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Sachsens Betrieben geht der Nachwuchs aus

Handwerker und Dienstleister melden Rekorde bei offenen Stellen. Einer ihrer Wünsche: Sachsen als Zuwanderungsland.

Von Georg Moeritz
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Lehrlinge und Fachkräfte fehlen: Die Handwerks- und Handelskammern in Sachsen klagen über freie Stellen und machen Vorschläge.
Lehrlinge und Fachkräfte fehlen: Die Handwerks- und Handelskammern in Sachsen klagen über freie Stellen und machen Vorschläge. © Archivfoto: Sebastian Schultz

Dresden. Der Bauunternehmer Matthias Forßbohm sagt es drastisch: „Mit voller Wucht“ schlage die Alterung auf die Unternehmen in Sachsen durch. Mehr als jede zweite ausgeschriebene Stelle bleibe länger als ein halbes Jahr unbesetzt.

Forßbohm veröffentlichte am Mittwoch als Präsident der Handwerkskammer Leipzig das 9. Fachkräftemonitoring. Dafür haben die sächsischen Handwerks- und Handelskammern Umfrage-Antworten von 1.161 sächsischen Unternehmen ausgewertet. Corona hat laut Forßbohm den „Fachkräfteengpass“ noch verschärft.

Manche Handwerksberufe wie Kosmetiker hätten zeitweilig „Berufsverbote auferlegt bekommen“. In der Gastronomie wirkte Corona „wie ein Brandbeschleuniger“, sagte Kristian Kirpal, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig. Fachkräfte suchten sich andere Jobs. Der Hauptgrund für die Suche nach Personal ist laut Umfrage, dass Mitarbeiter in Rente gehen oder zu anderen Betrieben wechseln. Für sie werden Nachfolger benötigt, der sächsische Nachwuchs reicht nicht aus.

Personalmangel: Mehrheit der Betriebe lehnt Aufträge ab

Das Fachkräftemonitoring zeigt, dass 60 Prozent der befragten Unternehmen in Sachsen unbesetzte Arbeitsplätze haben. Bei der vorigen Umfrage im Jahr 2018 waren es noch 55 Prozent. Die Experten der Kammern versuchen eine Hochrechnung auf Basis der Umfrage: Es gebe 64 offene Stellen je 1.000 Beschäftigte, das sei Rekord. Hochgerechnet seien demnach rund 100.000 Arbeitsplätze frei. Die Arbeitsagenturen und Jobcenter kennen nach eigenen Angaben rund 43.000 Angebote, aber auch 112.000 Arbeitslose. Sie passen häufig nicht zusammen.

Noch ein Widerspruch auf den ersten Blick, den Forßbohm aber gleich zu entkräften suchte: Zwar meldeten weniger Unternehmen Überstunden als bei der vorigen Umfrage. Doch das liege auch daran, dass Betriebe bereits ihr Angebot einschränkten – wegen Personalmangels. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, dass sie manche Aufträge ablehnen.

Neue Chancen: Digitalisierung bringt Arbeit

Unbesetzte Stellen stehen vor allem bei Baubetrieben, anderen Handwerkern und Dienstleistern in der Statistik, weniger im Handel. Kleine Firmen haben es schwerer als große, die oft mehr bieten und eigene Personalabteilungen haben.

Forßbohm berichtete von „gewisser Überalterung“ in seinem eigenen Baubetrieb, doch drei Kinder aus seiner Familie seien eine Hilfe. Die Unternehmer räumten ein, Fachkräftesicherung sei in erster Linie ihre Aufgabe und nicht die des Staates – doch bei den Bedingungen sei noch Luft nach oben.

Sachsens Arbeitsagenturchef Klaus-Peter Hansen hatte im Interview mit sächsische.de gesagt, die Betriebe müssten sich heutzutage bei den Menschen bewerben. Laut Kirpal bemühen sie sich: In der Umfrage gaben viele an, Firmenfeiern und Prämien zu bieten, regelmäßige Kommunikation und Zuschuss zur Altersvorsorge. Ein 13. Gehalt gibt es in 47 Prozent der Firmen. Gerade kleine Betriebe beteiligen laut Kirpal Mitarbeiter häufig an strategischen Entscheidungen.

Digitalisierung wird von der Mehrheit der Unternehmer nicht als Bedrohung, sondern als Hilfe empfunden. Zehn Prozent rechnen damit, dass dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen, fünf Prozent rechnen mit Abbau – die anderen können es nicht einschätzen oder rechnen mit gleich bleibender Beschäftigung. Für Ungelernte bedeutet die Digitalisierung allerdings laut Umfrage eher Stellenabbau. Für Meister, Techniker und Akademiker bringt sie dagegen zusätzliche Jobchancen.

Zehn Prozent der sächsischen Unternehmer erwarten, dass die Digitalisierung mehr Arbeitsplätze schafft. Fünf Prozent erwarten das Gegenteil.
Zehn Prozent der sächsischen Unternehmer erwarten, dass die Digitalisierung mehr Arbeitsplätze schafft. Fünf Prozent erwarten das Gegenteil. © SZ Grafik

Ausbildung: Konkurrenz um Schulabgänger

Forßbohm hat in diesem Jahr nach eigenen Angaben keinen geeigneten Lehrling für seinen Baubetrieb gefunden. Wie viele Handwerker sorgt er sich, dass Schulabgänger lieber studieren oder in den öffentlichen Dienst streben. Auch die Verwaltung ist für die Unternehmer ein Konkurrent.

„Wir müssen wertschätzend über Ausbildung reden“, sagte Forßbohm. Sie biete alle Möglichkeiten, auch den Weg zum Polier, Techniker, Meister oder Doktor. Die Kammern fordern, den Meisterbonus zu erhöhen und lebenslanges Lernen zu fördern.

Zuwanderung: Betriebe wollen schnellere Genehmigungen

Forßbohm und Kirpal sind sicher, dass die Ausbildung rechnerisch nicht genügt und Sachsens Betriebe außerdem auf qualifizierte Zuwanderung angewiesen sind. Kirpal sagte, die Landesregierung müsse zielgerichtetes Standortmarketing im Ausland betreiben und Sachsen „als Zuwanderungsland positionieren“.

Mehr als jedes dritte Unternehmen in Sachsen beschäftigt laut Fachkräftemonitoring ausländisches Personal. Bei der Umfrage im Jahr 2018 waren es erst 25 Prozent. Das lange gewünschte Fachkräfteeinwanderungsgesetz erleichtere die Einstellung von Ausländern. Aber es gilt seit März 2020, etwa gleichzeitig kam Corona. Nur zwei Prozent der Betriebe in Sachsen haben das Gesetz bisher genutzt, vielen sei es noch unbekannt.

Die Firmenchefs haben Wünsche an den Staat: Botschaften im Ausland sollen schneller arbeiten, Verfahren müssen verkürzt werden, Zuschüsse wären gut. Bei der Anwerbung von Lehrlingen müsse wegfallen, was bei Fachkräften schon gestrichen sei: die staatliche Prüfung, ob es Bewerber aus Deutschland und der EU gibt, die Vorrang haben.

Mindestlohn: Kammern besorgt, Dulig wirbt für 12 Euro

Sachsens Handelskammern warnen davor, rasch 12 Euro Mindestlohn einzuführen. Doch die Bundesregierung plant das für Oktober. Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) sagte, in keinem anderen Bundesland würden Fachkräfte noch vor Ende des nächsten Jahrzehnts „so knapp“ wie in Sachsen. Wenn Unternehmen lautstark Arbeitskräftebedarf beklagten, müssten sie „anständig“ bezahlen.

Dulig sagte, es gebe in Sachsen seit 2016 eine Fachkräfteallianz, eine gemeinsame Fachkräftestrategie und "breite Unterstützung des Landes auf regionaler Ebene". Gerade in Sachsen müsse es mit den Löhnen endlich aufwärts gehen. Sachsen sei noch immer das Schlusslicht und habe die meisten Niedriglohnempfänger in Deutschland. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt jetzt 9,82 Euro. Zum Juli ist die nächste Erhöhung auf 10,45 Euro geplant. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will zum Oktober das Wahlversprechen zwölf Euro einlösen.