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Freital: Als der November verschwand

Vor zehn Jahren ging es rund bei der Sanierung im Döhlener Rathaus. Es begann mit einem Kriminalfall.

Von Jörg Stock
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Blaue Stunde am Döhlener Rathaus: Dank Fördergeld und Handwerksfleiß sieht Freitals Gründungsort heute ziemlich genau so aus, wie vor hundert Jahren.
Blaue Stunde am Döhlener Rathaus: Dank Fördergeld und Handwerksfleiß sieht Freitals Gründungsort heute ziemlich genau so aus, wie vor hundert Jahren. © Egbert Kamprath

Der November ist weg? Es gibt wohl einige, die könnten auf den Schmuddelmonat gut verzichten. Als im September 2010 der November aus dem alten Rathaus von Döhlen geklaut wurde, kam er kurz darauf trotzdem. Nur das gleichnamige Bleiglasfenster des Treppenhauses, das einen knieenden Armbrustschützen zeigt, blieb verschwunden, wie man fürchten musste, für immer.

Die Entführung des gläsernen Jägersmanns gehört zu den zahllosen Geschichten, die der Bau-Ingenieur Eberhard Wätzig vom wohl bedeutendsten Auftrag seiner Karriere erzählen kann. Als die Sanierung des Döhlener Rathauses begann, hatte der Bau beinahe ein volles Jahrhundert auf dem Buckel, davon 16 Jahre Leerstand. Vieles war in Verfall begriffen. Aber wenigstens war es noch da, manchmal, ohne dass man es ahnte. "Es gab viele Überraschungen", sagt er.

Ein Prunkbau für den Bürgermeister

Das Haus ist ein Denkmal, für den Wohlstand der Döhlener, die sich, obwohl nur wenig mehr als 5.000 Köpfe zählend, 1914/15 diesen prunkvollen Bürgermeistersitz bauten. Es ist aber auch ein Denkmal für Freital. Am 1. Oktober 1921 wurde die Stadt im hiesigen Ratssaal aus den Gemeinden Deuben, Döhlen und Potschappel zusammengefügt.

Opulente Kinderstube: Am 1. Oktober 1921 beschloss man im Ratssaal des Döhlener Rathauses die Gründung der Stadt Freital.
Opulente Kinderstube: Am 1. Oktober 1921 beschloss man im Ratssaal des Döhlener Rathauses die Gründung der Stadt Freital. © Egbert Kamprath

Einst war das Rathaus nicht nur Dienstsitz, sondern auch Wohnung des Bürgermeisters. Dass man beides jetzt trennt, findet Uwe Rumberg, seit 2015 Oberbürgermeister von Freital, ganz gut. Sein Arbeitsweg ist trotzdem kurz. Zwei Minuten mit dem Auto, zehn zu Fuß. Er endet im Rathaus von Potschappel, heute das Freitaler Verwaltungszentrum. Kurz nach seiner Wahl ist Rumberg manchmal noch falsch abgebogen, Richtung Döhlen. "Die Macht der Gewohnheit."

"Das Haus ist in guten Händen"

Uwe Rumberg war 15 Jahre Chef der Freitaler Wohnungsgesellschaft WGF. Die letzten drei Jahre stand sein Schreibtisch im Rathaus Döhlen. Frisch saniert war es von der Stadt an den Großvermieter verkauft worden, um dessen Verwaltungssitz zu werden. Rumberg gefällt die Konstellation noch immer. "Das Haus ist in guten Händen."

Eberhard Wätzig leitete die Generalüberholung des Rathauses. Die originale Ausstattung, auch diese Meißner Fliesen, ist größtenteils erhalten geblieben.
Eberhard Wätzig leitete die Generalüberholung des Rathauses. Die originale Ausstattung, auch diese Meißner Fliesen, ist größtenteils erhalten geblieben. © Egbert Kamprath

Wie steht es in Freitals Kinderstube, kurz vor dem 100. Stadtgeburtstag? Der Bauleiter, der Oberbürgermeister und Henryk Eismann, heute Chef der WGF, streifen durch die Flure. Etwa dreißig Angestellte kümmern sich hier täglich um die Belange von circa 6.800 Mietern. "Es ist ein tolles Gebäude", sagt Eismann, "wir haben alle Möglichkeiten."

Diese Möglichkeiten beginnen schon im Tiefgeschoss. Archiv- und Technikräume liegen hier, vor allem aber der Ratskeller. Das urige Gewölbe war einmal eine Gaststätte. Auch heute ist hier eingedeckt, Vorbereitung für den Aufsichtsrat der WGF, der demnächst tagt. Uwe Rumberg kehrt dafür an seinen alten Arbeitsort zurück. Manchmal hat er Lust auf eine wirkliche Zeitreise, sagt er, um zu sehen, welche Ausstrahlung solch ein Raum früher hatte.

So sah der Ratskeller in den 1920ern aus. Erhalten sind heute Teile der Holzvertäfelung und die Bleiglasfenster. Das Gestühl wurde nachgebaut.
So sah der Ratskeller in den 1920ern aus. Erhalten sind heute Teile der Holzvertäfelung und die Bleiglasfenster. Das Gestühl wurde nachgebaut. © Städtische Sammlungen Freital

Als Eberhard Wätzig den Ratskeller erstmals erforschte, war die Ausstrahlung dürftig, vor allem wegen der mit grauer Farbe zugekleisterten Holzvertäfelung. Wer genau hinschaut, sieht noch helle Striemen in den Fasern. Das Holz ist aufgearbeitet worden. Erhalten, was zu erhalten ist, war das Gesetz bei diesem Projekt, das Land und Bund fast vollständig bezahlten, mit rund 2,4 Millionen Euro.

Zwischen Saloon und Fleischerladen

Das heimelige Zwielicht im Ratskeller geht von den farbigen Fensterscheiben aus. Adler mit Schwert, Schlangenkopf. Eine jener Überraschungen. Diese Fenster wurden beim Aufmessen des Hauses in der tiefsten Kelleretage entdeckt. Ausgebaut wohl in den 1980ern haben sie dort überdauert, wenn auch mit verfaulten Rahmen.

Eines der wiedergefundenen Fenster des Ratskellers. Es hatte in einer feuchten Kellerecke überdauert.
Eines der wiedergefundenen Fenster des Ratskellers. Es hatte in einer feuchten Kellerecke überdauert. © Egbert Kamprath

Eine Doppelschwingtür führt in die Eingangshalle im Erdgeschoss. Uwe Rumberg mag sie. Er denkt dabei an Western und Saloon. Die moosgrünen Wandfliesen fand er anfangs schrecklich. Da dachte er an einen Fleischerladen. An die Fliesen hat er sich gewöhnt. Im abgerissenen Seitenflügel waren sie auch verbaut. So gab es genug Ersatz, um Fehlstellen im Haupthaus zu füllen.

Auf der Treppe kommt man am ganzen Jahr vorbei, an zwölf Bleiglasfenstern mit allegorischen Darstellungen der Monate. Auch der Jäger mit seiner Armbrust ist da. Zum Glück gab es Fotos von allen Glasbildern. Kurz nach dem Diebstahl wurde eine Kopie vom geklauten November beauftragt.

Sinnspruch im Treppenhaus. Die Fenster beinhalten Darstellungen der zwölf Monate. Einer, der November, war zwischenzeitlich gestohlen.
Sinnspruch im Treppenhaus. Die Fenster beinhalten Darstellungen der zwölf Monate. Einer, der November, war zwischenzeitlich gestohlen. © Egbert Kamprath

Dass heute das Original im Rahmen steckt, ist wohl vor allem Eberhard Wätzigs Verdienst. Immer wieder stöberte er im Internet bei Ebay nach Bleiglasfenstern in der Hoffnung, der Dieb werde den November verhökern wollen. Und richtig: Etwa fünf Monate nach dem Klau entdeckte er ihn in der Rubrik Antiquitäten und Kunst. "Ich wusste sofort, dass er es ist."

Die Polizei rückte mit einem Durchsuchungsbeschluss bei der angegebenen Adresse an, einem Dresdner Gebrauchtwarenladen. Sie fand den November und beschlagnahmte ihn. So kam das Fenster, Wert etwa 3.000 Euro, an seinen rechtmäßigen Platz zurück. Die WGF hat jetzt zwei davon. Der Ersatznovember war bereits fertig gewesen.

Alter und neuer Hausherr: Uwe Rumberg (r.) arbeitete bis 2015 als WGF-Chef im Döhlener Rathaus. Heute hat Henryk Eismann diesen Posten.
Alter und neuer Hausherr: Uwe Rumberg (r.) arbeitete bis 2015 als WGF-Chef im Döhlener Rathaus. Heute hat Henryk Eismann diesen Posten. © Egbert Kamprath

Zum Allerheiligsten läuft man auf Parkett aus DDR-Zeiten. Warum auch nicht? "Die Eiche ist heute auch nicht besser", sagt Wätzig trocken. Und dann öffnet er sich - der Ratssaal: kastanienbraunes Holz, petrolfarben getünchte Wände, darüber, zwischen halbrunden Nischen, die Galerie für die Zaungäste.

Glückliche Fügungen gibt es auch hier: Ein einziger überlebender Stuhl vom Dachboden genügte den Handwerkern der Stuhlbauerstadt Rabenau zum Nachbau der Sitzmöbel. Das verschollen geglaubte Großgemälde mit dem Blick auf Freital vom Windberg aus wurde in den Städtischen Sammlungen auf Schloss Burgk wiederentdeckt. Der goldene Holzmann mit Schwert, einst Schmuck des Kronleuchters, fand sich im Eigentum des Landkreises und kehrte zurück.

Als das Rathaus im Januar 2012 fertig war, gab es einen Tag der offenen Tür. Tausend Leute kamen gucken. "Wir wurden überrollt", sagt Bauleiter Wätzig. Für Uwe Rumberg ist es der Beweis, dass sich die Freitaler für ihre Geschichte interessieren. Mit der Sanierung des Rathauses sei es gelungen, ein Stück dieser Geschichte für kommende Generationen zu bewahren. Dafür sei man dankbar, sagt er. "Und darauf sind wir stolz."