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Ein kleines Schiff, Weltfrieden - und ungeahnte Leipziger Ansichten

Martin Schulte rettete die MS Weltfrieden vor der Schrottpresse. Seit 1998 bietet er vom Wasser aus Einblicke in Leipziger Architektur- und Industriegeschichte.

Von Michael Rothe
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Ganze 11,80 Meter lang und 2,30 Meter breit ist Martin Schultes "Weltfrieden". Mit dem Schiff fährt er pro Tour 25 Personen auf dem Karl-Heine-Kanal und der Weißen Elster. Leer ist es nur zum Fototermin.
Ganze 11,80 Meter lang und 2,30 Meter breit ist Martin Schultes "Weltfrieden". Mit dem Schiff fährt er pro Tour 25 Personen auf dem Karl-Heine-Kanal und der Weißen Elster. Leer ist es nur zum Fototermin. © kairospress

Fast lautlos gleitet der weiß-rote Kahn zur Anlegestelle am Stelzenhaus, einem Industriedenkmal am Leipziger Karl-Heine-Kanal. An der Bugspitze in zierlicher Schreibschrift, aber passend zur Bootsgröße, der Name: „Weltfrieden“.

Gemeinhin wird ein schwimmfähiges Gefährt bis 20 Meter Länge Boot genannt. Doch trotz der gerade 11,80 mal 2,30 Meter spricht Freizeitkapitän Martin Schulte stolz von seinem „Schiff“. 27 Quadratmeter mit einer Mission – und er mit einer Vision.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Parchimer Werft vom Stapel gelaufen, patrouillierte die damalige „Wiking“ als Küstenwachschiff auf der Ostsee. Ende der 1950er kam der Kahn auf verschlungenen Wegen nach Leipzig, wo er als Ausflugsdampfer über den Auensee tuckerte.

Die "Weltfrieden" kommt fast lautlos daher. Ein 2007 - lange vor der heute propagierten E-Mobilität - eingebauter Elektromotor machts möglich und ist ein Wettbewerbsvorteil in der grünen Idylle.
Die "Weltfrieden" kommt fast lautlos daher. Ein 2007 - lange vor der heute propagierten E-Mobilität - eingebauter Elektromotor machts möglich und ist ein Wettbewerbsvorteil in der grünen Idylle. © kairospress

Zu DDR-Zeiten hießen Schiffe oft „Einheit“, „Freundschaft“ oder eben „Weltfrieden“. Als sie nach der Wende in der Werft Dresden-Laubegast wieder aufgepäppelt wurde, lag neben ihr ein „Junger Pionier“.

Zukunft der "Weltfrieden" war lange ungewiss

Bis dahin war die Zukunft der „Weltfrieden“ ungewiss. Als der Betrieb auf dem Auensee nach der Wende eingestellt wurde, schienen ihre Tage gezählt. „Der Stahlrumpf hatte nicht mehr die geforderte Mindeststärke von drei Millimetern“, erzählt der heutige Besitzer Martin Schulte. Das angerostete Schiff sei dann von der Stadt für 250 D-Mark an ein Brandenburger Ehepaar verkauft worden. Doch die neuen Eigner waren mit der Sanierung überfordert, gaben das Schiff zurück. Auch ein Leipziger Förderverein scheiterte an Reparaturkosten und Betriebsvorschriften.

Dann traten Bauingenieur Schulte und der Jurist und Oltimerfan Erich Liebisch auf den Plan und retteten die Eiserne Lady vor der Verschrottung. Sie kauften die Einzelteile und ließen sie per Tieflader nach Dresden bringen, wo sie für 45.000 D-Mark zusammengesetzt wurden. Pfingsten 1998 war „Weltfrieden“ wieder in Leipzig auf dem Wasser – auf dem Karl-Heine-Kanal.

Am 8. April 1998 war es soweit: Nach der Instandsetzung in der Schiffswerft Dresden-Laubegast wurde die "Weltfrieden" auf dem Karl-Heine-Kanal zu Wasser gelassen. Erich Liebisch (l.), damals Miteigner, und Martin Schulte legen letzte Hand an.
Am 8. April 1998 war es soweit: Nach der Instandsetzung in der Schiffswerft Dresden-Laubegast wurde die "Weltfrieden" auf dem Karl-Heine-Kanal zu Wasser gelassen. Erich Liebisch (l.), damals Miteigner, und Martin Schulte legen letzte Hand an. © dpa PA/ZB/Wolfgang Kluge

Schulte, mittlerweile Einzelkämpfer, gehörte zu den Ersten, die dort Fahrten anboten: unbedarft, aber voller Tatendrang. Nebenberuflich schippert er von April bis Oktober je 25 Leute durch die Kante: fünf Mal am Sonnabend und ebenso oft sonn- und feiertags. Fahrgäste entdecken das einst schmuddelige, nunmehr sanierte und umgestaltete Industriegebiet im Westen der Messestadt neu – und sind begeistert.

Knapp anderthalb Stunden dauert so ein Trip. „Wer glaubt, dass es ihn jetzt in die Lehne drückt, den muss ich enttäuschen“, sagt der 57-Jährige beim Ablegen. Mit 5 km/h geht es vom 1937 erbauten Stelzenhaus, einst Teil eines Wellblech-Walzwerks, gen Westen, vorbei an der Philippuskirche bis zur Gießereistraße, dem ersten Wendepunkt. Theoretisch könnte Schulte noch weiter bis zum Lindenauer Hafen, doch es gibt noch viel zu entdecken – und zu erzählen, auch über Carl Erdmann Heine (1819 – 1888), dem später mit K geschriebenen Namensgeber des Kanals.

Der Traum von Leipzigs Anbindung ans Meer

„Der Gutsherr träumte von einer schiffbaren Verbindung zwischen Elster und Saale, einer Anbindung Leipzigs ans Meer“, erzählt Schulte zum 30.000. Mal. Mindestens so viele Fahrgäste habe er in 25 Jahren schon begrüßt, schätzt er. Heine habe es durch Bodenspekulation zu Reichtum gebracht, der ihm bei der Verwirklichung der Kanalidee helfen sollte. Schulte berichtet von elf Straßen-, drei Eisenbahnbrücken und Schachtarbeiten bis 14 Meter Tiefe – durch Sprengung und per Hand von 500 Arbeitern. „Der Aushub diente der Baulandgewinnung zur Ansiedlung von Fabriken“, sagt er. Ein ausgeklügeltes Projekt.

Nach Heines Tod ging der Kanalbau langsam weiter, doch der Zweite Weltkrieg verhinderte die Vollendung. „Letztlich fehlen sieben Kilometer vom Sperrwerk Günthersdorf bis zur Saale“, sagt Schulte. Endgültig? „Ein 1. Schritt wäre ein Durchstich des 75 Meter breiten Damms zum Saale-Elster-Kanal am Lindenauer Hafen “, sagt er. „Dann könnten die Leipziger ihre Möbel bei Ikea an der A9 mit dem Boot abholen.“

Martin Schulte nennt die von ihm vor der Schrottpresse gerettete "Weltfrieden" stolz "mein Schiff". Um unter der Plagwitzer Brücke durchzukommen, musste er den überdachten Führerstand auf 90 cm einkürzen und fährt seitdem "oben ohne".
Martin Schulte nennt die von ihm vor der Schrottpresse gerettete "Weltfrieden" stolz "mein Schiff". Um unter der Plagwitzer Brücke durchzukommen, musste er den überdachten Führerstand auf 90 cm einkürzen und fährt seitdem "oben ohne". © kairospress

Die „Weltfrieden“ macht weit vor Ende der Sackgasse kehrt. Begleitet vom beschaulichen Fuß- und Radweg, früher Schienentrasse zwischen kleinen Verladestellen und dem Bahnhof Plagwitz, wechseln grüne Idylle und industrielle Zeitzeugen einander ab. „Zu DDR-Zeiten war hier vor lauter Müll und Gestrüpp an Bootfahren nicht zu denken – und heute kann man fast übers Wasser laufen“, sagt Schulte mit Blick auf die vielen Kanus und Ausflugsboote. 2007, lange vor der E-Mobilität, ließ er den Diesel-Zweitakter von Junkers durch einen 48-Volt-Elektromotor ersetzen. Die kluge Entscheidung brachte einen Wettbewerbsvorteil zur wachsenden Konkurrenz.

An der Plagwitzer Brücke: "Achtung, Kopf einziehen!"

Das kleine Schiff nimmt Kurs auf die Weiße Elster und passiert bis zur Mündung in Leipzigs größten Fluss viele einstige Industriegemäuer. Schulte erzählt vom Gummiwerk Elguwa, bekannt für Badekappen und Luftmatratzen, und anderen Betrieben, die vom Bierdeckel über Orgelpfeifen bis zu Panzerketten so ziemlich alles hergestellt hätten. Derweil schleicht die „Weltfrieden“ unterm Riverboat hindurch, wo von 2003 bis 2008 gleichnamige MDR-Talkshow aufgezeichnet wurde. Heute beherbergt das Haus eine Musik- und Tanzschule.

Auf der Weißen Elster dann der imposante Backsteinbau der früheren Buntgarnwerke. Der sanierte, denkmalgeschützte Komplex ist eine gefragte Wohnadresse geworden, teils mit Bootsanleger. Wenig später folgen die herrschaftlichen Villen Karl Heines und des Bildhauers Max Klinger sowie der sanierte Sitz von Mey & Edlich, Deutschlands ältestem Modeversender.

Die Vorbeifahrt am Backsteinbau der früheren Buntgarnwerke ist ein Höhepunkt der Tour. Der sanierte Komplex an der Weißen Elster ist heute eine beliebte Wohnadresse - das Kleingeld vorausgesetzt.
Die Vorbeifahrt am Backsteinbau der früheren Buntgarnwerke ist ein Höhepunkt der Tour. Der sanierte Komplex an der Weißen Elster ist heute eine beliebte Wohnadresse - das Kleingeld vorausgesetzt. © Martin Schulte

An der Plagwitzer Brücke heißt es dann: „Achtung, Kopf einziehen!“. Jetzt wird den Fahrgästen klar, warum Schulte seinen überdachten Führerstand auf 90 cm einkürzen musste. Die Tour führt noch vorbei am Palmengarten bis ins Elsterflutbett – spannende Geschichten inklusive: auch über Sachsenkönig Johann, nach dem eine der vielen Kanalbrücken benannt wurde.

Leipzig hat 479 Brücken - mehr als Venedig

Leipzig zu Wasser, das ist längst kein Geheimtipp mehr. Die Stadt verfügt über ein außergewöhnliches Kanalsystem und angeblich 479 Brücken – mehr als Venedig.

Und wie lange will sich Schulte noch jenen Job antun, der eher mit Idealismus als mit Reichwerden zu tun hat? Das sei zuerst eine Frage, wie lange das Boot durchhält, antwortet der liierte, aber kinderlose Mann. „Es ist wie bei den Brettern, die manchem die Welt bedeuten: Wer einmal darauf steht, kommt nicht mehr los.“ Er denke nur in Zulassungszeiten. Wenn die alle zwei Jahre geprüfte Rumpfdicke unter das geforderte Minimum sinke, werde eine teure Reparatur fällig.

Der Kapitän ehrenhalber bereut nichts, trotz des Verzichts auf Wochenenden und andere Freiheiten. An Aufgeben habe er nie gedacht. Der Einzelkämpfer hofft, dass ihn mal ein ebenso engagierter Verein ablöst. Seine Saison dauert noch bis Mitte Oktober. Dann freut sich der Italienfan, endlich selbst in den Urlaub fahren zu können.

Infos unter www.ms-weltfrieden.de