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Freiheitsfonds kauft Schwarzfahrer aus der Haft frei - auch in Sachsen

Eine Initiative hat 73 Menschen befreit, die wegen Fahren ohne Fahrschein im Gefängnis sitzen - darunter auch zwei aus Sachsen. Aktivist Arne Semsrott über die Gründe und warum sich der Staat künftig raushalten soll.

Von Andreas Rentsch
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Der Auslöser: Arne Semsrott (35) hat den Freiheitsfonds gegründet und leitet außerdem das Portal "Frag den Staat". Semsrott stammt aus Hamburg und lebt in Berlin.
Der Auslöser: Arne Semsrott (35) hat den Freiheitsfonds gegründet und leitet außerdem das Portal "Frag den Staat". Semsrott stammt aus Hamburg und lebt in Berlin. © Arne Semsrott/Montage: SZ/Bildstelle

Seit zwei Jahren holt Arne Semsrott deutschlandweit Menschen aus dem Gefängnis. Mehr als 900 Personen seien in dieser Zeit aus Justizvollzugsanstalten freigekauft worden, sagt der Gründer der gemeinnützigen Initiative Freiheitsfonds. Die von Spenden getragene Aktion richtet sich an Häftlinge, die wegen Verstößen gegen Paragraf 265a des Strafgesetzbuches - "Erschleichen von Leistungen" - hinter Gittern gelandet sind und dort eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Jetzt war wieder ein "Tag der Freiheit": Mit Spendengeldern wurden 73 Männer und Frauen ausgelöst, darunter auch zwei in Sachsen. Im Sächsische.de-Interview erklärt Semsrott die Kampagne und ihre politischen Ziele.

Herr Semsrott, was sind das für Leute, denen Sie da helfen?

Ausnahmslos Menschen, die in einer Krise waren. Die sich zunächst in der Regel das Ticket für Bus und Bahn nicht leisten konnten, danach auch nicht die Strafe - und die deshalb ins Gefängnis mussten. Das Problem dabei: Fahren ohne Fahrschein stellt seit 1935 eine Straftat dar und wird damit viel härter bestraft als vergleichbare Delikte. Ein Schaden von vielleicht zwei, drei Euro pro Fahrt führt dazu, dass jemand für Wochen oder sogar Monate hinter Gittern landet.

Wie oft passiert das?

Pro Jahr müssen deswegen bundesweit rund 7.000 Menschen ins Gefängnis. Wir erfahren nicht immer die Lebensgeschichte der Betroffenen. Was sich aber aus den Daten ableiten lässt, ist der Tagessatz, also die Summe, die Gerichte bei der Verurteilung als angemessene Strafe erachtet haben. In der Regel sind das 10 oder 15 Euro. Mit anderen Worten: Das sind allesamt Menschen, die entweder Bürgergeld bekommen oder noch nicht einmal das.

Abgesehen vom Geldmangel: In welchen Krisensituationen stecken diese Menschen konkret?

Da werden zum Beispiel Mütter gezwungen, ihre Kinder beim Jugendamt abzugeben, damit sie ins Gefängnis gebracht werden können. Wir wissen aus Briefen, die wir bekommen haben, dass dies nicht nur eine traumatische Erfahrung für die Mutter oder den Vater ist, sondern auch für die Kinder. Hier werden Menschen bestraft und ihr soziales Umfeld gleich mit.

Wie lang sind die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren?

Das hängt von der Entscheidung des Richters ab. Die Spanne reicht von zwei Wochen bis zu vielen Monaten. Die längste Strafe, aus der wir jemanden freigekauft haben, betrug ein Jahr.

Und wie funktioniert das Auslösen durch den Freiheitsfonds praktisch?

Entweder die Leute gehen auf unsere Website und laden dort ein Formular herunter. Dort müssen sie Namen, Aktenzeichen, Höhe der Strafe und Datum des Haftantritts eintragen, unterschreiben und an uns zurückschicken. In den meisten Fällen gehen aber eher Gefängnissozialarbeiter auf die Häftlinge zu und fragen, ob sie sich nicht freikaufen lassen wollen. Seit dem Start des aus Spenden finanzierten Fonds vor rund zwei Jahren haben wir rund 798.000 Euro an Auslöse bezahlt und 911 Menschen freigekauft. 38 davon waren aus Sachsen, die Mehrzahl aus Dresden, Leipzig und Bautzen.

Bundesjustizminister Marco Buschmann hat Ende November gesagt, künftig solle Schwarzfahren nicht mehr als Straftat gewertet werden. Sie sagen, das genüge nicht. Warum nicht?

Weil Schwarzfahren ja schon durch das erhöhte Beförderungsentgelt in Höhe von 60 Euro bestraft wird. Das gibt es ja sowieso. Die Frage ist, was darüber hinaus passieren soll. Herr Buschmann sagt, Fahren ohne Fahrschein solle zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden. Das würde zusätzlich zu den 60 Euro ein Bußgeld bedeuten. Allerdings würde dieser Plan einen enormen bürokratischen Aufwand erzeugen, wenn es in Hunderttausende Fällen gibt. Außerdem könnte es dazu führen, dass Leute immer noch im Gefängnis landen, weil bei nicht gezahlten Bußgeldern eine Erzwingungshaft droht. In Summe würden neue Probleme geschaffen.

Ihr Vorschlag lautet daher wie folgt?

Aus unserer Sicht wäre es zielführender, wenn der Gesetzgeber sagt: "Wir schaffen das komplett ab und belassen es bei dem erhöhten Beförderungsentgelt. Die Verkehrsbetriebe treiben das Geld von den Schwarzfahrern ein. Das ist genug Abschreckung, und der Staat hält sich raus."

Wie kommen Sie darauf, dass die Abschreckung dann noch hoch genug ist?

Die meisten Menschen halten sich an Regeln. Bei denen, die das nicht tun, sind 60 Euro eine ausreichend große Abschreckung. Diese Summe kennt jeder, die hat sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Wenn Leute nicht viel Geld haben, dann ist das für sie eine richtig hohe Summe. Es gibt ein funktionierendes System der Abschreckung. Sollte der Staat seine Beamten dafür einsetzen, in diesem Bereich höhere Sanktionen durchzusetzen? Ich denke, da haben wir wichtigere Probleme.

U-Bahn-Fahrkartenkontrolleurin im Einsatz: Die Zeiten des 9-Euro-Tickets seien "paradiesisch" gewesen, sagt Semsrott. "Nicht nur für Leute mit wenig Geld, sondern auch für die Kontrolleure."
U-Bahn-Fahrkartenkontrolleurin im Einsatz: Die Zeiten des 9-Euro-Tickets seien "paradiesisch" gewesen, sagt Semsrott. "Nicht nur für Leute mit wenig Geld, sondern auch für die Kontrolleure." © dpa

Besteht nicht aber die Gefahr, dass die finanziellen Folgen des Schwarzfahrens noch gravierender werden? Verkehrsverbände sprechen von bundesweiten Einnahmeverlusten in Höhe von etwa 300 Millionen Euro pro Jahr.

Abgesehen davon, dass es für diese Zahl keine Belege gibt, sehen wir zu dieser Befürchtung keinen Anlass. Grundsätzlich gilt, dass wir uns darum kümmern müssen, dass Mobilität sichergestellt wird. Mobilität ist ein Grundrecht, sie wird mit Steuergeldern finanziert, und das ist auch richtig so. Wenn Leute ohne Ticket fahren, kriegen sie die 60-Euro-Strafe, und damit ist es gut.

Wie Minister Buschmann, also die FDP, das Thema Schwarzfahren bewertet, hatten Sie angesprochen. Wie stehen andere Parteien dazu?

SPD und Grüne haben auf Bundesebene die Streichung des Straftatbestandes gefordert, eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit wollen beide nicht. Die Ampelkoalition ist sich also uneins. Wir gehen davon aus, dass hier noch Gesprächsbedarf besteht. Laut einer repräsentativen Infratest-Umfrage vom April 2023 befürworten 69 Prozent der Deutschen eine Entkriminalisierung des Schwarzfahrens.

Bundesjustizminister Marco Buschmann will Schwarzfahren entkriminalisieren. Doch seine FDP hat andere Vorstellungen als die Koalitionspartner SPD und Grüne.
Bundesjustizminister Marco Buschmann will Schwarzfahren entkriminalisieren. Doch seine FDP hat andere Vorstellungen als die Koalitionspartner SPD und Grüne. © Hannes P. Albert/dpa

2022 kämpften Mitglieder des 9-Euro-Fonds um eine Beibehaltung des 9-Euro-Tickets. Deren Macher werden auch vom Freiheitsfonds unterstützt. Was ist eigentlich aus diesem Projekt geworden?

Was uns in den Monaten seit dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets in Deutschland verloren gegangen ist, ist ein klares Bekenntnis der Politik für Investitionen in ein solches Angebot. Natürlich gibt es das nicht gratis. Ich denke, solches Ticket wäre der richtige Weg, aus Gründen des Klimaschutzes wie aus sozialen Gründen. Diejenigen, die wegen Schwarzfahrens im Knast gesessen haben, berichten uns, die Zeit des 9-Euro-Tickets sei ein Paradies für alle gewesen. Nicht nur für Leute mit wenig Geld, sondern auch für die Kontrolleure.