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Über den Wipfeln von Beelitz

Lungenkranke Berliner und Prominente wie Honecker und Putin waren Gäste der größten deutschen Heilstätte. Heute erhalten Besucher hier einen ganz besonderen Draufblick auf über 100 Jahre deutsche Geschichte.

Von Peter Redlich
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Auch von ganz weit oben eindrucksvoll:
der Baumkronenpfad und ein Teil des Areals
der Beelitzer Heilstätten.
Auch von ganz weit oben eindrucksvoll: der Baumkronenpfad und ein Teil des Areals der Beelitzer Heilstätten. © dpa-Zentralbild

Beelitz. Erich Honecker, nierenkrank, war im April 1990 auf der Flucht. Vor der neuen bundesdeutschen Justiz hatten ihm die sowjetischen Streitkräfte auf exterritorialem Gelände Asyl gewährt – in den Beelitzer Heilstätten. Ein knapp 200 Hektar großes Areal, von 1945 bis 1994 das größte Krankenhausgelände der sowjetischen Streitkräfte außerhalb der UdSSR. Damit die Russen ihn nach Moskau ausfliegen konnten, der letzte DDR-Staatschef aber nicht bundesdeutschen Boden betreten musste, brachten die Militärärzte Honecker in einem Tunnel unter der Hauptstraße zum Hubschrauberlandeplatz.

Das Tunnelsystem, das mit insgesamt vier Kilometern Länge alle wesentlichen Gebäude des riesigen Krankenhausareals unterirdisch verband, ist heute nur noch teilweise begehbar – aber im Gegensatz zu früher im Rahmen von Führungen erlebbar. Auf dem Gelände von Baum & Zeit können die Besucher zusammen mit Jürgen Weyrich und seinem Team unterschiedliche Führungen und die verschiedenen Gebäude besichtigen.

Jürgen Weyrich ist Teamleiter für den Baumkronenpfad der Heilstätten Beelitz. Bis in 20 Meter Höhe führen er und seine Kollegen die Besucher.
Jürgen Weyrich ist Teamleiter für den Baumkronenpfad der Heilstätten Beelitz. Bis in 20 Meter Höhe führen er und seine Kollegen die Besucher. © Peter Redlich

Wer den Ort Beelitz hört, denkt zuerst an Spargel. Aber auch die Heilstätten sind eng mit dem Namen des brandenburgischen Städtchens verbunden. Das 1902 als Genesungsanstalt im Wald eröffnete 200-Hektar-Areal beherbergte einst 1.200 lungenkranke Patienten plus 800 Ärzte, Schwestern und Handwerker. Auf der einen Seite der Straße die Männer, auf der anderen die Frauen. Die von Bismarck eingeführten ersten Kranken- und Invalidenversicherungen machten es möglich, dass Arbeiter aus den verrußten Berliner Fabriken und Hinterhofwohnungen zur Kur fahren und sich im größten Heilstättengelände des Deutschen Reiches erholen konnten.

Architekt Heino Schmieden, spezialisiert auf den Bau von Krankenhäusern, errichtete innerhalb von vier Jahren den gewaltigen Komplex. Der Gefreite Adolf Hitler erholte sich hier im Ersten Weltkrieg von einer Kriegsverletzung. Ein KGB-Offizier namens Wladimir Putin soll ebenfalls Gast in den Heilstätten gewesen sein.

Weyrich lotst die Besucher in die Küche, wo täglich für rund 1.200 Personen, TBC-Kranke und Personal schon mit fortschrittlichen Abluft- und Wärmeversorgungsanlagen gekocht wurde. Ein gewaltiger Speisesaal, Pavillons für Liegekuren und die ehemalige Chirurgie zeigen anschaulich, was hier zu Kaisers Zeiten angelegt wurde. Mit frischer Luft, Hygiene und ausreichendem Essen sollten die Patienten in drei bis sechs Monaten wieder gesund für die Fabrikarbeit werden. Die meisten schafften das auch, ohne freilich die Lungenkrankheit ganz loszuwerden. Es gab damals noch kein Medikament dagegen.

So sahen die Liegen für Kurgäste in Beelitz Heilstätten aus.
So sahen die Liegen für Kurgäste in Beelitz Heilstätten aus. © Peter Redlich

In den Kriegen als Lazarett genutzt und nach 1945 von den sowjetischen Streitkräften belegt, kam das Areal nach der Wiedervereinigung zuerst zurück in die Hände der Landesversicherungsanstalt. Die übergab es der Treuhand zum Verkauf. Die Unternehmensgruppe Roland Ernst wollte wieder ein Klinikum daraus machen – und scheiterte. Schließlich erwarben Beate und Georg Hoffmann den Quadranten A des Heilstättenareals, insgesamt rund 60 Hektar. Zuvor hatten Techno-Partygäste und andere Plünderer Kupferdächer, Zinkdachrinnen und Stahlheizkörper abmontiert und ausgeräumt. Doch die Grundsubstanz, dank Stahlskelettbau, steht und lässt den Ort erlebbar bleiben.

Kyrillische Schriftzeichen in den Gängen von Beelitz Heilstätten deuten auf die letzte Belegschaft hin - die sowjetischen Truppen, die hier bis 1994 waren.
Kyrillische Schriftzeichen in den Gängen von Beelitz Heilstätten deuten auf die letzte Belegschaft hin - die sowjetischen Truppen, die hier bis 1994 waren. © Peter Redlich

Unter dem Namen Baum & Zeit, mit viel Engagement, frischen Ideen und über 30 Mitarbeitern verfolgen die Hoffmanns das Ziel, aus einem verlassenen Ort ein touristisches Kleinod zu entwickeln. Spektakulär ist der Baumkronenpfad, eine gewaltige Stahlkonstruktion, die teils in mehr als 20 Metern Höhe über und durch die Baumwipfel führt. Von hier reicht der Blick weit übers Heilstättengelände hinaus und bis ins Spargelland. Bei guter Sicht ist vom 40 Meter hohen Aussichtsturm sogar der 45 Kilometer entfernte Fernsehturm auf dem Berliner Alexanderplatz zu erkennen. Besucher können mindestens sieben verschiedene Touren buchen. Zum Beispiel durch die alte Chirurgie und durch Tunnel, spezielle Fotoführungen oder die Alpenhaus-Tour, die bis zum Beginn der Beelitzer Alpen führt. Die Pfleglinge haben die Hügel dort selbst so benannt, weil sie weit und breit die einzigen Erhebungen sind. Firmen buchen hier Seminare mit Übungen im Gelände für die Teambildung. Konzerte, Lesungen und Kulturnächte unter Eichen und Ahorn gibt es im Sommer.

Rund 250.000 Besucher gönnen sich inzwischen jedes Jahr – Corona mal ausgenommen – den Blick über die Baumwipfel. Mehr als ein Dutzend solcher Pfade gibt es deutschlandweit. Beelitz ist aber etwas Besonderes, weil hier bestehende Bauten integriert wurden – eine Verknüpfung von Architektur und Natur, von Geschichte und Wald. Oder wie Jürgen Weyrich, Pressesprecher von Baum & Zeit, sagt: „Hier ist deutsche Geschichte wie unter einem Brennglas auf einmal sicht- und erlebbar.“

Infos: Der Baumkronenpfad ist täglich von 10 bis 19 Uhr geöffnet (Erw. 13,50, Kinder 10 Euro). Die Führungen kosten zwischen 10 und 15 Euro.

Die Recherche wurde von der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH unterstützt.