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Corona und die Folgen für Kinder: "Die Pandemie sitzt am längeren Hebel"

Verlustängste, Leistungseinbrüche, psychische Erkrankungen: Corona macht Kindern besonders zu schaffen. Höchste Zeit, sich zu kümmern.

Von Tim Ruben Weimer
 14 Min.
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In der vierten Corona-Welle hat sich der Alltag für Kinder weitgehend normalisiert. Die Auswirkungen der Krise halten dennoch an.
In der vierten Corona-Welle hat sich der Alltag für Kinder weitgehend normalisiert. Die Auswirkungen der Krise halten dennoch an. © Digital Vision

Dresden. Anna haut nachts von zu Hause ab. Sie schleicht sich aus ihrem Zimmer, trifft sich mit Freunden von der Förderschule in der städtischen Kifferecke. In ihrem Zimmer liegen Bierdosen, sie raucht und fängt an, sich zu ritzen. Dann gehen plötzlich Nacktfotos von ihr an der Schule um, sie hat sie selber verschickt. An Schulkameraden, aber auch an Unbekannte, die sie auf Instagram oder Tiktok kennengelernt hat und die ihr nun Gutscheine im Tausch gegen weitere Nacktfotos anbieten.

Anna ist zwölf Jahre alt und geht auf ein Gymnasium in einer mittelgroßen Stadt in Sachsen. Sie ist die Älteste von drei Kindern. Ihren wahren Namen nennen wir nicht. "Seit Corona hat sich Anna komplett verwandelt", sagt ihr Vater. Als Anna 2020 in die fünfte Klasse kam, gingen ihre besten Grundschulfreunde plötzlich auf andere Schulen, in ihrer neuen Klasse war sie noch gar nicht richtig integriert. Dann schloss plötzlich die Schule und Anna und ihre Klassenkameraden wechselten in den Heimunterricht.

"Anfangs war das für sie noch wie Ferien, aber von Woche zu Woche wurde die Konzentration immer weniger", berichtet ihr Vater. Ihre schulischen Leistungen verschlechterten sich. In der Grundschule erhielt sie fast nur Einsen und Zweien, inzwischen ist sie in der sechsten Klasse und in drei Fächern versetzungsgefährdet. "Wie es dazu gekommen ist, ist für uns und die Schulsozialpädagogen ein großes Rätsel", sagt ihr Vater. "Wir wissen auch gar nicht, was wir verkehrt gemacht haben."

Mehr als jedes vierte Kind hat psychische Probleme

Kinder und Jugendliche haben sich durch die Corona-Pandemie verändert. Während viele trotz aller Einschränkungen bislang gut durch die Krise kamen, geht Corona an anderen wie bei Anna nicht spurlos vorbei. Laut der zuletzt im Herbst 2021 durchgeführten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf waren 29 Prozent der Kinder in der dritten Corona-Welle psychisch auffällig. Das sind zwar etwas weniger als in der zweiten Welle, aber immer noch 10 Prozentpunkte mehr als vor der Pandemie. Auch der Expertenrat der Bundesregierung bezeichnet die sekundäre, also indirekte Krankheitslast bei Kindern durch Covid-19 als "besonders schwerwiegend".

Eigentlich müssten diese psychischen Auffälligkeiten behandelt werden, sagt Julian Schmitz, der am Leipziger Institut für Psychologie zu Kindern und Jugendlichen forscht. Doch noch zu wenige Kinder und Jugendliche fänden den Weg in die Psychotherapie, weil das Thema noch nicht stark genug thematisiert werde. Weiterhin gibt es nicht genug Angebote, die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt zwischen drei und neun Monate. Mit der Corona-Pandemie bekommen Psychotherapeuten statt im Schnitt 4,9 Anfragen nun 6,9 Anfragen pro Woche, berichtet die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung. Doch wo liegt die Ursache des Problems? Was fehlt unseren Kindern?

Corona unterbricht permanent den Alltag

Pauschal lasse sich diese Frage nicht beantworten, meint Julian Schmitz. Der Alltag der Kinder und Jugendlichen habe sich durch Corona massiv verändert. Zwar haben die Schulen wieder geöffnet, doch der angestaute Leistungsdruck, den durch Corona verpassten Unterrichtsstoff wieder aufzuholen, bleibe. Quarantäne im Familienkreis bedeutete psychosozialen Stress für die Kinder. Die permanenten Unterbrechungen des Alltags seien mit verantwortlich für den Anstieg der psychischen Erkrankungen bei Kindern. Gleichwohl spricht sich Schmitz dafür aus, Kinder vor Infektionen zu schützen.

Julian Schmitz, Professor am Institut für Psychologie an der Universität Leipzig: "Wir sollten keine leeren Versprechungen machen: Für Schüler in Quarantäne ist die Schule quasi geschlossen. Die Pandemie sitzt am längeren Hebel."
Julian Schmitz, Professor am Institut für Psychologie an der Universität Leipzig: "Wir sollten keine leeren Versprechungen machen: Für Schüler in Quarantäne ist die Schule quasi geschlossen. Die Pandemie sitzt am längeren Hebel." © privat

Das bestätigt auch René Michel, der eine siebte Klasse an der Ludwig-Richter-Oberschule in Radeberg unterrichtet. "Corona ist für Schüler und Lehrer immer noch ein Damoklesschwert, das über einem schwebt", sagt er. "Wenn sich zu viele infizieren, kann die ganze Klasse nach Hause geschickt werden. Es schwingt immer eine Ungewissheit mit." Doch auch schon die Quarantäne einzelner Schüler habe Auswirkungen. Bei einem positiven Coronatest 14 Tage den Anschluss zu verlieren, sei besonders für die Schüler schwierig, die gerade in die Pubertät kommen. Schüler, die ohnehin nicht den besten Stand in der Klasse hätten, würden dadurch noch mehr ausgegrenzt, vielleicht war der Klassengemeinschaft ihr Fehlen sogar gar nicht aufgefallen. "Als einer meiner Schüler aus der Quarantäne zurückkam, wurde er angefeindet und gemobbt", erzählt Michel. "Er hat einfach nicht mehr zu der Jungs-Clique dazugehört, die haben ihn relativ schnell ausgeschlossen."

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