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„Wichtig ist nur, dass sie lebt“

Lina kam tot zur Welt, die Ärzte retteten ihr Leben. Das schwerbehinderte Kind verlangt den Eltern viel ab.

Von Olaf Kittel
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Anne Hartmann und Thomas Rödel mit ihrer Tochter Lina. Den Drachen hat sie selbst gebastelt. Na ja, ein bisschen.
Anne Hartmann und Thomas Rödel mit ihrer Tochter Lina. Den Drachen hat sie selbst gebastelt. Na ja, ein bisschen. © Ronald Bonß

Anne Hartmann nimmt ihre Tochter wie ein Kleinkind auf den Schoß, wenn Lina eine Mahlzeit bekommt. Sie greift dann zu einer Ernährungspumpe, die wie eine übergroße Spritze aussieht und schließt sie an eine Magensonde an. Dann drückt sie ganz sanft nach und nach die „normkalorische Sondernahrung“, die Äpfel und Mangos enthält, über die Sonde in den Magen. Eine Stunde dauert das, dann spürt Frau Hartmann, dass Lina satt ist, nichts mehr will und müde wird. Manchmal schläft sie dann gleich ein. Dann löscht sie das Licht und hält ihre Tochter noch lange im Arm. Zwei bis zweieinhalb Stunden später wiederholt sich die Prozedur, von morgens bis abends.

Lina ist jetzt sieben Jahre alt. Sie kann nicht sitzen, stehen, laufen. Sie kann nicht sprechen. Sie kann nicht auf die Toilette. Meistens liegt sie, sie kann sich jetzt gerade einmal allein auf den Bauch drehen, schafft es dann aber nicht wieder zurück. Lina ist zu 100 Prozent behindert, Pflegestufe 5.

Die Eltern Anne Hartmann und Thomas Rödel, beide 35, sind in Heidenau erst in eine praktische Erdgeschoss-Wohnung umgezogen, Lina bekam das größte und schönste Zimmer. Mit einem Hochbett, dass die Betreuung im Stehen erleichtert und einer gemütlichen Sofaecke. Hier erhält das Kind nicht nur die Nahrung. Hier lesen Mama und Papa aus Kinderbüchern vor oder legen eine CD ein. Manchmal reagiert Lina mit einem Lächeln, sie mag die Stimmen, vielleicht erkennt sie auch das eine oder andere Kinderlied. Die Eltern wissen es nicht genau. Sie freuen sich über jede Reaktion, über jeden Fortschritt. An der Wand hängt noch der Adventskalender, 24 Säckchen mit Geschenken für ihre Tochter, Spielzeug oder Bekleidung waren drin. Schokolade geht ja nicht.

Viel zu lernen

Lina kam an 27. Mai 2011 sieben Wochen vor dem errechneten Geburtstermin per Notkaiserschnitt zur Welt. Der Mutterkuchen hatte sich gelöst, Anne Hartmann verlor viel Blut, die Nabelschnur war abgerissen. Lina galt bereits als tot. Die Ärzte taten dennoch alles, um das Baby zu retten. Es wurde beatmet, es bekam Medikamente. Nach zehn Minuten zeigten sich erste zarte Lebenszeichen. Sieben Wochen kämpften die Ärzte und Schwestern auf der Intensivstation. Dann war klar: Lina wird leben. Sie wird aber schwer behindert sein. Die Eltern atmeten trotzdem auf. „Es war nur wichtig, dass sie lebt.“ Anne Hartmann hatte im Jahr zuvor bereits ein Kind tot geboren.

Nach der Intensivstation konnte sie endlich bei ihrer Tochter sein, es ging gemeinsam für 13 Wochen in die Klinik nach Kreischa. Lina wurde zwar künstlich ernährt, konnte nun aber selbst atmen, erste Spaziergänge an der frischen Luft wurden möglich. Anne Hartmann hatte viel zu lernen: Ernährung, Pflege, Schleim absaugen, alle möglichen Notfalloptionen. Im Herbst konnten sie dann nach Hause, mit diversen Überwachungsinstrumenten für den Herzschlag und einem Sauerstoffgerät, wenn die Luft nicht reichte.

Seit diesem Tag ist das Leben des Paares ein anderes. Die beiden Physiotherapeuten arbeiten nun halbtags, einer geht vormittags, der andere nachmittags. So ist immer jemand für Lina daheim. Gemeinsam auszugehen ist kaum noch möglich. Die meisten Verwandten und Freunde trauen sich Linas Betreuung nicht zu. Zu aufwendig, zu riskant.

Anne Hartmann und Thomas Rödel gehen mit der Dauerbelastung routiniert und erstaunlich entspannt um. Allerdings haben sie professionelle Helfer. Einmal im Monat besucht sie eine Ernährungsschwester, vor allem aber steht von Montag bis Freitag 7 bis 15 Uhr ein Pflegedienst zur Verfügung. Er begleitet Lina tagsüber, seit Herbst ist sie ein Schulkind.

Tasten, hören, sehen, fühlen

Die „Schule am Burkersdorfer Weg“, eine Einrichtung der evangelischen Behindertenhilfe Dresden, ist auf Kinder wie Lina eingestellt. Sie sollen dort nicht lernen im herkömmlichen Sinne, dies ist unmöglich. Sie sollen tasten, hören, sehen, fühlen. Dazu steht ein speziell ausgebildeter Pädagoge für jeweils drei oder vier Kinder zur Verfügung, jedes Kind hat einen eigenen Pfleger dabei. So wird ein regulärer Stundenplan möglich. Beim Zeichenunterricht färbten die Kinder einen Drachen, indem die Pfleger ihren Schützlingen einen Schwamm mit Farbe in die Hand gaben, der dann gemeinsam aufs Papier gedrückt wurde. Lina soll es allerdings eher auf die Hose des Pflegers abgesehen haben. Immerhin: Jetzt hängt der Drachen über ihrem Bett, und sie erkennt ihn wieder. Im Sportunterricht sollen die Kinder erleben, wie sich schnelles und langsames Rollstuhlfahren anfühlt. In Musik bringen sie schon mal ihre Lieblingslieder mit, die Betreuer spielen sie der Gruppe vor. Sogar Schulausflüge sind geplant.

Für die Kommunikation gibt es einen besonderen Clou: Die Eltern sprechen morgens ihre Erlebnisse mit Lina in ein Aufzeichnungsgerät. Dies wird dann in der Schule abgespielt. Nachmittags sprechen die Pädagogen ihre Erlebnisse und Hinweise an die Eltern aufs Band. Lina setzt das Gerät jeweils über einen großen blauen Plasteknopf in Gang. Es macht ihr Spaß.

Nach der Gewöhnung an die Schule wartet die nächste Herausforderung. Die Familie muss für Lina neue Transportmöglichkeiten schaffen. Bisher wird sie in einem Spezialbuggy gefahren, in dem sie angeschnallt werden kann. Aber das Kind wird immer größer und schwerer. Deshalb wird sie bald den ersten Rollstuhl bekommen. Der ist allerdings nur transportierbar, wenn man ihn in ein Auto hineinfahren kann. Also braucht die Familie ein neues Fahrzeug, das groß genug ist und für ihre Zwecke umgebaut werden kann. Ein Renault Traffic soll es sein, die preisgünstigste Variante. Aber mit Umbau kostet das Auto trotzdem noch 29 000 Euro, zu viel für die Familie.

Hilfe von vielen Seiten

Doch Helga Roßberg, eine gute Bekannte und frühere Lehrerin aus Heidenau, hatte die rettende Idee: Sie organisierte eine Hilfsaktion. Sie eröffneten ein Konto und schrieben viele Vereine an. Auf dem Konto liegen unterdessen fast 20 000 Euro, ein Eigenanteil der Familie inklusive. Auch die Stiftung Lichtblick der Sächsischen Zeitung hat 1 500 Euro beigetragen. „Eine große Hilfe“, sagt Thomas Rödel und bedankt sich herzlich bei den Lesern der SZ. Sehr viel leiser fügt er hinzu: „Leider reicht das noch nicht.“ Frau Roßberg und er bemühen sich weiter und würden sich riesig freuen, wenn sie weitere Spender finden könnten, um die fehlenden knapp 10 000 Euro zu sammeln. Auf der Homepage linasweg.de ist ein Spendenkonto angegeben.

In den letzten Wochen freilich geriet die Sammelaktion ein wenig in den Hintergrund, weil sie Stress mit ihrem alten Familienauto hatten. Ein Dieb hatte es gestohlen und versucht, die Airbag-Steuerung auszubauen. Das Auto wurde zwar wiedergefunden, aber leider defekt. Die beiden mussten sich ein Fahrzeug in der Familie ausleihen, denn ohne geht es gar nicht.

Anne Hartmann und Thomas Rödel wünschen sich 2019 neben dem neuen Auto vor allem weitere Fortschritte ihrer Tochter. Wenn sie nur bald anfinge zu krabbeln, sie hoffen schon so lange darauf. Für neue Fortschritte hatten sie bereits eine Delfintherapie versucht, vielleicht bringt sie nun der nächste Familienurlaub weiter, den sie sich inzwischen für ein paar Tage gönnen. Fortschritte sind wichtig, sie dürfen auch ganz klein sein.

Wie es mal wird, wenn Lina erwachsen ist, mögen sie sich dagegen heute noch nicht vorstellen. Sie wissen erst einmal nur, dass sie zwölf Jahre in die Schule gehen wird. Bis dahin müssen sie den Alltag meistern und weiter so gut zusammenhalten. Anne Hartmann ist sicher: Allein schafft es keiner von uns. Thomas Rödel nickt, drückt seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und geht zur Spätschicht. Er wird dann am Morgen wieder Lina windeln, anziehen, eine Stunde lang die Ernährungspumpe ansetzen, das Kind und ihren Pfleger zur Schule fahren. Volles Programm.