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Geschwächtes Israel, gestärkter Iran?: Wie der Hamas-Angriff den Nahen Osten verändern könnte

Der Überfall der Hamas lässt Israel hilflos wirken. Werden sich die Kräfteverhältnisse und damit das Machtgefüge in der Region verändern? Experten analysieren die Lage.

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Israelische Polizisten stehen vor einer zerstörten Polizeistation.
Israelische Polizisten stehen vor einer zerstörten Polizeistation. © Ohad Zwigenberg/AP/dpa

Von Christian Böhme und Thomas Seibert

Israels 11. September. Israels Pearl Harbor. Israels Trauma. Nach dem überraschenden Überfall der islamistischen Hamas mit massivem Raketenbeschuss, mordenden Terroristen und brutalen Geiselnahmen fragen sich nicht nur die Bürgerinnen und Bürger des jüdischen Staats: Wird Israel seine Stellung als politische und militärische Großmacht einbüßen?

Werden sich die Machtverhältnisse im Nahen Osten verändern? Sind die Bemühungen um eine Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt jetzt obsolet? Schon ist von einer möglichen Zeitenwende in der Region die Rede. Experten analysieren, inwieweit das zutreffen könnte und was dagegen spricht.

Droht Israel ein Mehrfrontenkrieg?

Es ist seit Jahren ein Schreckensszenario für Israel: gleichzeitiger Raketenbeschuss von der Hamas im Süden und vom Norden durch die libanesische Hisbollah. Das würde für den jüdischen Staat bedeuten, dass er von zwei Seiten in die Zange genommen werden würde.

Bis zum Angriff der Islamisten aus Gaza am Samstag galt die Hisbollah dabei als wesentlich größere Gefahr. Die vom Iran hochgerüstete Miliz, die mehr einer Armee gleicht, verfügt nach Einschätzung israelischer Sicherheitsdienste über bis zu 120.000 moderner Kurz- und Mittelstreckenraketen. Am Sonntag feuerte die Hisbollah nach eigenen Angaben eine große Zahl von Artilleriegranaten auf Israel ab.

„Die große Frage lautet: Gibt es einen zwischen der libanesischen Hisbollah und der Hamas abgestimmten Plan, um dem jüdischen Staat möglichst viel Schaden zuzufügen? Denn die Logik des Angriffs der Islamisten aus dem Gazastreifen ist vielen nicht klar“, sagt Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Denn allen sei bewusst, dass die Hamas den Überfall auf Israel bitter wird büßen müssen, bis hin zu ihrer vollständigen Vernichtung. „Ein abgestimmtes Vorgehen der beiden Terrorgruppen gilt in Israel auf jeden Fall als eines der schlimmsten Szenarien.“

Dass diese Gefahr mehr denn je besteht, hängt nach Lintls Einschätzung auch mit geostrategischen Veränderungen in der Region zusammen.

„Die von Teheran initiierte ,Achse des Widerstands‘ – ein israelfeindliches Bündnis zwischen Syrien, der Hamas und der Hisbollah – ist wiederbelebt worden“, sagt der Nahostfachmann. „Nicht zuletzt, weil Syriens Herrscher Baschar al Assad in der arabischen Welt wieder wohlgelitten ist.“

Beim Aufstand gegen den Diktator hätten Hamas und der Iran auf unterschiedlichen Seiten gestanden. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr, zwischen beiden besteht wieder großes Einvernehmen, vor allem im Widerstand gegen den jüdischen Staat.“

Welche Rolle spielt der Iran?

Sicherlich spiele „Teheran eine koordinierende und beratende Rolle. Zudem unterstützt die iranische Führung sowohl Hamas als auch Hisbollah mit Waffen und Geld“, sagt Nahost-Experte Lintl.

Der Iran zahlte allein in den vergangenen Jahren mindestens 70 Millionen Dollar für das Raketenprogramm der Islamisten in Gaza. Dass die Hamas eine sunnitische Organisation ist, stört das schiitische Regime in Teheran nicht, weil das gemeinsame Ziel – die Zerstörung Israels – für die Mullahs Priorität hat.

Die Machthaber der Islamischen Republik feiern den Hamas-Angriff deshalb als Erfolg. Tausende Regierungsanhänger bejubelten am Samstagabend ein Feuerwerk auf dem Palästina-Platz der Hauptstadt Teheran.

Alles spricht dafür, dass Irans Führung den Angriffsplan der Hamas kannte und guthieß. Wegen der Komplexität des Angriffs und der monatelangen Vorbereitungen sei es sehr wahrscheinlich, dass die Islamisten aus dem Gazastreifen Teheran konsultiert haben, sagt Iran-Experte und Autor Arash Azizi.

Auch Mitteilungen des iranischen Revolutionsführers Ali Chamenei auf Twitter deuteten an, dass die Führung in Teheran in die Angriffspläne eingeweiht war: „Das zionistische Regime stirbt“, schrieb Chamenei am 3. Oktober und wiederholte den Satz einen Tag später.

Irans Regime fühlt sich stark. Es konnte die Protestbewegung des vergangenen Jahres niederschlagen und mithilfe Chinas seinen Dauerkonflikt mit Saudi-Arabien entschärfen. Zudem profitiert Teheran von einer Art Stillhalteabkommen mit den USA.

Für Irans Obersten Revolutionsführer Ali Chamenei ist Israel der größte Feind.
Für Irans Obersten Revolutionsführer Ali Chamenei ist Israel der größte Feind. © Iranian Supreme Leader's Office/Zuma Press/dpa

Der Iran begrenzt seit einigen Monaten seine Urananreicherung, während Washington im Gegenzug darauf verzichtet, Wirtschaftssanktionen gegen Teheran energisch durchzusetzen. Deshalb kann die Islamische Republik seine Ölexporte steigern, was Geld in die Staatskasse bringt.

Was bedeutet der neue Gaza-Krieg für die israelisch-saudische Annäherung?

Die USA streben ein Abkommen zwischen der arabischen Führungsmacht Saudi-Arabien und dem jüdischen Staat an; Kronprinz Mohammed bin Salman sagte kürzlich, sein Land und Israel kämen sich jeden Tag ein Stück näher. Die Hamas-Führung kritisierte die Friedensschlüsse zwischen Israel und arabischen Staaten – ganz im Sinne Irans.

„Die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel ist aus Sicht der Machthaber in Teheran eine Bedrohung, weil es ein strategisches Bündnis wäre, das sich eindeutig gegen den Iran richtet“, sagt Lintl. Die Botschaft der Hamas an die arabischen Staaten laute deshalb: „Haltet euch von Israel fern“, analysiert Nahost-Experte Azizi.

Zumindest vorerst dürfte der Hamas-Angriff die israelisch-saudische Annäherung tatsächlich gestoppt haben. Denn die saudische Führung muss die anti-israelische Stimmung in ihrem Land berücksichtigen.

Für Thronfolger bin Salman war der Palästina-Konflikt zwar bisher nicht so wichtig. Die Palästinenser sollten sich mit Israel einigen „oder den Mund halten“, sagte er einmal.

Ihm geht es vor allem um regionale Stabilität, die er für sein wirtschaftspolitisches Reformprogramm braucht; Frieden mit Israel gehört dazu. Seit Samstag ist jedoch klar, dass sich die Palästinenser-Frage bei der saudisch-israelischen Annäherung nicht ausblenden lässt.