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„Die Sucht beherrschte mein Leben“

Sabine ist trockene Alkoholikerin. Sie empfindet große Dankbarkeit. Geschafft hat sie es nur mit Hilfe.

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© dpa

Von Mareike Huisinga

Sabine hat vor exakt 26 Jahren das letzte Mal getrunken. Seitdem ist sie trockene Alkoholikerin. Die 70-Jährige überlegt einen Moment und meint ruhig. „Ich bin unendlich dankbar, dass ich es geschafft habe.“ An ihrem absoluten Tiefpunkt schlich sie heimlich frühmorgens ins Bad, um Schnaps zu trinken. Erst danach konnte sie „funktionieren“ und das Frühstück für die Familie zubereiten. Wie viel sie tagsüber konsumiert hat, weiß sie nicht. Sie weiß aber, dass der Zwang, etwas zu trinken, über allem stand und ihr Leben vollkommen beherrschte.

Wie sie in die Sucht geriet, bemerkte sie nicht. Ein schleichender Prozess. „Beim Tanzen hatte ich ein Glas Wein getrunken, war beschwipst, genauso wie die anderen.“ Immer öfter griff sie zum Glas. Sie entwickelte Strategien. „Abends mischte ich Selterwasser mit Wodka. Ich belog mich und sagte mir, ich hätte kein Alkoholproblem.“ Wenn Besuch das Haus verlassen hatte, trank sie heimlich die Neigen in den Wein- und Schnapsgläsern aus. Damit ihre Familie nichts bemerkte, versteckte sie Alkohol. Sie leerte die Weinflaschen im Keller, füllte sie anschließend mit Tee auf und stellte sie in die letzte Reihe, in der Hoffnung, dass es nicht auffällt. Um abends nach Geschäftsschluss dringend benötigten Nachschub zu besorgen, ging sie in die Videothek, erzählte, dass noch Gäste kommen und sie deshalb Bier und Wein benötige.

Besonders Kinder leiden

1984 erreichte sie ihren Tiefpunkt. „Es ging nicht mehr, ich war zerrissen und konnte mein Leben nicht mehr aushalten“, erinnert sie sich. Auf eigenen Wunsch ging sie fünf Wochen ins Krankenhaus. Der zuständige Arzt redete Klartext. „Er sagte, dass ich eine Alkoholikerin und krank sei. Als Krankheit hatte ich meine Sucht bisher nicht gesehen, sondern immer als Charakterschwäche für die ich mich mit Selbstvorwürfen überschüttet hatte.“

In den Folgejahren litt Sabine, wie sie selber sagt, wie ein Hund. Sie versuchte, vom Alkohol loszukommen, hatte immer wieder Rückfälle. Der Druck von außen war groß. „Ich stand draußen, wenn ich zuviel trank. Genauso stand ich draußen, wenn ich Alkohol auf Feiern ablehnte.“ Schließlich fasste sie einen Entschluss und fuhr nach Dresden, wo sich eine Gruppe Anonyme Alkoholiker (AA) gegründet hatte. Ihre Tochter begleitete sie. Sie hat Angst einzutreten, fasste dann aber doch Mut. Ihr Ziel: dass sie hier das kontrollierte Trinken lernt. Schnell merkte sie, es ist ein Irrweg. Einen besonders schlimmen Rückfall sprach sie offen in der Gruppe an. „Keine Vorwürfe. Ich bin von den Mitgliedern trotzdem akzeptiert worden. Das war für mich ein völlig neues Gefühl.“ Bei dieser Erinnerung wischt sie sich über die Augen. Regelmäßig besuchte Sabine die Gruppe und schaffte es, das erste Glas für immer stehenzulassen. Gerichte, die mit Alkohol zubereitet wurden, lehnte sie ab. Pralinen mit Schnaps isst sie nicht mehr.

2013 gründete sie mit anderen eine AA-Gruppe in Pirna. Außerdem besucht sie Schulen, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen. „Besonders die Kinder leiden darunter, wenn ihre Eltern zuviel trinken. Alkoholismus ist eine Familienkrankheit“, sagt sie. Heute ist sie als trockene Alkoholikerin ein zufriedener, glücklicher Mensch. „Ein gutes Gefühl“, sagt sie.

Die Anonymen Alkoholiker Dresden treffen sich montags und mittwochs, 19.30 Uhr, in der Kontaktstelle KISS in der Ehrlichstraße 3.