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Wie Punktehändler Rasern Fahrverbote ersparen

Rote Ampel überfahren, geblitzt worden? Strohmänner bieten den Freikauf an. Wie der Masche beizukommen ist, wird dieser Tage auf dem Verkehrsgerichtstag diskutiert.

Von Andreas Rentsch
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Blitzersäule an einem Kreisverkehr in Berlin: Beim kommerziellen Punktehandel sieht das Bundesjustizministerium eine „Strafbarkeitslücke“.
Blitzersäule an einem Kreisverkehr in Berlin: Beim kommerziellen Punktehandel sieht das Bundesjustizministerium eine „Strafbarkeitslücke“. © Monika Skolimowska/dpa

Er ist Ende 60, nennt sich Rene Meier, heißt aber in Wirklichkeit anders. Sein Angebot gilt Autofahrern, denen nach einem Blitzerfoto Sanktionen drohen. „Ich übernehme Ihre Punkte und Ihr Fahrverbot“, verspricht der Mann mit der dickrandigen Brille.

Je nach Verstoß verlangt der Betreiber der Website punktehandel-flensburg.de mehrere Hundert Euro oder vierstellige Summen für seinen Service. Andere Agenturen, die solche Dienste anbieten, heißen punkte-makler.com oder punktetrader.com.

Über die Strafbarkeit dieser Methode diskutieren Fachjuristen seit Jahren. Beim Verkehrsgerichtstag diese Woche in Goslar steht das Thema wieder mal auf der Tagesordnung.

"Das Original aus Presse und TV": Punktehändler Rene Meier, der in Wirklichkeit anders heißt.
"Das Original aus Presse und TV": Punktehändler Rene Meier, der in Wirklichkeit anders heißt. ©  Screenshot: SZ

Wie genau funktioniert der Punktehandel, was kostet er?

Egal, ob Tempo- oder Abstandsverstoß, Handynutzung am Steuer oder bei Rot überfahrene Ampel: Wer mit dem fälligen Bußgeldbescheid einen Anhörungs- oder Zeugenfragebogen zugesandt bekommt, soll letzteren einscannen und die Kopie an den Punktehändler mailen. „Im Gegenzug schicke ich ein Angebot raus“, sagt Rene Meier. Dabei addiert er zum regulären Bußgeld und den Bearbeitungskosten noch sein eigenes Honorar.

Akzeptiert sein Gegenüber den Preis und überweist das Geld an ein Firmenkonto in der Schweiz, veranlasst der Punktehändler alles Weitere: Die Kopie des Anhörungsbogens geht an einen gezielt ausgesuchten Strohmann, der ihn ausfüllt und sich selbst als Täter bezichtigt. Ähneln sich Pass- und Blitzerfoto einigermaßen und passen Geschlecht und Alter, reicht das in den meisten Fällen für die sogenannte Plausibilitätsprüfung, und das Verfahren gegen den echten Übeltäter wird eingestellt.

Die Kosten für diesen „Freikauf“ variieren je nach Schwere des Verstoßes: Wer beispielsweise innerorts mit 25 km/h zu viel geblitzt worden ist, muss neben den gesetzlich vorgeschriebenen 115 Euro und 30 Euro Bearbeitungsgebühr 400 Euro extra überweisen. Für zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot wegen eines längeren Rotlichtverstoßes betrage das Zusatzhonorar an ihn 1.000 Euro, sagt Meier.

Wer sind die üblichen Beteiligten eines Punktehandels?

Auf der einen Seite sind es oft Menschen, die Schulden haben und gleichzeitig nicht auf ihren Führerschein angewiesen sind. Dafür, dass sie sich selbst bezichtigen, zahlen ihnen die Punktehändler Geld. Rene Meier behauptet, er reiche die Hälfte seines Honorars weiter. Auf die Frage, wie er mit diesen Personen in Kontakt gerate, sagt er nur: „Die melden sich per Mail bei mir.“

Um in seiner Kartei zu landen, müsse niemand ein Auswahlverfahren durchlaufen. „Ich akzeptiere jeden.“ Auf der anderen Seite steht die Kundschaft: Vielfahrer, beispielsweise Außendienstler, die oft verboten schnell unterwegs, aber auf ihren Führerschein angewiesen sind. „Es gibt aber auch die Hausfrau, die in der 30er-Zone geblitzt worden ist“, sagt Meier.

Ist diese Art des Freikaufs nicht strafbar?

Beteiligte eines Punktehandels machten sich „der gemeinschaftlichen mittelbaren Falschbeurkundung strafbar“, sagt ein Sprecher des Kraftfahrt-Bundesamts und verweist auf Paragraf 271 des Strafgesetzbuches (StGB). Doch bis auf eine umstrittene Ausnahme gibt es bislang kein höchst- oder oberlandesgerichtliches Urteil. Wohl deshalb, weil das Punkteregister nicht als Urkunden anzusehen sei, sagt Meier.

Andere Tatbestände, etwa § 145d („Vortäuschen einer Straftat“) und § 258 StGB („Strafvereitelung“) kämen ebenfalls nicht in Betracht, sagt Jens Dötsch von der AG Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein. Schließlich gehe es um Ordnungswidrigkeiten, nicht um Straftaten. Auch der Vorwurf der falschen Verdächtigung – § 164 StGB – laufe ins Leere, sagt Anna Härle vom baden-württembergischen Justizministerium. „Der Knackpunkt ist, dass nicht der Verkehrssünder einen Dritten angibt, sondern der Dritte auf dem Anhörungsbogen selbst die Auskunft erteilt, Fahrzeugführer gewesen zu sein.“ Selbstbezichtigung in Bußgeldsachen wiederum bleibt straflos.

Welche Urteile gibt es, und welchen Tenor haben sie?

Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat 2015 die Strafbarkeit wegen falscher Verdächtigung bejaht (Aktenzeichen: 2 Ss 94/15). Allerdings sei diese Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur kritisiert worden, sagt Jens Dötsch. Zwei Jahre später entschied das OLG Stuttgart anders (Aktenzeichen 1 Ws 42/17). Trotz der neueren Entscheidung sehe er aber das Risiko, dass nach einem aufgeflogenen Punktedeal ein Strafverfahren eingeleitet werden könnte, sagt Dötsch. „Selbst wenn das dann mit Freispruch enden sollte, muss man als Angeklagter vor Gericht erscheinen. Eine durchaus unangenehme Situation mit erheblichem finanziellen Risiko.“

Wann schließt der Gesetzgeber dieses Schlupfloch?

Das Bundesjustizministerium hat schon vor Jahren erklärt, es gebe beim kommerziellen Punktehandel eine „Strafbarkeitslücke“, die es zu schließen gelte. Passiert ist das bislang nicht, trotz konkreter Ideen. Ein Vertreter des baden-württembergischen Justizministeriums hat beispielsweise vorgeschlagen, beim Straftatbestand der Strafvereitelung (§ 258 StGB) nicht nur echte Straftaten einzubeziehen, sondern auch Ordnungswidrigkeiten – wie Verkehrsverstöße.

Zuletzt haben die Justizminister der Länder den Bundesjustizminister im Frühjahr 2022 gebeten, eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten, um eine „abschreckende Sanktionierung“ des Punktehandels zu erzielen. Auch die Teilnehmer des diesjährigen Verkehrsgerichtstags behandeln die Problematik. Ein Arbeitskreis unter Leitung des früheren BGH-Richters Peter König diskutiert den Reformbedarf im Gesetz. Am Ende steht eine Handlungsempfehlung an die Politik. Die Richtung vorgegeben hat inland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin. Vor Beginn der Konferenz am Mittwoch mahnte der FDP-Politiker, die bestehende Lücke müsse geschlossen werden

Rene Meier bleibt vorerst gelassen, was sein Geschäftsmodell anbelangt. „Ich reagiere erst, wenn Fakten geschaffen worden sind.“

Welche weiteren Folgen sollten Punktetrickser bedenken?

Dass der kommerzielle Punktehandel derzeit wohl nicht strafbar ist, bedeute keineswegs, dass die Benennung eines Strohmanns folgenlos bliebe, sagt Rechtsanwalt Dötsch. „Wird der tatsächliche Fahrer nicht ermittelt, kann für das genutzte Fahrzeug und sogar für alle weiteren Fahrzeuge eines Fuhrparks eine mehrmonatige Fahrtenbuchauflage verhängt werden.“

Welche unbedenklichen Alternativen zum Punkteabbau gibt es?

Der ADAC weist auf die Option hin, ein freiwilliges, rund 400 Euro teures Fahreignungsseminar zu belegen, um einen Punkt abzubauen. Doch die Teilnahme ist nur einmal alle fünf Jahre und nur bei maximal fünf Punkten im Register möglich. Wer mehr hat, bleibt außen vor. Acht Punkte bedeuten den Verlust der Fahrerlaubnis.