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So brutal ist der Protest gegen Corona-Schutzregeln

Im Streit um die Maskenpflicht wird ein Kassierer erschossen. In der "Querdenker"-Szene gibt es dafür kaum Mitleid, manche sind sogar schadenfroh.

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Polizisten sichern den Tatort, eine Tankstelle in Idar-Oberstein.
Polizisten sichern den Tatort, eine Tankstelle in Idar-Oberstein. © Foto Hosser

Von Frank Jansen, Julius Geiler, Sebastian Leber und Selina Bettendorf

Ein 49-jähriger Mann tötet in einer Tankstelle in Idar-Oberstein einen Studenten, weil dieser ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hat. Es ist das erste Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in Deutschland, bei dem ein Mensch getötet wird. In der Querdenker-Szene gibt es dafür kaum Mitleid, manche sind sogar schadenfroh.

Gleichzeitig scheint während des Bundestagswahlkampfes der Hass rechter Gruppen und Aktivisten in Deutschland stärker zu werden. So veränderten Unbekannte Wahlplakate von Armin Laschet (CDU) so, dass sie die Aufschrift „Erschossen für Deutschland“ auf seinem Bild zeigten. Die rechtsextreme Kleinstpartei „Der Dritte Weg“ schrieb „Hängt die Grünen“ auf ihre Wahlplakate, die jetzt verboten wurden. Auch weil sie in Würzburg die drei Kanzlerkandidaten Laschet, Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) durch mit Blut bespritzte Puppen als Leichen dargestellt hat, wird gegen die Partei inzwischen ermittelt.

Was ist über den Mord in der Tankstelle und den mutmaßlichen Täter bekannt?

Am Samstagabend betritt um 19:45 Uhr ein 49-jähriger Mann eine Tankstelle in Idar-Oberstein, um Bier zu kaufen. Er trägt keine Maske. Als ihn der Kassierer, ein 20-jähriger Student, darauf hinweist, kommt es zu einem Streit. Der Mann verlässt die Tankstelle und kommt knapp zwei Stunden später mit Maske wieder. An der Kasse zieht er die Mund-Nasen -Bedeckung runter, der Kassierer weist wieder auf die Maskenpflicht hin. Darauf zieht der Täter einen Revolver aus der Hosentasche und schießt ihm in den Kopf. Dann flüchtet er zu Fuß.

Die Polizei hat den Tatverdächtigen am Sonntagmorgen auf dem Gelände der Polizei in Idar-Oberstein festgenommen. „Wir gehen davon aus, dass er sich stellen wollte“, sagte Triers Polizeipräsident Friedel Durben. Am Montagabend wird bekannt, dass Täter und Opfer über die Maskenpflicht gestritten haben. „Das ist auf jeden Fall ein besonderer Fall: Wir haben weder im Polizeipräsidium Trier noch im Land Rheinland-Pfalz eine solche Tat gehabt, die einen Zusammenhang zu Corona vermuten lässt“, sagt Durben.

Blumen und Kerzen sind vor der Tankstelle in Idar-Oberstein aufgestellt.
Blumen und Kerzen sind vor der Tankstelle in Idar-Oberstein aufgestellt. © Birgit Reichert/dpa

Der mutmaßliche Täter lebt in Idar- Oberstein und arbeitet als Selbstständiger in der IT-Branche. Aus Ermittlerkreisen wurde am Dienstag bekannt, dass der Mann in den Theorien der Corona-Leugner „bewandert“ sei. „Er kennt die Quellen und hat auch angegeben, dass er sich da schlau gemacht hat“, hieß es. Noch unklar ist die Herkunft der Waffen, die der mutmaßliche Todesschütze besaß. „Die Waffen hat er nicht legal besessen.“ Woher sie stammten, sei noch völlig unklar, sagte Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann.

Nach Einschätzung des Wiesbadener Kriminalpsychologen Rudolf Egg sollte das Aggressionspotenzial des Täters genau untersucht werden: „Man muss bei einer Tat immer unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Anlass und dem eigentlichem Grund.“ Es sei noch völlig unklar, „was da wirklich an diesem Tag und an diesem Abend war, worüber er sich noch geärgert hat“. Möglicherweise habe der Verdächtige auch ganz andere Gründe als die Corona-Auflagen gehabt.

Wie reagiert die Querdenker-Szene?

Im Messengerdienst Telegram äußern Verschwörungsgläubige und Rechtsextreme Verständnis für den Täter. In einschlägigen Kanälen wird das Verbrechen als Notwehr, als logischer Schritt oder als Beginn eines langersehnten Befreiungskampfs gegen die angebliche „Merkel- Diktatur“ gefeiert. Im Kanal „Free your mind“ heißt es frohlockend: „Jetzt geht's los!!!“ In anderen Kanälen werden Herzen und Daumen nach oben als Likes gepostet. Früher oder später habe es zu einem solchen Vorfall kommen müssen, lautet eine verbreitete Ansicht. Schuld seien die Politiker, die ihre Bürger mit Corona-Regeln tyrannisierten.

Besonders heftig entflammt der Hass im Kanal des rechtsextremen Verschwörungsideologen Sven Liebich: Der Täter habe wohl einfach die „Schnauze voll“ gehabt, kommentiert dort einer, oder auch: „Wenns die richtigen trifft, hab ich nichts dagegen“. Ein weiterer schreibt: „Kein Mitleid. Die Leute immer mit dem Maskenscheiß nerven. Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so.“ Vielfach herrscht auf Telegram Schadenfreude, dass es sich bei dem Getöteten um einen Studenten handelt. Das Opfer sei sicher ein Linker gewesen: „Eine Zecke weniger!“

Wie oft und wo kommt es zu Aggressionen und Gewalt wegen Corona-Schutzregeln?

Immer wieder kommt es im Rahmen der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zu Übergriffen und körperlichen Attacken auf Journalisten. Viele Kamerateams der großen Fernsehsender berichten nur noch in Begleitung von Security von den Demonstrationen. Zuletzt wurde der Verdi-Gewerkschafter Jörg Reichel am 1. August in Berlin an der Spitze eines illegalen Aufzugs der Corona-Protestierenden von seinem Fahrrad gezerrt und zusammengeschlagen.

Auch im Alltag zeigt sich immer wieder die Aggressivität Einzelner wegen der geltenden Schutzmaßnahmen. Im Frühling tritt ein 41-jähriger Mann der schwangeren Angestellten einer Berliner Bäckerei in den Bauch und beleidigt sie rassistisch. Auch diese Verkäufern hatte den Kunden zuvor auf die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in dem Geschäft aufmerksam gemacht.

Schon etliche Anschläge, die Gegnern der Corona-Maßnahmen zugeschrieben werden, wurden auf Impfzentren, Forschungsinstitute und Amtsgebäude verübt. Dabei entstand teils erheblicher Sachschaden. In Berlin explodierte vor knapp einem Jahr ein selbstgebauter Sprengsatz vor dem Sitz der Leibniz-Gemeinschaft. Im Bekennerschreiben verlangten Unbekannte die Aufhebung sämtlicher Einschränkungen. In derselben Nacht konnte ein Brandanschlag auf das Robert Koch-Institut von dessen Mitarbeitern gelöscht werden.

Impfzentren wurden unter anderem in Berlin, Rostock und Plauen attackiert, erst vergangene Woche erfolgte einen Brandanschlag auf ein Impfzentren im sächsischen Vogtland. Im Januar legte ein Ehepaar bei Schweinfurt aus Protest Holzplatten auf Bahngleise, ein ICE musste notbremsen. Zwei Monate später schleuderte ein Mann im niedersächsischen Delmenhorst mehrere Molotow- cocktails in Fenster des Rathauses. Gegenüber der Polizei gab er „Unzufriedenheit über die Corona-Regelungen“ als Motiv an. Auch die Beschädigung von 60 Kunstwerken im Berliner Pergamon-Museum durch eine ölige Flüssigkeit könnte auf Verschwörungsgläubige zurückgehen.

Gibt es im Ausland vergleichbare Fälle?

Im Juni 2020 hatte ein Busfahrer im französischen Bayonne nahe der spanischen Grenze mehrere Wartende an einer Bushaltestelle zurückgewiesen, die ohne Maske und gültiges Ticket in den Bus steigen wollten. Im Streit attackierte die Gruppe den 59-jährigen Fahrer und schlug ihm auf den Kopf. Der Familienvater starb wenige Tage später im Krankenhaus. Mehrere tausend Menschen nahmen an einem Trauermarsch für ihn teil.

Braucht Servicepersonal Extra-Schutz?

Stefan Hertel, Sprecher vom deutschen Handelsverband, weist darauf hin, dass die Tat ein Einzelfall sei: „Es gibt keine grundsätzlichen Probleme mit Kundinnen und Kunden im Umgang mit der Maskenpflicht. Die haben sich längst daran gewöhnt.“ Mitarbeiter:innen seien im Umgang mit kritischen und unangenehmen Kund:innen oft geschult, „aber natürlich geraten wir bei solchen unfassbaren Fällen an unsere Grenzen“. Manche Arbeitgeber hätten in der Pandemie aber auch zusätzliches Sicherheitspersonal angestellt.