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Wenn keiner mehr der Toten gedenkt

Jedes Jahr treffen sich Leute im und um den Raschützwald und erinnern an die Kriegstoten. Doch wie lange noch?

Von Jörg Richter
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Max Böhm aus Brockwitz engagiert sich seit Jahrzehnten bei den Gedenkveranstaltungen an Soldatengräbern im und am Raschützwald. Auch am Freitag und Sonnabend ist es wieder soweit.
Max Böhm aus Brockwitz engagiert sich seit Jahrzehnten bei den Gedenkveranstaltungen an Soldatengräbern im und am Raschützwald. Auch am Freitag und Sonnabend ist es wieder soweit. © Anne Hübschmann

Brockwitz. Fünf Leichen wurden in einer Scheune gefunden. Neun leblose Körper rings um Brockwitz herum – auf dem Feld oder im Wald aufgesammelt. Ein Gedenkstein am Rande des Dorfes erinnert an 13 Soldaten und einen Zivilisten, die wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ums Leben kamen. 

Sinnlos. Für die einen waren es Verbrecher, die für die anderen arme Schlucker, die für Hitlers Endsieg kämpften, obwohl er sich bereits per Selbstmord aus der Verantwortung gestohlen hatte.

Max Böhm hält die Erinnerung an diese 14 Männer hoch. Von zwölf sind die Namen in den Gedenkstein eingraviert. Persönlich kennengelernt hat Böhm keinen von ihnen. Denn der ehemalige Bürgermeister von Quersa-Brockwitz wurde erst im Juni 1945 geboren, als endlich Frieden war. 

Da gab es bereits die Grabstätte für die 13 Soldaten und den einen Brockwitzer, der sich selbst aus Angst vor den Russen das Leben genommen haben soll. So wurde es später Max Böhm, der aus Brieske stammt und 1975 aus Liebe zu seiner Frau Marianne nach Brockwitz gezogen ist, berichtet.

1952 sollte die Grabstelle auf Anordnung der SED-Mächtigen verschwinden. Das Gedenken an deutsche Soldaten passte nicht ins antifaschistische Weltbild. „Doch die Brockwitzer haben es verhindert“, erinnert sich Böhm, der zu DDR-Zeiten selbst SED-Mitglied war, aber nicht immer machte, was man von ihm erwartete. 

Als er 1984 Bürgermeister in Quersa wurde, sollte er sämtliche Unterlagen zu der Grabstätte, zu den Toten und zu der Anweisung von 1952 vernichten. „Aber ich habe mir die Unterlagen geschnappt und zur Seite geschafft“, erzählt Böhm. 

„Heute bin ich froh, dass ich sie aufbewahrt habe.“ Denn sie sind ein Teil seiner Brockwitzer Ortschronik geworden, an der er seit seinem Karriereende als Bürgermeister schreibt. Das war 1996.

Fünf Jahre zuvor gab es die erste offizielle Gedenkveranstaltung an diesem Soldatengrab. Initiiert wurde sie von Herbert Kübler. Der Tierarzt aus Ulm war im Mai 1945 Kompanieführer in der Gegend und verweigerte einen Befehl, um das Leben seiner Soldaten zu bewahren. Er sollte mit seiner Einheit auf Blochwitz vorstoßen. Das hätte die Kämpfe rund um den Raschützwald um ein paar Tage verlängert, aber niemanden gerettet.

Trotzdem plagten Kübler nach dem Krieg Schuldgefühle, die Soldaten in Brockwitz im Stich gelassen zu haben. Er gründete einen Kameradschaftsbund e. V. und suchte bereits seit 1980 über den damaligen hiesigen Pfarrer Müller Kontakt in die Region. Kübler kam regelmäßig in die DDR und lernte hier auch die Brockwitzerin Brigitte Schuster kennen, die die Grabstelle pflegte.

Heute kümmert sich der Bauhof Lampertswalde darum, dass die Hecke an der Grabstelle ordentlich geschnitten ist und nichts zuwuchert. Der Heimatverein „1912“ für Ortrand und Umgebung e. V., dessen stellvertretender Vorsitzender Max Böhm ist, richtet zusammen mit dem Arbeitskreis Sächsische Militärgeschichte e. V. jedes Jahr eine zweitägige Gedenkveranstaltung aus, bei der mehrere Soldatengräber im und um den Raschützwald besucht werden. Am heutigen Freitag und am Sonnabend bereits zum 29. Mal.

Herbert Kübler ist schon lange nicht mehr dabei. Er starb im August 1997. „Von den Soldaten, die hier gekämpft haben, leben aber noch welche“, sagt Böhm. Früher trafen sie sich jedes Jahr hier. 

Doch mittlerweile sind sie 85 bis 90 Jahre alt und können aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zu den Gedenkfeiern nach Brockwitz, Oelsnitz, Blochwitz und auf den Hahnenberg bei Großkmehlen kommen.

Böhm macht sich Sorgen, was aus dieser Veranstaltung, die vor allem eine Erinnerung an die Toten im Zweiten Weltkrieg sein soll, werden soll. „Eines Tages, wenn es keine jüngeren Leute übernehmen, wird es zu Ende sein mit den Gedenkfeiern“, sagt der 73-Jährige und fügt hinzu: „So lange ich es kann, mache ich es noch.“ Zwar gebe es den einen oder anderen jungen Mann, der sich für Heimatgeschichte interessiert. Aber es sei auch schon vorgekommen, dass Besucher mit offensichtlich brauner Gesinnung zu dieser Veranstaltung erschienen.

Von diesen Leuten distanziere sich aber der Heimatverein. Der Nationalsozialismus und die Wehrmacht sollen nicht verherrlicht werden.

Sonnabend: 10 Uhr Gedenken am Grabstein im Raschützwald an der Straße Weißig-Brockwitz, 10.45 Uhr Gedenken am Straßengrab bei Brockwitz, 11.15 Uhr Gedenken auf dem Friedhof Blochwitz, 15 Uhr Gedenken am Waldgrab Hahnenberg.