SZ + Zittau
Merken

Wie Reiner Hummel nicht 85 werden wollte

Der Heimbewohner aus Jonsdorf hat sechs Wochen in Quarantäne in seinem Zimmer verbringen müssen. Das macht was mit einem alten Menschen.

Von Jana Ulbrich
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Reiner Hummel hat sechs lange Wochen in Quarantäne in seinem Zimmer im Pflegeheim verbracht.
Reiner Hummel hat sechs lange Wochen in Quarantäne in seinem Zimmer im Pflegeheim verbracht. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Reiner Hummel sitzt im Rollstuhl und lächelt wieder. Nächste Woche hat er Geburtstag: 85 Jahre - ein schönes Alter." Wie gut, dass ich das erleben kann", sagt der alte Mann leise. Reiner Hummel will noch nicht sterben.

"Jetzt geht's wieder bergauf, stimmt's, Opa?" Reiners Sohn Karsten ist gekommen. Endlich darf er seinen Vater wieder im Pflegeheim besuchen - mit negativem Corona-Test, FFP2-Maske und abwechselnd mit seinen beiden Brüdern. Immer nur ein Besucher ist erlaubt. Aber wenigstens einer. Schon dafür ist Familie Hummel dankbar.

Vor Weihnachten haben die Söhne nicht mehr daran geglaubt, dass ihr Vater diese Corona-Pandemie überleben und noch 85 wird. Dabei hat er den Virus selbst schon ganz gut weggesteckt. "Die Infektion hatte bei ihm nur einen ganz leichten Krankheitsverlauf - wie bei einer Erkältung", erzählt Karsten Hummel. "Aber die Einsamkeit - an der wäre er beinahe gestorben."

Sechs lange Wochen hat Reiner Hummel in Quarantäne in seinem Jonsdorfer Pflegeheim-Zimmer verbringen müssen. Zuerst, weil es einen Verdacht in der Familie gegeben hatte, danach, weil das gesamte Haus in Quarantäne musste. Der einzige soziale Kontakt, den der 84-Jährige in diesen langen Wochen hat, sind die Pflegekräfte im Vollschutz, die ihm morgens aus dem Bett in den Rollstuhl helfen, sich um die nötigste Grundpflege und medizinische Versorgung kümmern, ihm das Essen ins Zimmer bringen und ihn abends wieder ins Bett legen.

Eine schlimme Situation für alle

Die meiste Zeit ist der alte Mann allein in seinem Zimmer - Stunde um Stunde, die nicht vergehen will. Reiner Hummel ist nach einem Schlaganfall zwar an den Rollstuhl gefesselt, aber geistig ist der 84-Jährige noch fit. Für die geistig Fitten ist die Einsamkeit besonders schlimm. "Die Demenzkranken haben kein Zeitgefühl, sie gewöhnen sich irgendwann an die Situation", erklärt Heimleiter Carsten Seitz. "Die anderen aber, die gehen regelrecht ein." Eine sehr schlimme Situation sei das, nicht nur für die Bewohner, auch für die Mitarbeiter, sagt er.

Auch Reiner Hummels Söhne müssen zusehen, wie ihr Vater immer mehr eingeht. "Die Mitarbeiter im Heim haben alles möglich gemacht, was möglich zu machen war", erzählt Karsten Hummel. "Sie haben uns den Vater im Rollstuhl ans Fenster geschoben und ihm das Telefon gegeben. Wir haben unten gestanden, haben uns sehen und miteinander sprechen können."

Aber zusehends sei der Vater schwächer geworden - fast von Tag zu Tag. "Er hat immer mehr abgebaut, wurde immer schläfriger und phlegmatischer", erzählt Karsten Hummel. "Er war vollkommen antriebslos, wollte nicht mehr aufstehen und nur noch schlafen. Am Ende war es kaum noch möglich, sich überhaupt noch am Telefon mit ihm zu unterhalten. Wir standen draußen vor dem Fenster - und er hat in seinem Rollstuhl gesessen und geschlafen."

Die Feinde des Alters werden übermächtig

Carsten Seitz, Fachbereichsleiter für alle Altenpflegeeinrichtungen der Awo Oberlausitz, weiß, was Corona-Lockdown und quälende Quarantäne-Wochen mit den Pflegeheimbewohnern machen. "Alte Menschen haben drei große Feinde", erklärt er, "das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, die Langeweile und die Einsamkeit." Mit den Corona-Kontaktbeschränkungen werden sie übermächtig. Erst recht in der Quarantäne.

Nicht nur, dass die alten Menschen in den Wochen der Isolation in ihrem Zimmer keinen Besuch von ihren Angehörigen bekommen können, sie haben auch keinerlei soziale Kontakte untereinander mehr: Das Konzept in den Pflegeheimen der Awo beruht auf einem Gemeinschaftsprinzip. In den Wohngruppen wird normalerweise gemeinsam gekocht und gegessen, geredet und gesungen. Die Bewohner treffen sich tagsüber im gemeinsamen Wohnbereich, selbst die schwersten dementen Bewohner, die am Leben gar nicht mehr teilnehmen können, sitzen dabei und fühlen so vielleicht wenigstens, dass sie nicht allein sind.

In den Wochen der Quarantäne gibt es auch nichts, was zur Mobilisierung der Heimbewohner beiträgt: keine Ergo- und Physiotherapie, keine Bewegung, keine Beschäftigung, keine Spaziergänge, keine Fußpflege - nichts. "Dabei ist gerade der Erhalt der Mobilität bei den Bewohnern ganz wichtig", sagt Carsten Seitz. Wenn das fehle, sei es bis zur vollkommenen Bettlägerigkeit ein schneller und kurzer Weg.

Es sind auch die Schutzkleidung und die Masken, die es den alten Menschen jetzt schwer machen. "Die Bewohner erkennen uns nicht und viele verstehen uns auch nicht mehr", sagt der Heimleiter. Die dementen Bewohner seien zum Beispiel sehr auf die Mimik und Gestik angewiesen, die Gehörlosen auf die Lippenbewegungen."

Heimbewohner sterben schneller

"Das macht alles sehr viel mit unseren Bewohnern", sagt Carsten Seitz. Und nicht nur mit den Bewohnern, auch mit den Mitarbeitern, die nicht so arbeiten können, wie sie es gerne tun würden und die sehen: Es sterben mehr Bewohner und sie sterben viel schneller.

Am 30. Dezember hat das Altenpflegeheim am Kurpark in Jonsdorf die Quarantäne endlich aufheben können. Die Bewohner dürfen wieder aus ihren Zimmern. Und sie dürfen wieder Besuch von ihren Angehörigen bekommen. Für die vorgeschriebenen Corona-Tests hat die Awo extra ein eigenes Testzentrum in ihrem Pflegeheim am Grünen Ring in Zittau eingerichtet. Montags, mittwochs und freitags können sich Angehörige von Bewohnern aller Awo-Häuser kostenlos testen lassen. In Jonsdorf hat das Herzliche Betreuungsteam im Gemeindeamt das testen übernommen.

Seit dem 30. Dezember bekommt Reiner Hummel wieder jeden Tag Besuch. Seine Kinder und Enkel wechseln sich ab. "Wir können richtig zusehen, wie er wieder auflebt", sagt sein Sohn Karsten. Auch das Leben im Heim mit Beschäftigungsangeboten und Physiotherapie fährt wieder hoch. Es ist ein Spagat, gibt Heimleiter Carsten Seitz zu: "Aber man muss abwägen zwischen dem notwendigen Schutz der Bewohner und dem, was ihnen gut tut."

Ganz auf den Schutz verzichten wollen die alten Menschen nicht. Sie wollen nicht an Corona sterben. Auch wenn hier manche am Straßenrand lautstark meinen, es treffe ja nur die Alten, die sowieso sterben müssen. Auch Reiner Hummel will leben - und nächste Woche 85 werden.

Mehr Nachrichten aus Löbau und Umland lesen Sie hier.

Mehr Nachrichten aus Zittau und Umland lesen Sie hier.

Sie wollen schon früh wissen, was gerade zwischen Oppach und Ostritz, Zittauer Gebirge und A4 passiert? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter "Löbau-Zittau kompakt".

Wer uns auf Social Media folgen will: