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Gastbeitrag Sigmar Gabriel: Ein besseres Zusammenleben der Völker ist möglich

Gerade in Krisenzeiten sollten wir so oft wie möglich an zwei Jahrhundert-Dokumente erinnern: die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

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Sigmar Gabriel ist davon überzeugt: Nur das gemeinsame Europa konnte den dritten großen Weltkrieg verhindern. Das gilt auch für die Zukunft.
Sigmar Gabriel ist davon überzeugt: Nur das gemeinsame Europa konnte den dritten großen Weltkrieg verhindern. Das gilt auch für die Zukunft. © dpa/Paul Zinken (Archiv)

Von Sigmar Gabriel

Am 26. Juni 1945 unterschrieben in San Francisco 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen, deren Mitgliedszahl bis heute auf 193 Staaten angewachsen ist. Nur drei Jahre später, am 10. Dezember 1948 folgte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Resolution 217 der UN-Generalversammlung, die mit 48 Ja-Stimmen, keiner Gegenstimme und acht Enthaltungen angenommen wurde. Beide Dokumente zeigen den Willen der damaligen Völkergemeinschaft, Konsequenzen aus den Verwüstungen zweier Weltkriege und dem nationalsozialistischen Völkermord in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ziehen.

In der Präambel der UN-Charta heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen. Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern.“

Alle Völker sollen Grundrecht auf Menschenwürde achten

Die Vorläufer der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte reichen allerdings in der Moderne wesentlich weiter zurück bis zur Virginia Declaration of Rights aus dem Jahr 1776, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung aus dem Jahr 1789 und folgen letztlich den Ideen der europäischen Aufklärung. Danach ist jeder Mensch frei geboren, weshalb seine Würde und Grundrechte weder von einem Staat verliehen noch von ihm entzogen werden können. Sie sind ihm schlicht aufgrund seiner Existenz als Mensch eigen.

Staaten können Menschen ihre allgemeinen Rechte mit Gewalt vorenthalten, aber deshalb verlieren sie nicht ihren Anspruch auf Gültigkeit – unabhängig von Herkunft, Nationalität, Geschlecht, Religion, Einkommen oder Hautfarbe. Diese Menschenrechtserklärung der neu gegründeten Vereinten Nationen erwuchs aus der Überzeugung der UN-Charta, dass alle Völker das Grundrecht auf Würde und gleichen Wert aller menschlichen Persönlichkeiten achten sollen. Beide Dokumente – die UN-Charta wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – sind Jahrhundertdokumente und weltweit einzigartig.

Das Erstarken neuer Nationalismen und neue Rivalitäten

Leider sind wir im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts offenbar wieder in Gefahr, in die schlimmsten Zeiten des 20. Jahrhunderts zurückzufallen. Nicht nur in Europa ist der Krieg zurück. Im Nahen Osten war er nie gänzlich verschwunden. Hunger, Armut, Despotie und Korruption haben in Westafrika einen „Putschgürtel“ von Militärdiktaturen entstehen lassen. Und die Zahl der Staaten wächst, die versuchen, sich in den Besitz von Nuklearwaffen zu bringen. Die Vereinigten Staaten und China sehen sich als systematische Rivalen im Ringen um globalen Einfluss.

Das alles sind alarmierende Anzeichen dafür, dass die Erinnerung an die Folgen von Krieg und Gewalt, die 1945 zur UN-Charta und 1948 zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt haben, offenbar langsam in Vergessenheit geraten. Wir leben in einer paradoxen Welt: Wo Menschheitsherausforderungen wie der Klimawandel oder die Bekämpfung von Pandemien eigentlich ein Mehr an internationaler Zusammenarbeit erfordern, erstarkt stattdessen neuer Nationalismus und neue Rivalitäten.

Zahl der Kriegstoten ist seit 2012 immer weiter angestiegen

So sind im vergangenen Jahr weltweit mehr Menschen bei Kämpfen ums Leben gekommen als in jedem anderen Jahr seit dem Ende des Kalten Krieges (mit der Ausnahme von 1994, als der Völkermord mit mehr als einer Million Menschen in Ruanda stattfand). Mehr Menschen sind aus ihrer Heimat geflohen oder benötigen lebensrettende Hilfe als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

Während in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren die Zahl der Kriege und die von ihnen verursachten Opfer zurückgingen, sind die Zahl der Toten und die Häufigkeit der Konflikte seit etwa 2012 immer weiter angestiegen. Den Anfang machten die Kriege, die nach dem Scheitern der arabischen Aufstände 2011 ausbrachen. Diese Kriege breiteten sich aus – insbesondere in der Sahelzone.

In den letzten Jahren gab es eine neue Welle größerer Konflikte – in Myanmar, Berg-Karabach, Äthiopien, Sudan und im Osten der Demokratischen Republik Kongo sowie natürlich Russlands Generalangriff auf die Ukraine und nun erneut im Nahen Osten. Durch diese Kriege werden nicht nur mehr Menschen getötet. Sie dauern auch länger, nach manchen Schätzungen im Durchschnitt doppelt so lange wie noch vor einigen Jahrzehnten.

Friedensbemühungen gehen immer häufiger ins Leere

Was uns besonders besorgt machen sollte, ist die Tatsache, dass auf vielen Kriegsschauplätzen existierende Friedensbemühungen immer häufiger ins Leere gehen. In der Sahelzone hat der jahrzehntelange Kampf gegen Al-Qaida und ISIS-nahe Kämpfer zu einer Flut von Putschen geführt. Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Die Tatsache, dass die Realität der Idee der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte so offensichtlich widerspricht, macht diese Menschheitsdokumente nicht weniger bedeutend.

Im Gegenteil: sie verweisen uns darauf, dass ein anderes, ein besseres Zusammenleben der Völker möglich und auch notwendig ist. Und wer angesichts dieser Düsternis nach einem leuchtenden Beispiel dafür sucht, dass dieses andere und bessere Zusammenleben von Völkern und Nationen möglich ist, der findet es direkt vor unserer Haustür.

Die ausgestreckten Hände unserer ehemaligen Gegner

Denn nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg luden Franzosen, Italiener, Niederländer, Luxemburger und Belgier ausgerechnet uns Deutsche ein, das zu schaffen, was wir heute die Europäische Union nennen. Dabei waren wir Deutsche eben noch brandschatzend und mordend durch unsere Nachbarländer gezogen und hatten Furchtbares angerichtet. Ganz gewiss war die Idee in den Bevölkerungen unserer europäischen Nachbarn nicht besonders populär, aber mutige und weitsichtige Politiker wie Robert Schumann aus Frankreich oder Alcide De Gasperi aus Italien wussten, dass nur dieses gemeinsame Europa den dritten großen Krieg verhindern würde.

Und es gelang, in weniger als einer Generation von erbitterter Feindschaft zu Partnerschaft und Freundschaft unter Europas Nationen zu kommen. Nicht einmal ein Menschenleben wurde benötigt, um von Auschwitz nach Straßburg und Brüssel zu kommen. Es ist bis heute das beeindruckendste Beispiel dafür, was aus den Ideen der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entstehen kann.

Unser Gastautor Sigmar Gabriel (64) war von 2009 bis 2017 Bundesvorsitzender der SPD und von Dezember 2013 bis März 2018 Vizekanzler. Er arbeitet als Berater und Publizist. Sein Beitrag ist zuerst erschienen im Politischen Adventskalender des Sächsischen SPD-Landtagsabgeordneten Frank Richter.