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„Steh auf“, sagt der Bürostuhl

Dresdner Forscher suchen nach der besten Sitzvariante am Schreibtisch – und entwickeln einen Warnsensor.

Von Jana Mundus
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Über neun Stunden sitzen die Deutschen jeden Tag. Forscher wollen ihnen helfen – und entwickelten einen Sensor, der zum Laufen im Sitzen animiert.
Über neun Stunden sitzen die Deutschen jeden Tag. Forscher wollen ihnen helfen – und entwickelten einen Sensor, der zum Laufen im Sitzen animiert. © 123rf

Noch ein Onlinemeeting, noch schnell den Text getippt, noch kurz eine Tabelle geprüft – ans Aufstehen, ans Bewegen zwischendurch aber nicht gedacht. Solche Situationen kennen viele, die am Schreibtisch arbeiten. Zu lange sitzen sie jeden Tag. Dieser Bewegungsmangel kann zu körperlichen und auch geistigen Erkrankungen führen. Menschen, die einem Schreibtischjob nachgehen, haben ein besonders hohes Risiko für Rückenschmerzen und chronische Muskel- und Skeletterkrankungen. Was wäre, wenn der richtige Bürostuhl für mehr Bewegung sorgt? Wenn er uns sogar animiert, mal eine kurze, aktive Pause einzulegen. Wissenschaftler der TU Dresden haben im Rahmen des Projekts „Own Personal Care“ (OPC) untersucht, wie sich Menschen bei der Büroarbeit mehr und bewusster bewegen.

„Sitzen ist das neue Rauchen“, zitiert Mark Bührer einen Satz, der immer häufiger zu hören ist. Der aktuelle Gesundheitsreport der DKV Deutsche Krankenversicherung AG in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sporthochschule Köln belegt diesen Negativtrend. Hierzulande sitzt jeder durchschnittlich 9,2 Stunden am Tag. Auf der Arbeit und privat im Auto oder auf dem Sofa. Das ist eine halbe Stunde mehr als noch 2021. Bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar mehr als zehn Stunden. Bührer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Arbeitswissenschaft des Instituts für Technische Logistik und Arbeitssysteme der TU Dresden. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat er sich im Rahmen seiner Promotion mit dem Sitzen im Büro beschäftigt. Dabei ist er kein Mediziner. Er näherte sich dem Problem mit dem Blick eines Maschinenbauers.

Die drei Bürostuhl-Typen

Erst einmal hat ihn interessiert, wie das Sitzen funktioniert. Welche Muskeln nutzt der Mensch dafür? Was für Bewegungen finden statt? Welche gesundheitlichen Probleme entstehen beim übermäßigen Sitzen? Für einen Maschinenbauer war das Neuland, gibt er zu. „Die Muskulatur in den Oberschenkeln verkürzt sich“, nennt er eine Folge des langen Sitzens. Rückenschmerzen und Probleme mit der Bandscheibe treten dann auf. In einem nächsten Schritt schaute er sich gemeinsam mit Kollegen verschiedene Bürostühle an. 15 Stück verschiedener Hersteller prüften sie intensiv. Im Mittelpunkt stehen sogenannte dynamische oder 3-D-Bürostühle. Statt starrem Sitzen setzen die Produzenten bei ihnen bereits auf Bewegung. Je nach verbauter Mechanik besitzen sie unterschiedliche Drehpunkte. Die ermöglichen es dem Nutzer, dass er Becken und Wirbelsäule bewegen kann.

Wie verhält sich der Mensch beim Sitzen? Mit einer Technik, die auch bei Filmanimationen verwendet wird, zeichneten die Forscher zunächst wichtige Daten dazu auf.
Wie verhält sich der Mensch beim Sitzen? Mit einer Technik, die auch bei Filmanimationen verwendet wird, zeichneten die Forscher zunächst wichtige Daten dazu auf. © TU Dresden

„Wir haben drei unterschiedliche Gruppen von Stühlen identifiziert“, führt Bührer weiter aus. Befindet sich das Drehzentrum unterhalb der Sitzfläche, entsteht eine abkippende Bewegung im Becken. Das erinnert an einen Sitzball. Andere Stühle haben eine Mechanik verbaut, die eine lineare Bewegung in einer Ebene ermöglicht. Bei einer dritten Variante befindet sich das Drehzentrum oberhalb, beispielsweise hinter der Rückenlehne. Die Bewegung ähnelt dadurch dem eines Pendels oder eines Schaukelstuhls.

Das perfekte Laufen im Sitzen

Danach mussten Probanden ran – nicht nur bloßes Sitzen war gefragt. Sie vollführten bestimmte Bewegungen in einer definierten Frequenz auf den Stühlen. Drei Prototypen für die verschiedenen Bewegungsarten von Stühlen hatten die Forscher für die Messungen gebaut oder bauen lassen. Sensoren zeichneten auf, in welchen Winkeln dabei die Gelenke des Körpers arbeiten. Ein anderes Verfahren maß die Muskelaktivität. Die Ergebnisse verglichen die Wissenschaftler mit den Bewegungsabläufen, die beim Gehen entstehen. „Wir fanden heraus, dass Stühle mit einem Drehzentrum oberhalb den Bewegungen beim Gehen mit Blick auf Becken und Wirbelsäule am ähnlichsten sind“, resümiert der Projektleiter. Dadurch werden die Bandscheiben mit Nährstoffen versorgt, die Rückenmuskulatur wird be- und wieder entlastet.

Der extra gebaute Prototyp eines Bürostuhls, dessen Drehpunkt oben hinter der Rückenlehne angebracht ist – er imitiert Bewegungen wie beim Gehen.
Der extra gebaute Prototyp eines Bürostuhls, dessen Drehpunkt oben hinter der Rückenlehne angebracht ist – er imitiert Bewegungen wie beim Gehen. © TU Dresden

Damit nicht genug. Die Ergebnisse nutzten Bührer und seine Kollegen für die Entwicklung eines Sensors. Befestigt unter der Sitzfläche, zählt er die Anzahl der Bewegungswechsel, berechnet den Energieverbrauch in Kilokalorien und gibt dem Benutzer eine virtuell zurückgelegte Wegstrecke aus. Laufen im Sitzen quasi. Stellt der Sensor Inaktivität fest, warnt er den Sitzenden. Durch eine Software soll er es Nutzern ermöglichen, die eigene Bewegung immer im Blick zu behalten. Den Sensor gibt es schon als ersten Demonstrator. Sowohl er als auch die Software sind bereits zum Patent angemeldet.

Die Kombination aus einem geeigneten Bürostuhl mit einem Drehpunkt oberhalb und dem Sensor aus Dresden soll Schreibtischarbeitern künftig helfen, etwas für ihre Gesundheit zu tun. Bührer hofft, dass sich interessierte Firmen finden, die das Produkt später produzieren und auf den Markt bringen. Dafür sind aber noch ein paar Schritte zu tun. Bisher waren vor allem Menschen zwischen 18 und 25 als Probanden aktiv. „Wir müssten mit einer weiteren Studie schauen, wie Stuhl und Sensor auch für ältere Menschen funktionieren“, sagt der Wissenschaftler. Letztlich solle aus einem Prototyp ein serienreifes Produkt entstehen. Nebenbei schreibt Bührer übrigens gerade an seiner Doktorarbeit zum Thema – und sitzt dabei natürlich auf dem Bürostuhl-Prototyp aus der eigenen Studie, der die beste Bewegung bietet.