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Der Schleimpilz ist "Einzeller des Jahres"

Ein Einzeller, der mehrere Quadratmeter groß werden kann? Der Schleimpilz schafft das. Das Lebewesen zeigt ohne ein Gehirn Anzeichen von Intelligenz.

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Experten vergleichen ein Schleimpilznetz mit dem Organisationsgrad des Bahnnetzes der japanischen Hauptstadt Tokio.
Experten vergleichen ein Schleimpilznetz mit dem Organisationsgrad des Bahnnetzes der japanischen Hauptstadt Tokio. © www.pixabay.com

Tübingen. Einzeller stellt man sich als extrem kleine Wesen vor, die sich nur unter dem Mikroskop beobachten lassen. Umso erstaunlicher ist die Größe, die der Schleimpilz erreichen kann. Im Labor wurde ein Exemplar von mehr als 5,5 Quadratmetern Fläche gezüchtet. Das skurrile Lebewesen ist von der Deutschen Gesellschaft für Protozoologie zum "Einzeller des Jahres" 2021 gekürt worden, um seine Bedeutung für die Ökosysteme hervorzuheben.

Physarum polycephalum heißt der Schleimpilz in der Wissenschaftssprache. Was ihn von anderen Einzellern unterscheidet: Der Zellkern teilt sich, ohne dass die Zelle sich teilt - mit dem ungewöhnlichen Ergebnis, dass eine Zelle Millionen, ja Milliarden von Kernen enthalten kann.

Vielleicht liegt hier auch der Grund für Anzeichen von Intelligenz. Wenn die Zelle beispielsweise einmal in der Stunde mit einem heißen Föhn geärgert wird, merkt sie sich diesen Rhythmus und fängt an, sich vor Stundenfrist aus den erwartet heißen Gebieten zurückzuziehen.

Berühmtheit in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit haben Schleimpilze durch den Naturfilmer Karlheinz Baumann aus Gomaringen bei Tübingen erlangt. Der heute 83-Jährige war ursprünglich Betreiber eines Dorfladens, sattelte dann 1977 aber komplett auf Film und Fotografie um. Bei Zeitrafferaufnahmen entdeckte er zufällig das bunte Treiben an einem Schleimpilz, als dieser seine Fruchtkörper ausbildete. Die Bilder waren so faszinierend, dass er wusste: "Das ist mein Thema", erinnert er sich im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Der erste Schleimpilzfilm kam 1983 heraus und traf auf ein lebhaftes Echo. Der Titel lautete "Tierpflanze oder Pflanzentier", weil der Einzeller eine Zwischenstufe zwischen Pflanzen- und Tierwelt darstellt. Nach diesem Erfolgsfilm habe er es leicht gehabt, TV-Aufträge zu bekommen, sagt Baumann.

In der Folge avancierte der gelernte Industriekaufmann zum Biologieexperten. Er brachte mit zwei befreundeten Wissenschaftlern ein dreibändiges Werk über Schleimpilze heraus, mit dem er einen Standard gesetzt hat. "So was kann man nur machen, wenn man ein bisschen verrückt ist", sagt er. In jeden Band seien insgesamt rund 1.000 Arbeitsstunden geflossen, das Ganze sei ein Minusgeschäft gewesen. Denn da kein Verlag das unternehmerische Risiko für die Buchserie eingehen wollte, musste Baumann das Werk im Eigenverlag drucken und vertreiben.

Spitzname "Blob"

Biologen lieben den Schleimpilz, weil er sich leicht in Labors kultivieren lässt und man an ihm allerlei untersuchen und demonstrieren kann. Dazu zählen die Beweglichkeit der Zelle und ihr Wachstum. Auch im Bilden von Netzen erweist er sich als erstaunlich fähig. Experten vergleichen ein Schleimpilznetz mit dem Organisationsgrad des Bahnnetzes der japanischen Hauptstadt Tokio.

Auch wenn es sich nur um eine einzelne Zelle handelt, so finden sich in ihr noch weitere erstaunliche Begabungen. Es ließ sich zeigen, dass der Schleimpilz in einem Irrgarten den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten finden kann. Karlheinz Baumann hat das in seinem letzten Film über diese Gattung in Japan selbst mit der Kamera aufgenommen. Dieser Streifen unter dem Titel "Als wären sie nicht von dieser Welt" erschien 2014 und brachte ihm sieben Preise von Los Angeles bis Tokio ein.

Dass der Schleimpilz auch unter dem Spitznamen "Blob" bekannt ist, geht auf einen US-Horrorstreifen aus dem Jahr 1958 zurück. In dem Kinofilm bedroht eine schleimige Masse aus dem All den Planeten Erde. Die äußeren Ähnlichkeiten mit dem Schleimpilz sind groß, doch ist Physarum polycephalum keine Bedrohung, sondern ein Nützling in den Ökosystemen. (epd)