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Angebrüllt und angegriffen: Schüler berichten von Corona-Demos

Wer steckt hinter dem Twitter-Account "Vue Critique"? Zwei Dresdner Schüler berichten über Demonstrationen in Sachsen – mit hohem Risiko.

Von Levin Kubeth
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Für die Demonstrierenden eine Provokation: Blitz, Filmlicht, Mikrofon.
Für die Demonstrierenden eine Provokation: Blitz, Filmlicht, Mikrofon. © Reiner Blende

Dresden. "Kamera runter!", brüllen sie immer wieder. Eine Gruppe löst sich aus dem Demonstrationszug. Ein vermummter Mann richtet ein grelles Licht auf das Filmteam. "Scheiß Antifa", dann: Zischen. Ein Begleitschützer sprüht Reizgas. Eine Bierflasche fliegt und zerschellt an einem Zaun. Glassplitter fliegen durch die Luft. Klirren. 175.000 Mal haben Leute das Video gesehen.

"Vue Critique" nennt sich der Twitter-Account – übersetzt "Kritischer Blick". Dahinter stecken zwei Schüler aus Dresden. Sie dokumentieren mit ihren Aufnahmen, was auf Demonstrationen in Sachsen seit Monaten passiert. Mittlerweile schauen Medien aus ganz Deutschland auf den Account.

Zweieinhalb Stunden zuvor war noch alles ruhig gewesen. Erik und Nils warten am Bahnhof Mitte in Dresden. Der eine kommt vom Chemieunterricht, der andere von daheim. Er hat heute morgen verschlafen.

Mit Sneakern, Umhängetasche, verwuschelten Haaren und Cap könnten sie auf jedem Schulhof in der Masse untergehen. Sie heißen eigentlich anders, müssen sich aber vor Anfeindungen schützen. "Ich habe mich mental darauf eingestellt, dass irgendwann der Pappcontainer vor unserem Haus brennen wird", sagt Erik.

Seit März 2021 gehen die beiden 18-Jährigen regelmäßig auf Demonstrationen, filmen und fotografieren dort. 22 waren es im Dezember, 15 bisher im Januar. Ihre Videos zeigen Publikum, Parolen und auch Attacken auf die beiden.

Filmen, Fotografieren, Twittern. Foto: Levin Kubeth
Filmen, Fotografieren, Twittern. Foto: Levin Kubeth © Levin Kubeth

Wie "Straßengezwitscher" oder "Pixelarchiv", zwei andere Twitter-Accounts, nehmen sie eine neue Rolle in der Demo-Berichterstattung ein. Hinter ihnen steht kein großes Medienhaus, sie arbeiten nicht für einen bestimmten Sender. Sie sind allein unterwegs und veröffentlichen im Netz.

Bei Nils Zuhause geht es an die Vorbereitung. Erik fläzt im blauen Ohrensessel, Nils daneben auf dem braunen Ledersofa. Neben ihm Mikro, Stativ, Kamera, Filmlicht, Festplatte. Auf dem Schoß sein Laptop. Heute wollen sie aus Coswig und Radebeul berichten. Vier ehrenamtliche Begleitschützer kommen mit. In ihrer selbst angefertigten Lageeinschätzung steht:

"Es ist nicht damit zu rechnen, dass bei Polizeikräften Schutz gefunden werden kann."

Über die Demonstrationen in Coswig gebe es keine kritische Berichterstattung, sagt Nils, nur die Informationen der rechtsextremen "Freien Sachsen". Das Ziel der beiden Schüler: Strukturen und Entwicklungen verstehen und darüber informieren.

"Lasst euch nicht verhauen!"

Über eine Dresdner Agentur verkaufen sie Bilder und Videos. Immer wieder berichten sie Journalisten in Hintergrundgesprächen über die Lage in Sachsen. Unter Nils‘ Schreibtisch liegen Zeitungen, die ihre Fotos veröffentlicht haben: Bild, Taz, Freie Presse. Mit dem Geld finanzieren sie Fahrt- und Technikausgaben.

Das Equipment leide sehr, erzählt Nils. "Von Landschaftsfotos geht das nicht so schnell kaputt. Da ist auch kein Wasserwerfer, niemand greift in die Kamera oder schlägt gegen das Gehäuse." Nils packt das Mikro in die Tasche und beißt in ein Marmeladenbrötchen.

"Wo ist deine lange Unterhose?", fragt Erik. Es wird ein langer Abend bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Zum Abschied sagt Nils‘ Mutter noch: "Lasst euch nicht verhauen!"

Im Auto riecht es süß, Erik isst Fritt-Kaubonbon. In der Lageeinschätzung des Begleitschutzes steht:

"Grenzüberschreitendes Verhalten erwarten wir nicht, oder erst nach anhaltenden Kontaktversuchen."

Erik ist unruhig. "Liegt an Coswig, weil ich da noch nicht war", sagt er.

"Zurück", sagt Erik. "Macht euch weg!", brüllt der Flaschenwerfer.

Das Team steigt aus dem Auto. Keine 30 Sekunden huschen "Vue Critique" und ihre Begleiter am Protestzug entlang, da sagt ein Mann: "Da sind se!" Mehrere hundert Impfgegner, Maßnahmenkritiker und Coronaleugner laufen durch die Kleinstadt. "Die Revolution macht halt an einer roten Ampel", sagt Erik, als die Menschen stehen bleiben.

Die beiden Jungs wollen die Länge des Zuges einfangen. Ein Mann richtet eine blinkende Taschenlampe auf sie. "Ihr seid doch Schauspieler", ruft einer. Eine kleine Gruppe löst sich aus der Menge und geht auf das Filmteam zu. "Ihr Wichser, haut ab jetzt!" Die vier Begleitschützer von Nils und Erik bauen sich vor den Männern auf. Doch die Gruppe drängt sie immer weiter an den Zaun und die Straße hinauf.

"Zusammen, zusammen!" sagt Erik immer wieder, "Scheiß Antifa", schreien die Angreifer. Das Reizgas zischt, als der Begleitschutz es den Männern ins Gesicht sprüht. Sie weichen ein paar Schritte zurück. Einer versucht, mit Fäusten zum Sicherheitsmann vorzukommen, lässt dann aber auch ab.

Ein Mann wirft seine noch volle Bierflasche, der Begleitschützer kann sich gerade noch abducken. Dort, wo gerade noch sein Kopf war, fliegt die Flasche und zerschellt an einem Zaun. Glassplitter fliegen durch die Luft. Es klirrt. "Zurück", sagt Erik. "Macht euch weg!", brüllt der Flaschenwerfer.

"Unüblich" nennt Erik den Einsatz. "Meine Augen brennen, meine Nase brennt." Auch er ist durch Reizgas gelaufen. Solche Anfeindungen und Angriffe sind für "Vue Critique" eher Regel als Ausnahme.

Bei Ausschreitungen während und nach dem Aufstiegsspiel von Dynamo Dresden im vergangenen Mai musste Nils im Krankenhaus behandelt werden.

"Die Angreifer haben mich erst mit Fäusten gegen den Kopf geschlagen, dann mit dem Knie in den Bauch", erzählt er. Als dem Mann seine Brille herunterfiel, flüchteten sie. Nils sei immer wieder bewusstlos geworden. Im Krankenhaus dann die Diagnose: Schädel-Hirn- und stumpfes Bauchtrauma.

Nach dem Angriff: Sanitäter kümmern sich um Nils beim Aufstiegsspiel von Dynamo Dresden im vergangenen Mai.
Nach dem Angriff: Sanitäter kümmern sich um Nils beim Aufstiegsspiel von Dynamo Dresden im vergangenen Mai. © privat

"Für mich hat das zu einer Normalisierung von Gewalt geführt", sagt Nils. "Alles, was danach passiert ist, war halt nicht so schlimm, dass man im Krankenhaus liegt oder bewusstlos wird."

"Wir sollten schnell machen", heißt es am Auto in Coswig. Erik wäscht sich die Augen aus, schnäuzt sich die Nase, ab in den Wagen.

Die Protestierenden haben die Straße jetzt wieder für sich. Keine 20 Minuten war "Vue Critique" in Coswig. Im Auto twittert Nils zum Vorfall. Eine Berichterstattung sei aktuell unmöglich, schreibt er. Abbruch.

"Da, wo die Presse nicht ist, ist die Polizei häufig auch nicht", sagt Nils. "Unser Ziel ist, dort hinzugehen, wo sonst keiner berichtet. Das hat heute gut geklappt."

Auf Telegram schreibt später jemand, dass die „Kinderjournalisten“ nicht das erste Mal da gewesen sein. „Irgendwann ist halt mal genug.“ Auf seinem Profilbild schaut er mit seiner Tochter aufs Wasser.

Ankunft in Radebeul. Die Begleiter parken das Auto so, dass sie im Zweifel schnell manövrierfähig sind. In der Lageeinschätzung steht:

"Es kann zu unvermittelten oder auch angekündigten Angriffen kommen, wobei beides unwahrscheinlich ist."

Radebeul ist das Kontrastprogramm zu Coswig. Kerzenschein zwischen blinkenden Taschenlampen, Beleidigungen statt Angriffen, die Polizei ist präsent.

"Gegenlesen, Hashtag draufpacken, teilen"

Im Laufe des Abends fällt Nils immer wieder jemand in der Masse auf, der ihm bekannt vorkommt. Er macht Fotos. Später will er die Aufnahmen abgleichen.

"Gegenlesen, Hashtag draufpacken, teilen", sagt Erik und gibt Nils das Handy mit dem vorgetippten Tweet. "Der "Demonstrationszug läuft in zwei Richtungen", liest Nils den Tweet vor. "Dann ist das aber nicht mehr ein Demonstrationszug, you know? Man kann nicht schreiben, dass ein Zug in zwei Richtungen läuft." Kurze Diskussion. "Leute, Ergebnisse!", sagt die Begleitschützerin und schlägt die Hände zusammen.

Radebeul: zwischen Gegenprotest und Coronademonstration.
Radebeul: zwischen Gegenprotest und Coronademonstration. © Reiner Blende

Auf Twitter veröffentlichen sie auch Krawallvideos und legen Konzertmusik darunter. Ob sich die beiden als Journalisten sehen? "Ich habe Respekt vor dem Begriff, weil er für mich mit einer Ausbildung einhergeht, die wir nicht haben." Es sei dennoch ihr Ziel, sachlich zu berichten.

Von der Polizei fühlen sie sich nicht gleichwertig behandelt wie die Journalisten großer Medien. "Die stempeln uns als Aktivisten ab. Die Polizei Sachsen teilt mit, man unterscheide nicht zwischen Medienschaffenden klassischer Medien und solchen, die neue Formen medialer Berichterstattung bedienen.

"Vue Critique" wolle trotzdem Distanz waren. Sich als Journalist bei der Polizei vorab für eine Demo anzumelden, sehe Nils sehr kritisch.

Zurück in Dresden geht das Team als erstes zu Burger King. "Bald ist Abi-Phase. Da werdet ihr erstmal Ruhe haben. Dann gehen wir nur noch zu jeder zweiten Demo." Die Runde lacht. Erik kramt etwas aus seiner Tasche. "Oh, das ist das Taschentuch mit Pfefferspray", sagt er und steckt es zu den Resten seines Milchshakes.

Zuhause wartet zusammengelegte Unterwäsche für den nächsten Tag auf Nils‘ Bett. Es ist kurz vor 22 Uhr und Nils macht sich an die Fotos: Weißabgleich korrigieren, zuschneiden, Filter drüberlegen. Nächstes.

Er wirkt unzufrieden. "Ich habe schon einen ästhetischen Anspruch". Auf linken Protesten habe er als Fotograf die Möglichkeit, richtig zu arbeiten, sagt Nils. "Da kann ich nah an die Demonstration gehen, ohne dass ich Angst haben muss."

Er zoomt an die Bilder heran. Sie entdecken Dinge, die ihnen vorher nicht aufgefallen sind.

"Das ist doch der von letzter Woche, oder?"

"Ne, von vorletzter."

"Oh, er hat eine neue Mütze bekommen."

Erik schläft bei Nils. Erst nach Mitternacht kommen sie ins Bett. Morgen ist wieder Schule.