Freischalten Freischalten Feuilleton
Merken

Wie Frauen zur Umerziehung in "Tripperburgen" der DDR gesperrt wurden

Ob krank oder nicht: Zehntausende "unzuverlässiger" Frauen und Mädchen landeten in geschlossenen Abteilungen. Der MDR zeigt eine Dokumentation dazu.

Von Oliver Reinhard
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
In geschlossenen Abteilungen wie hier in der ehemaligen Poliklinik Halle, aber auch in Dresden wurden selbst Mädchen wochenlang eingesperrt und gequält, um aus ihnen "sozialistische Persönlichkeiten" zu machen.
In geschlossenen Abteilungen wie hier in der ehemaligen Poliklinik Halle, aber auch in Dresden wurden selbst Mädchen wochenlang eingesperrt und gequält, um aus ihnen "sozialistische Persönlichkeiten" zu machen. © Archiv: dpa picture alliance

Ohne dass sie den Grund dafür kannte, wurde die junge Mutter brieflich ersucht, sich im Dresdner Krankenhaus Friedrichstadt einzufinden. Käme sie nicht freiwillig, würde man sie von der Polizei abholen lassen. „Wie ich dort rein bin“, erinnert sie sich Jahrzehnte später an ihr Erlebnis von 1974, „ging hinter mir die Tür zu, wurde zugeschlossen, und dann ging der Terror los“. Jeden Tag mussten sie und die anderen internierten Frauen sich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen, Abstriche machen, „unsensibel, grob, rigoros“.

So schildert sie es den Autoren des Buches „Traumatisierung durch politisierte Medizin – Geschlossene venerologische Stationen in der DDR“. Wochenlang blieb sie eingessperrt, ohne irgendwas zu tun, in bohrender Langeweile und der ständigen Sorgen um ihre kleine Tochter, die zur Kur war. Wo das Mädchen sich danach aufhielt, wie es ihr ging, wer sich um sie kümmerte – nichts erfuhr die junge Mutter. „Wir waren alle bedrückt und schockiert, die waren ja alle aus ihren Familien herausgerissen worden.“

Martina Blankenfeld war 15, als sie 1977 nach einem Selbstmordversuch in die venerologischen Station des Krankenhauses Berlin-Buch gesperrt wurde.
Martina Blankenfeld war 15, als sie 1977 nach einem Selbstmordversuch in die venerologischen Station des Krankenhauses Berlin-Buch gesperrt wurde. © MDR/Constantin: Ferdinand Kowalke

50.000 Frauen und Mädchen wurden Opfer der Maßnahme

Erst nach einem Monat kam sie frei. Obwohl alle Untersuchungen negativ gewesen waren, wie in 70 bis 90 Prozent aller vergleichbaren Fälle. Doch es ging den Behörden auch weniger um hygienische Vorbeugemaßnahmen. Vielmehr um das Wegsperren, Erziehen und Disziplinieren von Frauen, die im Ruf sexuell allzu freizügigen Verhaltens standen, um doch noch „sozialistische Persönlichkeiten“ aus ihnen zu machen.

50.000 Frauen und Mädchen, so der aktuelle Erkenntnisstand, wurden Opfer dieser Maßnahmen. Etliche Betroffene leiden noch heute darunter, trauen sich aber vielfach aus Scham weiterhin nicht, darüber zu reden. Doch die Mauer des Schweigens bröckelt; auch das zeigt die MDR-Dokumentation „Trauma ‚Tripperburg‘ – Gewalt gegen Frauen in der DDR“.

Angelika Börner wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter der Polizei ausgeliefert, die das Mädchen in die Hallenser Klinik sperren ließ. Erst Jahrzehnte später konnte sie ihre Scham überwinden und redet heute offen darüber. Die Erinnerung quält sie noch imme
Angelika Börner wurde als 16-Jährige von ihrer Mutter der Polizei ausgeliefert, die das Mädchen in die Hallenser Klinik sperren ließ. Erst Jahrzehnte später konnte sie ihre Scham überwinden und redet heute offen darüber. Die Erinnerung quält sie noch imme © MDR/Constantin: Ferdinand Kowalke

Schläge, Essensentzug und medizinische Versuche

Aus ihr geht ebenfalls hervor, dass die Dresdner Mutter noch Glück in ihrem Unglück hatte, denn körperliche Misshandlungen durch das Pflegepersonal erfuhr sie nicht. Im Gegensatz zu den Insassinnen anderer geschlossener venerologischer Stationen etwa in Halle oder Berlin-Buch, wo es regelmäßig zu Schlägen und Essensentzug kam sowie zu gröbsten „Behandlungen“ im Intimbereich.

„Aus heutiger Sicht würden wir die Behandlungen und die Methodik, die dahintersteckt, als sexualisierte Gewalt einschätzen“, sagt die Historikerin Steffi Brüning. Ihre Erkenntnisse sowie die der ehemaligen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley sind die wichtigste Basis des Dokumentarfilms von Marie Elisa Scheid. Und die Aussagen von Opfern wie Angelika Börner.

Bis Ende der Siebziger existierte im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt existierte eine „Tripperburg“ für sexuell und/oder politisch „unzuverlässige“ Frauen.
Bis Ende der Siebziger existierte im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt existierte eine „Tripperburg“ für sexuell und/oder politisch „unzuverlässige“ Frauen. © www.imago-images.de

54 Tage blieb sie in der Hallenser Klinik eingesperrt, hatte tagsüber Sitz- und Liegeverbot, wurde körperlich und psychisch misshandelt. Obendrein unterzog man Angelika Börner Allergietests auf neue Medikamente und Kosmetikprodukte. Sie bekam Ausschlag und Pusteln. Als Börner sich auflehnte und mit Anzeige drohte, erzählt sie, sperrte man die junge Frau in ein dunkles Zimmer ohne Nahrung und Wasser.

Die meisten Fälle, die in der MDR-Doku rekonstruiert werden, belegen wie auch die übrige Forschung das Einweisungsmotiv der „Umerziehung“ von „unzuverlässigen“ Frauen zu treuen DDR-Bürgerinnen. Ein Opfer hatte den SED-Staat allzu unverstellt hinterfragt, ein anderes wollte die DDR verlassen, Mutter und Schwester der Dresdner Betroffenen hatten die Ausreisen bereits hinter sich.

Frauen galten in Ost wie West als sexuell potenziell "lockerer" und damit auch als Hauptverantwortliche für die Übertragung von Geschlechtskrankheiten. In der DDR kam auf fünf wegen Verdachts auf Syphilis oder Gonorrhoe zwangseingewiesene Frauen nur ein M
Frauen galten in Ost wie West als sexuell potenziell "lockerer" und damit auch als Hauptverantwortliche für die Übertragung von Geschlechtskrankheiten. In der DDR kam auf fünf wegen Verdachts auf Syphilis oder Gonorrhoe zwangseingewiesene Frauen nur ein M ©  Archiv/dpa

Grassierende Krankheiten nach dem Krieg

Das Hauptziel der Maßnahmen gaben auch die jeweiligen Hausordnungen unverblümt preis. In der Hallenser „Tripperburg“ etwa hieß es, die betroffenen Frauen sollten nach ihrer Entlassung „die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen“.

Gleichwohl wurden staatliche Maßnahmen gegen „Unzucht“ und „Sittenlosigkeit“ weder ausschließlich grundlos noch allein aus ideologischen Motiven ergriffen. Gerade in den ersten Nachkriegsjahren boten schlechte Versorgung mit Nahrung und Medizin sowie mangelnde Hygiene beste Voraussetzungen für massenhafte Erkrankungen und stellten das ohnehin noch schwer mitgenommene Gesundheitssystem vor ernsthafte Probleme.

In Berlin-Buch befand sich die größte geschlossene Abteilung für Frauen und Mädchen.
In Berlin-Buch befand sich die größte geschlossene Abteilung für Frauen und Mädchen. © MDR

In der DDR war der Arzt Mediziner und zugleich Erzieher

Syphilis und Gonorrhoe verbreiteten sich rasant; Nachholbedarf, Armut und Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen ergaben mit dem einschlägigen Interesse vieler Besatzungssoldaten und zugeneigten, oft nicht aufgeklärten Mädchen und jungen Frauen in West wie Ost eine bedrohliche Mischung. Doch es gab Unterschiede. Zum einen existierte in der DDR ein Recht auf medizinische Versorgung, aber auch die Pflicht, mit seiner Gesundheit sorgsam umzugehen.

Wer dagegen verstieß, geriet schnell ins Visier von Behörden und Ärzten, wobei Letztere in der DDR nicht nur Mediziner waren, sondern auch Volkserzieher. Zum anderen entwickelte sich in den Sechzigern das bis dahin ähnliche System der Zwangseinweisungen in West und Ost anders. Die Reformierungsbewegungen verliefen in der Bundesrepublik schneller und umfassender, Zwangseinweisungen wurden gesetzlich erschwert.

Das Gesundheitswesen der DDR war chronisch unterfinanziert, und im Gegensatz zu heute wurden Ärzte eher schlecht bezahlt. Hinzu kam eine Doppelbelastung: Sie sollten medizinisch und volkserzieherisch tätig sein.
Das Gesundheitswesen der DDR war chronisch unterfinanziert, und im Gegensatz zu heute wurden Ärzte eher schlecht bezahlt. Hinzu kam eine Doppelbelastung: Sie sollten medizinisch und volkserzieherisch tätig sein. © dpa

Sexuell loser Lebenswandel als "staatsgefährdend"

In der DDR schränkte 1961 die neue „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ die Willkür formell zwar ein. Offiziell durften Frauen, die im HwGP-Verdacht standen („häufig wechselnde Geschlechtspartner“) nur eingewiesen werden, wenn sie tatsächlich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert waren.

Doch in den meisten Fällen wurde das schlicht ignoriert. Auch weiterhin konnte ein sexuell loser Lebenswandel bei Bedarf als staatsgefährdendes Verhalten ausgelegt werden. Der Einweisungsgrund wurde in der Regel von der Volkspolizei geliefert und nicht weiter hinterfragt, schildert Historikerin Steffi Brüning. Sämtliche Opfer, die im MDR-Film zu Wort kommen, wurden nach 1961 weggesperrt.

Einweisungsgrund: "Herumtreiberei".
Einweisungsgrund: "Herumtreiberei". © MDR

Viele Maßnahmen "auch nach DDR-Recht rechtswidrig"

Die „Tripperburgen“ der DDR bestanden unterschiedlich lange. Einige Einrichtungen wie jene in Dresden und Rostock wurden im Zuge grundlegender Reformen des Umgangs mit Patienten und „HwGP“-Verdächtigen Ende der Siebziger geschlossen, andere wie die Anstalt in Leipzig bestanden bis 1990. Mittlerweile haben die Opfer der darin erlittenen Misshandlungen eine Chance auf ihre offizielle Rehabilitierung. „Denn viele solcher Aufenthalte in diesen geschlossenen Einrichtungen“, so Steffi Brüning, „waren auch nach DDR-Recht rechtswidrig“.

Die Doku „Trauma ‚Tripperburg‘ – Gewalt gegen Frauen in der DDR“ steht in der MDR-Mediathek zur Verfügung.