter Ausbildung und höherem Einkommen, besonders von Selbstständigen und auch von Rentnern gewählt wird, hat sie ihre treusten Anhänger unter den einfacheren Arbeitern im niedrigen Lohnbereich und den Arbeitslosen.

Chauny verliert in 20 Jahren sieben Prozent der Einwohner

Davon gibt es viele in Chauny. Mit 12,3 Prozent gehört die Arbeitslosenquote zu den höchsten des Landes. Nach Paris, das mit dem Zug in knapp eineinhalb Stunden zu erreichen ist, pendeln nur wenige. Dass es sich um eine einstmals stolze Industriestadt am Flüsschen Oise handelte, davon zeugen noch immer die stolzen Backsteinbauten in der Innenstadt, die reichhaltig bepflanzt und begrünt ist. Doch etliche Firmen der hier einst so starken Metall- und Chemieindustrie haben in den letzten Jahrzehnten dichtgemacht. Neue siedelten sich kaum an. Gerade jüngeren Menschen bieten sich wenige Perspektiven. Innerhalb von 20 Jahren verlor Chauny sieben Prozent seiner Einwohner.

Zur Mittagszeit ist das Lokal "La Rotonde" am Rathausplatz gut besetzt. In Paris handelt es sich bei "La Rotonde" um ein gehobenes Restaurant, in dem Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte gerne essen. Am Abend der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 feierte er dort seinen vorläufigen Sieg als Erstplatzierter, umgeben von Unternehmern und Persönlichkeiten der Pariser Kulturszene – das wurde ihm damals zum Vorwurf gemacht und war ein Baustein für das Image des abgehobenen "Präsidenten der Reichen", das er bald bekommen sollte.

Das "La Rotonde" in Chauny hingegen ist ein einfacher Tabakladen, in dem Menschen auch Lotto spielen oder einen Espresso an der Bar trinken können, während es sich gleichzeitig um eines der wenigen Restaurants der Stadt handelt. Auf der Menükarte stehen Schweinefilet oder Spaghetti Carbonara für 9,90 Euro, zum Dessert gibt es Obstsalat oder Mousse au Chocolat. Doch Sylvie, Catherine und Georges essen nichts, Catherine und Georges bestellen sich gerade ein zweites Bier, Sylvie noch einen Café au lait. Sie reden über Gott und die Welt, eigentlich ist es vor allem Georges, der redet.

"Zu viele Ausländer, die unsere Jobs für weniger Geld machen"

Die Präsidentschaftswahlen sind eigentlich kein Thema. Ob sie beim ersten Mal abgestimmt haben? Alle drei verziehen das Gesicht und schütteln den Kopf. "Wenn Jean-Marie Le Pen angetreten wäre, dann wäre ich für ihn gewesen", tönt Georges. "Aber seiner Tochter fehlt es an Biss. Es gibt zu viele Ausländer, die unsere Jobs für weniger Geld machen. Schwarz natürlich." Aber er dürfe ohnehin nicht wählen, der Mittfünfziger hebt seine Hose am Knöchel an, eine elektronische Fußfessel wird sichtbar: Er verbüßt eine Strafe, zu der auch der zeitweise Entzug der Bürgerrechte gehört. Was er angestellt hat, mag er nicht sagen.

Sie habe einen leeren Stimmzettel abgegeben, gibt Sylvie zu. Diese werden in Frankreich zwar nicht gezählt, aber sie wollte auf diese Weise signalisieren, dass sie mit keinem Kandidaten und keinem Programm einverstanden ist. "Eigentlich macht es eh keinen Unterschied. Die sind doch alle gleich. Sie versprechen eine Sache, und dann machen sie eine andere. Seit Jahrzehnten geht das so." Was sich ändern müsste, damit sie wieder Vertrauen in die Politiker gewinne? "Man sollte wieder bei null anfangen", meint Sylvie. "Mit neuen Politikern und einem neuen System."

Eine Haltestelle mit dem Regionalzug weiter liegt das Städtchen Tergnier. Hier erhielt Marine Le Pen in der ersten Wahlrunde sogar 43 Prozent. Die Häuser sind flacher, ein riesiges Eisenbahnkreuz verläuft quer durch den Ort. Viele Vitrinen einstiger Geschäfte sind abgedeckt, oft hängt ein Schild davor mit der Aufschrift "Zu verkaufen". Es gibt kaum Cafés oder Restaurants, aber mehrere Döner-Läden.

Nach dem Ergebnis der Präsidentschaftswahl befragt, setzt die junge Verkäuferin der Bäckerei "La Bakery" ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. Eigentlich interessiere sie sich nicht für Politik. Viele im Ort seien unzufrieden, dabei sei die Arbeitslosigkeit hier nicht unbedingt so hoch, weil es keine Jobs gäbe. "In Frankreich bekommt man viel staatliche Unterstützung", sagt sie. "Wenn Sie mehrere Kinder haben, müssen Sie nicht unbedingt arbeiten für ein gutes Einkommen." Dankbarkeit schaffe diese Situation aber trotzdem nicht. Um der hohen Arbeitslosigkeit der jungen Leute in der Region zu begegnen, hat der heutige Bürgermeister Michel Carreau 2006 das "Haus der Arbeit und der Ausbildung" gegründet, um die Betroffenen in Jobs zu vermitteln. Private Unternehmen und öffentliche Träger unterstützen die Initiative gleichermaßen.

Le Pen kann nach aktuellen Umfragen mit rund 45 Prozent rechnen

Das Zentrum liegt in einer Art Wohnsiedlung, die vielen Stühle im Wartezimmer, die seit der Corona-Pandemie mit großem Abstand voneinander stehen, sind an diesem Nachmittag leer. "Unsere Entscheidung ist es, zu handeln, anstatt eine Situation zu erleiden", so formuliert es Bürgermeister Carreau. In einem "komplexen wirtschaftlichen Kontext" sei es umso wichtiger, pragmatisch zu sein. Was er damit andeuten will: Die Jobs fallen nicht vom Himmel. Carreau ist Kommunist, doch klingen seine Worte wie aus Emmanuel Macrons Mund.

Ein Rentner steht mit seinem Fahrrad an einer Baustelle hinter dem Rathaus und sieht den Arbeitern zu. Er habe für Macron gestimmt, sagt er. Viele hier wählten rechtsextrem, aber zum Glück entspreche das Ergebnis von Chauny nicht dem im ganzen Land. Dort lag der Präsident in der ersten Runde mit 27,8 Prozent vor Le Pen mit 23,1 Prozent. "Macron wird durchkommen", sagt der Mann schmunzelnd, so als gelte es in erster Linie, auf den aussichtsreichsten Kandidaten zu setzen, auf der Gewinnerseite zu stehen.

Zwar sagen auch die Umfragen dem amtierenden Präsidenten den Sieg am Sonntag voraus, aber es dürfte deutlich knapper werden als vor fünf Jahren, als er mit 66 Prozent triumphierte. Le Pen kann nach aktuellen Umfragen mit rund 45 Prozent rechnen. "Die hat keine Chance", prophezeit hingegen der Mann. Langsam schiebt er sein Rad weiter durch den verlassen wirkenden Ort.