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„Billiglöhne sind kein Standortvorteil“

Birgit Dietze, die neue Chefin der IG Metall für Sachsen-Berlin-Brandenburg, begründet im Interview, warum auch der Osten die 35-Stunden-Woche braucht.

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Birgit Dietze (47) ist seit Oktober Bezirksleiterin der IG Metall für Sachsen-Berlin-Brandenburg. Die Diplomvolkswirtin und Juristin löste Olivier Höbel ab. Die verheiratete Berlinerin und Mutter eines Jugendlichen ist naturverbunden und wandert gern.
Birgit Dietze (47) ist seit Oktober Bezirksleiterin der IG Metall für Sachsen-Berlin-Brandenburg. Die Diplomvolkswirtin und Juristin löste Olivier Höbel ab. Die verheiratete Berlinerin und Mutter eines Jugendlichen ist naturverbunden und wandert gern. © IG Metall/Volker Wartmann

Frau Dietze, der Auftakt zu Ihrer ersten Tarifrunde für Sachsen liegt hinter Ihnen. Hat die Männerriege auf Arbeitgeberseite die Neue an der IG-Metall-Spitze mit Samthandschuhen angefasst?

Anfassen war schon wegen Corona nicht angesagt. Ich habe mit Prof. Nils Kroemer, Siemens-Werkleiter und Verbandspräsident, sowie VSME-Chef Dr. Andreas Winkler zwei Gegenüber, die die Entwicklung seit der Wende miterlebt haben – inklusive Treuhand und schwieriger Transformation in den 90ern. Ihnen sind aus DDR-Zeiten auch selbstbewusste Frauen nicht fremd, die studiert haben und Vollzeit arbeiten. Ich habe keine Sonderbehandlung gespürt. Das mag tief im Westen vielleicht anders sein, aber wir verhandeln in Sachsen.

Dennoch sind Sie die einzige Frau an der Spitze eines IG-Metall-Bezirks.

Ja, ich bin aber keine Exotin. Schließlich haben wir in den 155 Geschäftsstellen viele weibliche Bevollmächtigte beziehungsweise Geschäftsführerinnen.

Sie waren in Berlin eine davon. Kennen Sie von dort auch Tarifrunden?

Ich bin seit Ende 2012 hauptamtlich in der IG Metall tätig und habe als Tarifsekretärin für Berlin-Brandenburg begonnen, die beiden anderen Gebiete unseres Bezirks. Dort habe ich an der Seite meines Amtsvorgängers Olivier Höbel in der Fläche mitverhandelt, und einzelne Haustarifverhandlungen habe ich mehrfach selbst geleitet. Auch sind mir Verhandlungen als solche nicht fremd, ich bin gelernte Juristin.

Die Runde ging im Norden los, zuletzt stiegen Sachsen und Thüringen ein.

Das ist absolut nicht dramatisch und allein dem Terminkalender geschuldet.

Auch, weil es ohnehin nach „Schema F“ geht und der Osten immer die Ergebnisse von Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Bayern übernimmt?

Dass die Pilotabschlüsse zumeist von dort kommen, ist richtig. Aber wir haben keine Kleinstaaterei, sondern gehen als IG Metall gemeinsam und mit gleichen Forderungen in die Gespräche. Über regionale Besonderheiten tauschen sich die Bezirksleiter und der Vorstand regelmäßig aus, und deshalb wird ein Pilotabschluss auch gemeinsam von allen Regionen getragen.

Also mehr als ein Ritual?

Wir können doch nicht nichts tun und nur das Ergebnis des Westens abschreiben. Die IG Metall ist bundesweit aus einem Guss aufgestellt. Nur nimmt am Ende Einer als Erster die Ausdifferenzierung vor. Den Weg dorthin gestalten wir gemeinsam.

Die Alternative wären zentrale Verhandlungen wie in der Baubranche.

Für die regional differenzierte Metall- und Elektroindustrie sind dezentrale Gespräche besser. Denn es gibt nicht nur regionale Unterschiede, sondern auch Branchen mit speziellen Gegebenheiten: Maschinenbau, Autoindustrie, Elektroanlagenbau, Metallerzeugung, Optik, Elektronik, Bahnindustrie, Luftfahrt und andere mehr.

Es ist immer das Gleiche: Die Gewerkschaft fordert mehr Geld, und empörte Arbeitgeber winken sofort ab. Lohnplus kommt immer zur Unzeit: nach überstandener Not, um das zarte Pflänzchen des Aufschwungs nicht zu zertreten. In Boomzeiten, um die Konjunktur nicht abzuwürgen. Und in der Krise sowieso.

Die Atmosphäre war im ersten Verhandlungstermin sehr konstruktiv. Der Verband hat sich unsere Einschätzung mit großer Offenheit angehört. Wir sind uns zum Strukturwandel sowie zu den Herausforderungen und Besonderheiten in Sachsen weitgehend einig.

Dennoch sehen die Arbeitgeber keinen Verteilungsspielraum – gestützt durch diverse Wirtschaftsforschungsinstitute.

Die Mütter und Väter haben ins Grundgesetz geschrieben, dass die Tarifvertragsparteien die Autonomie haben, die Arbeitsbedingungen zu regeln. Natürlich gibt es eine Auseinandersetzung um das, was es zu verteilen gilt. Vielleicht kann der Reflex naturgemäß gar nicht anders sein.

Die IG Metall fordert vier Prozent mehr Lohn. Womit begründen Sie das?

Das ist eine Volumenforderung, eine Art Dach auf zwei Säulen: Beschäftigungssicherung und Einkommenszuwachs. Wir haben den Strukturwandel durch Digitalisierung, Globalisierung, Klimaregulierung. Die CO₂-Normierung trifft uns besonders hart beim Stahl und in der Autoindustrie. Durch den Strukturwandel kann Beschäftigung unsicher werden, etwa durch Abbauprogramme bei Zulieferern, die am Verbrenner hängen. Dort soll ein Teil des Gesamtvolumens zur Jobsicherung eingesetzt werden.

Und das Lohnplus, die andere Säule?

Betriebe, die unter Volllast durchgelaufen sind, haben bereits Antworten auf die Zukunft. Besondere Nachfrage besteht in der Bahnindustrie, in Teilen des Maschinenbaus, bei Elektroautos. Beschäftigte dort arbeiten wegen voller Auftragsbücher teils am Wochenende. Sie wollen nach der letzten Erhöhung im April 2018 endlich mehr in der Lohntüte haben. Zwischen diesen Polen herrscht ein Spannungsverhältnis. Um beiden gerecht zu werden, haben wir das Dach von vier Prozent darüber gespannt.

Außerdem verlangen Sie die 35-Stundenwoche auch im Osten.

Genauer: ein tarifliches Angleichungsgeld.

Das müssen Sie erklären.

Ich mache das an einem Beispiel aus Berlin: Siemens-Beschäftigte in Spandau (West) und in Treptow (Ost) bekommen das gleiche Monatsentgelt. Jedoch müssen jene im Ostteil der Stadt wie Metaller in ganz Ostdeutschland dafür jede Woche drei Stunden länger arbeiten. Das tarifliche Angleichungsgeld zahlt auf diesen Unterschied ein. Nach über 30 Jahren braucht es eine Angleichung. Die Beschäftigten, vor allem jene im 3-Schicht-Betrieb haben ein Bedürfnis nach Entlastung.

Arbeitgeber werden Probleme sehen.

Es geht, andere Branchen leben es vor. Wir sehen den letzten Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst, wo nicht drei, sondern eine Stunde anzugleichen war: in zwei Schritten bei vollem Lohnausgleich. Die Stahlindustrie hat seit langem die gleiche Arbeitszeit in Ost und West. Auch die Textilindustrie hat es hinbekommen. Bei Nahrung, Genuss, Gaststätten ist es auf der Agenda.

Was macht Sie für Metall optimistisch?

Es besteht Fachkräftemangel. Für Innovationen im Struktur- und Klimawandel braucht es die besten Fachkräfte. Sachsen hat viel Potential, aber seine Bevölkerung schrumpft, und zudem pendeln noch zirka 45.000 Menschen lieber in den Westen – wegen der Löhne und Arbeitsbedingungen. Florierende Ansiedlungspolitik, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung und Innovationen vor Ort sind die Lebensversicherung für gute Jobs in der Zukunft. Außerdem ist es wichtig, gesellschaftlich ein Zeichen für Gerechtigkeit zu setzen.

Sachsen soll bald ein Zentrum für gute Arbeit erhalten. Wie definieren Sie die?

Zu guten Arbeitbedingungen gehören Löhne ohne Angst vor Altersarmut, Gesundheitsschutz, Qualifizierung und Mitsprachemöglichkeiten – sowie Autonomierechte etwa bei Auszeiten, Weiterbildung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Gute Arbeit herrscht bei offener Unternehmenskultur, in der Chefs gemeinsam und fair mit Betriebsräten und Gewerkschaften gute Lösungen finden.

Hat die Corona-Pandemie Ihre Verhandlungsposition geschwächt?

Wir sehen natürlich den Wirtschaftseinbruch durch den Lockdown im Frühjahr. Doch mit der Lockerung im Sommer ging es ebenso steil aufwärts. Und es gibt Hoffnung, dass es so weitergeht. Das sehen Arbeitgeber, Forscher und Bundesbank nicht anders. Nach ihren Prognosen werden wir spätestens Anfang 2022 auf Vorkrisenniveau sein.

Also kein Grund zur Zurückhaltung?

Wir haben die Forderungen mit Augenmaß und verantwortungsvoll gestellt. Forscher setzen auf privaten Konsum als maßgeblichen Treiber der Konjunktur, auch darauf zahlen wir ein. Und schon vor Corona brauchte der Strukturwandel Antworten, er läuft schon länger.

Sachsens Arbeitgeberpräsident Jörg Brückner stellt sich die Angleichung anders herum vor: Der Westen solle zurück zur 38-Stunden-Woche des Ostens.

Attraktive Arbeit ist auch im Lager der Arbeitgeber ein gewichtiges Thema: Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, Altersabsicherung und anderes mehr. Es ist widersinnig, das Rad zurückdrehen zu wollen.

Warum war die IG Metall nach dem gescheiterten Streik so lange in Schockstarre, brauchte sie 16 Jahre, um das Thema wieder aufs Tableau zu holen?

Wir brauchten wohl die Zeit – auch zur Vergewisserung, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir haben eine Umfrage unter bundesweit etwa 250.000 Beschäftigten gemacht, auch zum Stellenwert der Arbeitszeitangleichung im Kanon der Forderungen. Ergebnis: gut 90 Prozent Zustimmung im Osten und selbst 45 Prozent im Westen.

Über allem steht der Bundesverband Gesamtmetall, der 2019 eine Grundsatzvereinbarung für Berlin-Brandenburg ausgebremst hat. Warum sollten die Arbeitgeber sich jetzt einlassen?

Wir haben eine andere Lage. Es geht diesmal nicht um Gespräche zur Arbeitszeitverkürzung außerhalb einer Lohnrunde, sondern um die Angleichung im Rahmen von Tarifgesprächen.

Der Verband Sachsenmetall verkauft die Mehrarbeit als Standortvorteil.

Die Zeiten sind vorbei, da man niedrige Entgelte – und die sind es auf die Stunde umgelegt – als Standortvorteil verkaufen sollte, zumal in Zeiten der Personalnot. Wenn wir uns im Bundesvergleich die Investitionen im verarbeitenden Gewerbe anschauen, liegt trotz des vermeintlichen Vorteils nicht Sachsen vorn, sondern der teure Südwesten. Die Strategie ist dringend zu überdenken.

Was Sie auch abschließen: Es zählt die Tarifbindung. Und dort ist Sachsen mit 15 Prozent der Betriebe und 39 Prozent der Beschäftigten Schlusslicht im Bund.

Diese Frage reiht sich in die Gesamtstrategie ein und ist ebenso zu hinterfragen. Tarifbindung kostet, ist aber auch und vor allem eine Investition in die Zukunft. Dazu sollten wir nach der Tarifrunde einen Dialog mit den Arbeitgebern starten.

Das Gespräch führte Michael Rothe.

Die größte Gewerkschaft der Welt

  • Die Industriegewerkschaft (IG) Metall, 1949 gegründet, ist mit fast 2,3 Millionen Mitgliedern die größte deutsche Einzelgewerkschaft.
  • In Sachsen ist sie mit 87.000 Angehörigen Nummer zwei, kommt Verdi durch geringere Verluste aber nahe.
  • Die IG Metall mit Sitz in Frankfurt am Main vertritt ihre Mitglieder in den Branchen Metall/Elektro, Stahl, Textil/Bekleidung, Holz/Kunststoff und IT.
  • Die Metallbranche zählt im Freistaat gut 1.700 Unternehmen, in rund 140 davon gelten Flächentarif-, Haus- und Anerkennungsverträge.
  • Damit erhält weniger als die Hälfte aller 190.000 Beschäftigten Tariflohn.
  • Auch im Westen arbeitet gut 25 Jahre nach Durchsetzung der 35-Stunden-Woche nur jeder Fünfte so kurz, das Gros teils deutlich länger. (SZ/mr)