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Geschlagen, getreten, erniedrigt: Geflohen

Häusliche Gewalt hat im Corona-Lockdown im Kreis Görlitz zugenommen. Die wenigsten Fälle werden bekannt. Und nur die wenigsten Betroffenen suchen Hilfe.

Von Jana Ulbrich
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Häusliche Gewalt gegen Frauen ist oft ein Tabu-Thema. Nur die wenigsten Fälle werden bekannt.
Häusliche Gewalt gegen Frauen ist oft ein Tabu-Thema. Nur die wenigsten Fälle werden bekannt. © Maurizio Gambarini/dpa

Als Jenny* an diesem Sonntagabend durch die Wohnung fliegt, als sie den Schlag ins Gesicht spürt und dann diesen Tritt, als sie sich vor Schmerzen am Boden krümmt und ihre beiden älteren Kinder verzweifelt versuchen, ihre Mutter zu beschützen - dann endlich ruft Jenny die Polizei.

Die 43-Jährige hat lange gebraucht für diesen Anruf. Viel zu lange. Dabei geht das doch schon Jahre so. Es fängt damit an, dass ihr Mann sie auf Schritt und Tritt beobachtet, dass er ihr vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen hat, dass er ihr nicht erlaubt, sich mit ihrer Freundin zu treffen. Am Anfang, wird sie später erzählen, habe sie das gar nicht so wahr genommen. Auch die ersten Ohrfeigen habe sie ihm noch zu entschuldigen versucht.

Jenny und ihr Mann leben jahrelang nach außen hin ein ganz normales Familienleben in einer schönen Wohngegend in der Oberlausitz. Ihre drei Kinder, inzwischen 13, elf und sechs Jahre alt, scheinen als einzige mitzubekommen, was hinter der Fassade geschieht. Warum ist der Papa denn immer so böse zu dir, Mama, fragen sie ihre Mutter.

Wohnadresse ist geheim

Eine Polizeistreife wird Jenny und die Kinder an diesem Sonntagabend in eine Wohnung bringen, die extra für solche Notfälle eingerichtet ist. Wo sich diese Wohnung befindet, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Nirgends wird man eine Adresse finden. Es gibt auch keine Fotos. "Manche Frauen sind auch noch in großer Gefahr, wenn sie vor ihrem Mann geflohen sind", weiß Anne Müller*. Wie Jennys ist auch ihr Name in diesem Bericht geändert. Anne Müller ist eine der beiden Mitarbeiterinnen der Frauen- und Kinderschutzwohnung „Zuflucht“ im Kreis Görlitz. Auch sie muss unerkannt bleiben, um vor der Rache mancher Männer möglichst gut geschützt zu sein. Sie hat da schon viel erlebt in den Jahren, erklärt die 50-Jährige.

An diesem Sonntagabend also bekommt auch Anne Müller einen Anruf von der Polizei. Noch am Abend telefoniert sie mit Jenny, versucht zu beruhigen, erklärt ihr, wie es jetzt weitergehen kann. Gleich am nächsten Morgen wird sie vorbeikommen, um alles zu regeln. Jenny und ihre drei Kinder können bleiben, solange es nötig ist. Neben der Notunterkunfts-Wohnung, in die die Polizeibeamten sie gebracht haben, gibt es noch eine zweite Wohnung, in der drei Frauen und ihre Kinder unterkommen können: drei Zimmer mit Schrank und Betten, Gemeinschaftsraum, Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsbad. Die Not schweißt auch zusammen. In den Monaten des Corona-Lockdowns im vorigen Jahr hat sich mehr Not als sonst zusammenschweißen müssen.

Am Montagmorgen fährt Anne Müller gleich als Erstes zu Jenny und den Kindern in die Wohnung. Sie wird regeln, wie die beiden Großen in die Schule kommen. Danach wird sie mit Jenny noch einmal nach Hause fahren. In Begleitung einer Polizeistreife wird Jenny ihre Ausweispapiere holen und Koffer packen für sich und die Kinder. Um die Kinder kümmert sich in der Notunterkunft inzwischen eine Kollegin, die eine ausgebildete Kinderschutz-Fachkraft ist.

13 Frauen und 22 Kinder finden Zuflucht

13 Frauen und 22 Kinder haben im vorigen Jahr in der Schutzwohnung Zuflucht gefunden. Es sind nur wenig mehr Frauen, aber viel mehr Kinder als in den Jahren zuvor. Der Corona-Lockdown, Schul- und Kitaschließungen und Quarantäne-Maßnahmen haben die Situation vor allem in Familien mit mehreren Kindern zugespitzt, vermutet Anne Müller.

Auch sei während des Lockdowns der Beratungsbedarf von Frauen in Notsituationen beträchtlich gewachsen, hat die Sozialarbeiterin festgestellt. "Wir haben viel über Telefon, Video oder Mail gesprochen", sagt Anne Müller. Sie habe dabei deutlich gemerkt, dass viele Frauen trotz der verschärften Situation während des Lockdowns nicht bereit gewesen seien, den letzten Rest häuslicher „Normalität“ und „Vertrautheit“ aufzukündigen. "Wahrscheinlich, um den Kindern irgendwie eine Fassade emotionaler Verlässlichkeit und familiärer Struktur zu bewahren", vermutet Anne Müller.

Auch wenn sich die Zahl der schutzsuchenden Frauen wenig anhört, so weiß Anne Müller, dass das nur die kleine Spitze eines großen Eisbergs ist. "Nur die wenigsten Betroffenen trauen sich, diesen Schritt überhaupt zu gehen, und fliehen tatsächlich", sagt sie. "Die meisten tun eher alles dafür, dass niemand in ihrer Umgebung etwas mitbekommt von dem, was da hinter der Tür passiert."

Jede dritte Frau Opfer von häuslicher Gewalt

Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO sagt aus, dass jede dritte Frau zwischen 16 und 60 Jahren schon einmal häusliche Gewalt erlebt hat - auch in Deutschland. Die von der Polizei erfassten Fallzahlen im Kreis Görlitz, sagt Anne Müller, stünden dabei immer auf den vorderen Plätzen in der Statistik.

Es sei auch ein Trugschluss zu glauben, Gewalt gegen Frauen komme hierzulande meistens in Familien mit Migrationshintergrund oder in eher bildungsfernen Schichten vor, betont die Sozialarbeiterin. Sie hat hier auch schon Frauen und Kinder von Männern mit Doktortiteln betreut.

Manche Frauen bleiben nur eine Nacht in der Schutzwohnung, manche länger als ein halbes Jahr. Die Mitarbeiterinnen beraten sie, wie es für sie weitergehen kann. Entscheiden müssen das die Frauen selbst. "Wenn sie sich entscheiden, wieder zu ihrem Mann zurückzugehen, vermitteln wir ihnen auch weitere Angebote der Familienhilfe." Den Frauen, die sich trennen wollen, helfen die Mitarbeiterinnen bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen, beim Ausfüllen von Anträgen oder vor Gericht.

Zwei von drei Frauen gehen in der Regel wieder nach Hause zurück. Im Corona-Jahr 2020 war es dagegen nur jede Zweite. Auch Jenny hat ihren gewalttätigen Mann verlassen. Ein Gericht hat ein Kontaktverbot erlassen. Er darf sich ihr und den Kindern nicht mehr nähern.

Notkontakt Frauenschutzwohnung "Zuflucht": 0175 9809462