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Der Koloss von Prora: Darf man in einem Nazi-Bau Urlaub machen?

Von Zwangsarbeitern ausgebaut, von Millionären aufgekauft: Was die Nazis auf Rügen als gigantisches Ferienparadies planten, wird 90 Jahre später luxuriöse Realität.

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Der „Koloss von Prora“ von der Meerseite im Jahr 2004.
Der „Koloss von Prora“ von der Meerseite im Jahr 2004. © Steffen Löwe, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Hannes Soltau

Das Fenster in die Zukunft ist gut geputzt. Weit schweift der Blick aus dem lichtdurchfluteten Zimmer über die großzügigen Pools hinweg, durch windschiefe Kiefern bis auf die kabbelige Ostsee der Prorer Wiek. Das ist wohl das, was Immobilienmakler als Bestlage bezeichnen. Eine Ferienwohnung an einem der schönsten Strände Deutschlands. Kilometerlang feinster Sand, am Südrand ist die Kreideküste Rügens erkennbar.

Erst beim Betreten des Balkons, realisiert der Besucher, dass dies nur eines von tausenden Fenstern in einer gigantischen, sichelförmigen Häuserfront ist. Der Koloss von Prora. Das Monster am Meer. Der Riese auf Rügen. Der Stararchitekt Daniel Libeskind nannte es gar einen „unvergesslichen Alptraum“ und „das gebaute Böse“.

Die einst größte zusammenhängende Immobilie der Welt entstand zwischen 1936 und 1939 als Kern des geplanten „Kraft durch Freude“-Seebads der Nationalsozialisten. An wenigen Orten in Deutschland ist der Widerspruch zwischen Geschichte und Gegenwart, Erinnerung und Erneuerung heute noch so spürbar wie hier.

Für die einen ist der monumentale Gebäuderiegel ein ästhetischer und politischer Schandfleck, den man hätte abreißen sollen. Für andere ist es das Fundament, um eine ganze Region neu zu erfinden. Und dann gibt es noch die, die Prora als Ort der Erinnerung und Mahnung bewahren wollen.

Die Ausmaße der Anlage sind erst vom nahen Baumwipfelpfad überschaubar. Wie eine überdimensionierte Mauer schirmt der Gebäuderiegel zwischen Sassnitz und Binz das Festland gegen das Meer ab. So lang, dass er zwei eigene Bahnhaltestellen hat und man von einem Ende zum anderen mit dem Fahrrad fahren muss.

Die einst größte zusammenhängende Immobilie der Welt entstand zwischen 1936 und 1939 als Kern des geplanten „Kraft durch Freude“-Seebads der Nationalsozialisten
Die einst größte zusammenhängende Immobilie der Welt entstand zwischen 1936 und 1939 als Kern des geplanten „Kraft durch Freude“-Seebads der Nationalsozialisten © Wikimedia

2.000 Arbeiter und in die heutige Zeit umgerechnet über eine Milliarde Euro sollten das „Paradies der Volksgemeinschaft“ verwirklichen. Doch der Krieg beendete die Vision vom arischen Seebad im Rohbau. Ausgerechnet die DDR, die Prora zur „monumentalsten Kasernenanlage“ des sozialistischen Staates ausbaute, vollendete später weite Teile des Objekts.

Kurz den Krieg gewinnen – dann wartet der Strand

Ein in Beton gegossenes Zeugnis nationalsozialistischen Größenwahns. Auf Wunsch Hitlers und nach Plänen des Nazi-Architekten Clemens Klotz ausgeführt, sollten hier acht Wohnblöcke entstehen. Insgesamt 4,7 Kilometer lang. Sechs Geschosse hoch. 80 Treppenhäuser. Korridore mit einer Gesamtlänge von knapp 30 Kilometern. 3,5 Millionen Quadratmeter Fläche. Platz für 20.000 Gäste gleichzeitig.

Heute muss man schon etwas suchen, um der komplexen Geschichte des Ortes zu begegnen. Fündig wird er neben den angegilbten Schildern der ehemaligen Diskothek „M3 Miami“. Am Ende eines von Bauzäunen eingefassten Weges wartet Katja Lucke, die Leiterin des „Dokumentationszentrum Prora“. Seit 2000 zeigen sie und ihr Team in Ausstellungen, die Bedeutung des Ortes für das Verständnis der deutschen Geschichte auf.

Hier findet sich ein „Kraft durch Freude“-Werbeplakat mit dem Slogan „Dein Urlaub 1939“. Ein Pärchen lächelt vor der Kulisse von Prora. Als wollte es sagen: Wir müssen nur kurz den Krieg gewinnen – und dann wartet der Strand auf uns.

Daneben zeigt eine schwarze-weiße Fotografie die triste Realität des geplanten „Seebads der Zwanzigtausend“: Ein 2,43 mal 4,93 Meter großes Musterzimmer. Dünne Wände, billige Ausführung. Zwei Einzelbetten, eine kleine Sitzecke, ein Schrank und ein Handwaschbecken. Die Ostsee vor dem Fenster. Nicht zu sehen, aber geplant: der Lautsprecher darüber. Manipulation mit Meerblick.

Durch den Hinterausgang führt Lucke auf eine zugewachsene Freifläche, wo die Gäste nach Vorstellung der NS-Bauherren zu propagandistischen Zwecken in einer geplanten, aber nie gebauten Festhalle versammelt werden sollten. Es hätte das Herzstück für die ideologische Durchdringung von Feierabend und Freizeit werden sollen. In Prora ging es weniger um Entspannung als um Kontrolle und Überwältigung, erklärt Lucke. Wollt ihr den totalen Urlaub?

Vom Strand aus betrachtet, ist trotz fortgeschrittener Sanierung erkennbar, was Lucke mit „Demagogie aus Stahlbeton“ meint: endlose Reihen von gleichförmigen Fenstern. Auf alten Zeichnungen stehen selbst die Strandkörbe in Reih und Glied. Wiederholung und Monotonie, das Individuum geht in der Masse unter. Das erinnert nicht nur an eine Kaserne – es war auch die Militarisierung des Urlaubs.

Zwei Reichsmark am Tag pro Person sollte der Aufenthalt kosten. Heute liegt der Quadratmeterpreis einer Ferienwohnung bei bis zu 10.000 Euro. „Es gibt zwei Sorten von Menschen“, sagt Rolf Hoffmeister am Telefon. „Die einen, die hier mit Begeisterung Urlaub machen wollen und die wunderbare Lage direkt am Strand schätzen.

Und die anderen, die dieser Ort ästhetisch und historisch abschreckt.“ Er ist Gesellschafter und Generalmanager der Binzprora / Inselbogen Unternehmensgruppe, erwarb bereits 2004 mit einer Wuppertaler Investorengemeinschaft einen Block.

Scheibchenweise verkauft, seit 2012 wird saniert

Nach der Jahrtausendwende hatte der Bund die Immobilie scheibchenweise für insgesamt etwa 3,45 Millionen Euro veräußert. Ausgerechnet Ulrich Busch, Sohn des DDR-Arbeiterliedersängers und Schauspielers Ernst Busch, war die treibende Kraft hinter der Privatisierung. 2012 begannen dann die Sanierungsmaßnahmen.

Hoffmeister will sich der historischen Tragweite des Ortes bewusst sein. Doch die Nutzung mache den Unterschied. Man habe sich in seinem Verantwortungsbereich bewusst für eine kleinteilige Umgestaltung entschieden.

Mit der Übertragung an Privatinvestoren werde der Anlage ein demokratischer Grundgedanke eingehaucht, die Vorstellung der Nationalsozialisten von Konformität gebrochen. Ein Ende der Gleichmacherei und Machtausübung. „Was bliebe denn sonst?“, fragt Hoffmeister. „Zaun drum und zerfallen lassen? Oder eben doch sprengen?“. Die Sanierungen der letzten Jahre seien zur Erhaltung des Baudenkmals notwendig gewesen.

250 Wohnungen wurden dem Verkäufer regelrecht aus der Hand gerissen

Sicher sei man vor zwei Jahrzehnten etwas blauäugig in das Vorhaben reingerutscht. Ihm selbst hätte beim ersten Besuch noch die Vorstellungskraft gefehlt, dass sich aus der baufälligen Liegenschaft etwas Hochwertiges entwickeln ließe. „Aber heute spricht die hohe Akzeptanz für sich“.

Die geschaffenen 250 Wohnungen und Apartments in Block 3 seien den Verkäufern regelrecht aus der Hand gerissen worden. Die Nachfrage war doppelt so hoch wie das Angebot. Sogar ein Sohn der Königsfamilie von Dubai soll eines der Penthäuser gekauft haben.

Der „Koloss von Prora“ 2019 nach der Rekonstruktion
Der „Koloss von Prora“ 2019 nach der Rekonstruktion © Wikipedia/ Lappländer

Hoffmeisters früherer Traum einer Marina an der alten Kaianlage ist derweil geplatzt. Natur-, Arten- und Denkmalschutz sprechen dagegen. Doch an seiner Utopie „Prora für Rügen“ will er festhalten. Für einen funktionsfähigen Ort bräuchte es aber Infrastruktur.

Der vor zwei Jahren eröffnete Supermarkt könne nur der Anfang sein. Theateraufführungen und ein Wassersportzentrum sind sein Fernziel. „Wenn man es richtig macht, dann profitieren Touristen und Anwohner gleichermaßen“, sagt Hoffmeister.