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Wie der erste DDR-Außenminister Georg Dertinger zum Staatsfeind wurde

Der Christdemokrat Georg Dertinger kommt 1956 als einer der ersten Häftlinge in die Sonderhaftanstalt Bautzen II. Sein Sohn Christian erinnert sich.

Von Miriam Schönbach
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Die Gesichtszüge ähneln sich. Am Mittwoch hat Christian Dertinger die Gedenkstätte Bautzen besucht. Dort war sein Vater zwischen 1956 und 1964 in Haft.
Die Gesichtszüge ähneln sich. Am Mittwoch hat Christian Dertinger die Gedenkstätte Bautzen besucht. Dort war sein Vater zwischen 1956 und 1964 in Haft. © Steffen Unger

Bautzen. Es ist kalt in Bautzen II an diesem sonnigen Junitag. An der Zelle mit der Nr. 27 in der ersten Etage des Hochsicherheitstrakts erzählt eine Stele die Biografie von Georg Dertinger (1902 bis 1968). Der Christdemokrat und erste Außenminister der DDR wird über Nacht zum Staatsfeind. Acht Jahre seines Lebens harrt der prominente Häftling genau hinter dieser Tür aus. 1953 verhaftet, kommt er drei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in die damals frisch errichtete Sonderhaftanstalt der Staatssicherheit in Bautzen.

Vor jener Tür mit der Nr. 27 steht an diesem sonnigen Nachmittag Christian Dertinger. Der jüngste Sohn des einstigen Sondergefangenen ist auf Einladung des SPD-Politikers Frank Richter zu Besuch. Auch Mitglieder der Bautzener SPD-Ortsgruppe sind gekommen, um den „Fall Dertinger“, wie es Gedenkstätten-Chefin Silke Klewin ausdrückt, kennenzulernen. „Es gibt ein politisches Testament Dertingers, das er im Sommer 1967 eingesprochen hat. Darin sagt er sinngemäß, dass er im Leben versucht habe, alles richtig zu machen, aber mit allem, was er machte, zu früh dran war“, sagt Frank Richter.

Die Kälte, die Zelle, die Biografie des Vaters und die Geschichten über ihn – all das holt bei Christian Dertinger (Jahrgang 1944) die Erinnerungen zurück. Erstmals besucht er als 16-Jähriger seinen Vater hinter diesen Bautzener Mauern. Zu diesem Zeitpunkt hat er sein drittes Leben begonnen. Sein erstes Leben endet in der Nacht des 15. Januar 1953.

Dertinger wird bei einer Geliebten festgenommen

„Georg Dertinger ist seit 1949 erster Außenminister der DDR, er ist in Ostdeutschland ein Prominenter, man kennt ihn in der Welt. Er hat mehrere Geliebte, zu seinem 50. Geburtstag am 25. Dezember 1952 kommt der Ministerpräsident Otto Grotewohl“, fasst Silke Klewin zusammen. Zwei Wochen später wird Dertinger bei einer Geliebten festgenommen.

Die Verhaftung des CDU-Politikers ordnet Stasi-Chef Erich Mielke persönlich an. Der Vorwurf lautet „Spionage und Zusammenarbeit mit imperialistischen Geheimdiensten". Zeitgleich mit Georg Dertinger werden in seiner Villa Ehefrau Maria, die zufällig anwesende Schwiegermutter und die drei Kinder erst festgesetzt und dann verhaftet. Dem Jüngsten – Christian mit knapp neun Jahren – wird erzählt, dass er als Kriegswaise von den Dertingers aufgenommen worden sei. Er kommt zu einer Pflegefamilie und beginnt sein zweites Leben. Fortan heißt er Christian Müller.

Georg Dertinger wird in dieser Zeit der Prozess gemacht, in der Untersuchungshaft nimmt er 15 Kilo ab, seine Affären machen ihn erpressbar, bei Nachtverhören wird versucht, seinen Willen zu brechen. Er will nicht an Willkür glauben, denn den Christdemokraten treibt die Vision von einem wiedervereinigten neutralen Deutschland an. „Er war überzeugt, dass Ost- und Westdeutschland nur Provisorien waren“, sagt die Gedenkstättenleiterin.

Georg Dertinger zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt

Doch sowohl in der BRD als auch in der sowjetischen Besatzungszone sind solche Gedanken in den 1950er-Jahren verfrüht. So wird der Außenminister zur Gefahr für Staatschef Walter Ulbricht. Nur das Eingreifen aus Moskau verhindert wohl, dass er 15 Jahre Zuchthaus und nicht die Todesstrafe bekommt.

Seine Familie trifft die Sippenhaft. Einzig der kleine Christian entgeht dem Gefängnis. „Ich war überzeugt, dass ich keine Eltern mehr habe. Als meine Mutter nach acht Jahren im November 1960 aus der Haft entlassen wurde, kam ich zu ihr zurück. Da fing mein drittes Leben an“, sagt der Bauingenieur. Bei seinem jüngsten Besuch hat er der Gedenkstätte nun eine Kladde des Vaters aus Bautzener Haftzeit geschenkt.

Nach zahlreichen Anträgen auf Wiederaufnahme des Verfahrens und schwer krank wird Georg Dertinger 1964 aus der Haft entlassen – erst nach einem Gnadenerlass durch Walter Ulbricht. Er stirbt am 21. Januar 1968 in Leipzig.