SZ + Zittau
Merken

Düstere Zukunftsvision, die gar nicht so unrealistisch ist

"Die Laborantin" zeigt, wie genetische Informationen zum Wertmaßstab für ein erfolgreiches Leben werden. Thema und Spiel sind sehr intensiv und eindrücklich.

Von Jan Lange
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Martha Pohla, Philipp Scholz und Maria Weber (v.l.n.r.) spielen die drei Hauptcharaktere in "Die Laborantin".
Martha Pohla, Philipp Scholz und Maria Weber (v.l.n.r.) spielen die drei Hauptcharaktere in "Die Laborantin". © Theater

Es ist das erste neue Stück, das nach sieben Wochen Theaterzwangspause auf die Zittauer Bühne kommt. Und was für eines! Schauspielerisch überzeugt „Die Laborantin“, thematisch wühlt die Tragödie auf.

Es ist eine düstere Zukunftsvision, die die Autorin Ella Road in ihrem Stück entwirft: Die Menschen werden nach Rating-Werten eingeteilt, die man aus dem Erbgut mittels eines Bluttests ermittelt. Die genetischen Informationen sind der Wertmaßstab für ein erfolgreiches Leben.

Wer einen hohen Wert hat, bekommt einen gut bezahlten Job, einen Kredit oder hat bessere Chancen bei der Partnerwahl. Er hat einen besseren sozialen Status. Wenn der Bluttest wiederum Erbkrankheiten, Suchtanfälligkeiten, Gendefekte oder die Wahrscheinlichkeit körperlicher und psychischer Erkrankungen offenbart, dann ist der Wert niedrig und die Chancen auf Erfolg im Beruf, bei Beziehungen oder Familienplanung sinken dramatisch.

Das Ganze geht so weit, dass Menschen mit niedrigen Rating-Werten sterilisiert werden sollen, um keinen Nachwuchs mehr zeugen zu können. Dass Neugeborene, deren Bluttests starke „Erbgutabweichungen“ und damit einen niedrigen Ranking-Wert ergeben, als unwertes Leben eingestuft und bis 28 Tage nach der Geburt getötet werden können.

Wollen wir eine solche Gesellschaft, wie sie in der „Laborantin“ skizziert wird, haben? Eine Gesellschaft, in der Menschen aufgrund von Veranlagungen zu bestimmten Krankheiten oder gesundheitlichen Einschränkungen als nützlich oder als Last eingestuft werden? Die meisten werden sofort mit dem Kopf schütteln. Nein, auf keinen Fall wollen wir eine solche Gesellschaft haben!

Und doch ist es eine Zukunftsvision, die gar nicht so unrealistisch ist. So sorgte schon vor mehr als zehn Jahren die Daimler AG mit Blutuntersuchungen bei Bewerbern für massive Empörung. Es ist keineswegs der erste und einzige Fall. Bluttests schon vor der Einstellung sind in vielen Firmen gang und gäbe, wie Christine Demmer in ihrem Beitrag „Blutproben dürfen kein Standard bei Bewerbungsprozessen sein“ aufzeigt.

Wenn wir ehrlich sind, hat wohl jeder schon mal Situationen erlebt, in denen es aufgrund von bestimmten Kriterien zu einer Auswahl kam. So sortieren beispielsweise Unternehmer in Berlin Bewerber aus, weil sie im „falschen“ Stadtteil wohnen. Dafür schauen sie sich nur die Postleitzahl an und das Urteil über den Bewerber ist gefällt. In diesem Fall ist es eben nicht die Krankheit, sondern der Wohnort, der über Erfolg oder Nicht-Erfolg entscheidet.

Es ist egal, ob man krank ist oder krank werden könnte

In der „Laborantin“ sind es nicht nur die äußeren Merkmale wie Name, Aussehen oder Wohnort, die entscheidend sind, hier bestimmt die Genetik das weitere Leben. Dabei ist es egal, ob die, die einen niedrigen Ranking-Wert haben, schon krank sind oder nur krank werden könnten und momentan völlig gesund sind. Am eindringlichsten wird das deutlich, wenn Aaron (Philipp Scholz) ruft „Ich bin nicht krank, ich bin nicht krank“. Das ist ein trauriger wie auch berührender Moment in dem Stück.

Es ist auch der Moment, in dem klar wird, dass Aaron einen niedrigen Ranking-Wert von 2,2 hat. Bis dahin war Bea (Martha Pohla), die Aaron in einem Krankenhaus kennenlernt und später heiratet, davon ausgegangen, dass ihr Partner einen Wert von fast 9 hat. Beas eigener Wert liegt zwischen 7 und 8, sie hat einen krisensicheren Job in einem Krankenhaus, wo sie Bluttests auswertet.

Bei ihrer besten Freundin Char (Maria Weber) wird die Veranlagung zu der unheilbaren Huntington-Krankheit festgestellt. Der Bluttest ergibt einen sehr niedrigen Ranking-Wert von 2,0. Char bittet Bea, den Test zu fälschen, um bis zum Ausbruch der Krankheit ein gutes Leben zu haben. Bea lässt sich darauf ein – und fälscht in der Folge häufiger Bluttests. Für Bea ist es ein lukrativer Nebenerwerb. Denn vielen Menschen ist die Zahl, die über die Zukunft entscheidet, eine Menge Geld wert.

„Die Laborantin“ ist zuletzt auch in Dresden aufgeführt worden. In Zittau wurde sie von Regisseur Stefan Eberle auf die Bühne gebracht. In dem Stück werden Sätze nicht zu Ende gesprochen, sind sehr knapp. Auch gibt es viele Zeitsprünge. Dies setzt Eberle mit einer neuen Bühnendynamik um, indem er auf Auf- und Abgänge sowie komplizierte Lichtwechsel verzichtet und die Schauspieler ohne viele Gänge und Gestik aufeinander reagieren lässt.

Die Ausstattung ist einfach, fast immer spielen die Szenen an einem Tisch oder auf einem Sofa. Räume werden so nur durch einzelne Gegenstände erkennbar. Entscheidend sind hier die Dialoge. Es beweist, dass ausgezeichnetes Theater keineswegs von einem opulenten Bühnenbild abhängig ist.

Ergänzt wird das eindringliche Spiel der Darsteller durch kurze Filmeinspielungen, in denen Personen von ihren Rating-Werten und den damit verbundenen Folgen erzählen. Auch diese kurzen Videos bleiben noch einige Zeit nach der Vorstellung in Erinnerung. Dass es das Publikum ähnlich sieht, zeigte der langanhaltende Applaus bei der Premiere.