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100 Jahre Deutsche Fotothek: Mit der Kamera unterwegs in der Stadt

Die Fotografen Rudi Meisel und Mahmoud Dabdoub interessieren sich für Menschen auf der Straße, im Park, in der Bahn.

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Mahmoud Dabdoub: In der Straßenbahnlinie 1, 1982/83
Mahmoud Dabdoub: In der Straßenbahnlinie 1, 1982/83 © Deutsche Fotothek/Mahmoud Dabdoub

Von Agnes Matthias

Die Stadt, die Straße – Orte verschiedenster Begegnungen und Arten des Aufeinandertreffens von Mensch und Mitmensch. Entsprechend ist der öffentliche, der urbane Raum für Fotografinnen und Fotografen ein spannungsvolles Sujet, man denke nur an die Paris-Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson oder an die Bilder, die Helen Levitt auf den Straßen New Yorks fotografierte. Nichts ist kalkulierbar, vieles passiert spontan. Es braucht mitunter Zeit, manchmal aber auch nur die entscheidende Sekunde, um mit der Kamera festzuhalten, was im Idealfall als Bild über den Moment hinausweist.

Die Ausstellung #MITTENDRIN widmet sich der Thematik der Straßenfotografie am Beispiel dreier in der Fotothek vertretener Fotografen: Christian Borchert, Rudi Meisel und Mahmoud Dabdoub.

Sie waren oder sind auf je eigene Weise mittendrin im städtischen Geschehen – als Beobachter, als Flaneur oder als Teilnehmer. Über Christian Borchert und seine Annäherung an Dresden wurde an dieser Stelle schon berichtet, Meisel und Dabdoub wiederum verbindet ihr dezidiertes Interesse an den Menschen, denen sie auf der Straße begegnen.

Nah dran an den Menschen

Ob in Essen im Ruhrgebiet oder in Ostberlin: Rudi Meisels fotografischer Ansatz hat ihn immer nah an die Menschen herantreten lassen – offen-interessiert, zugewandt und doch eine innere, beobachtende Distanz wahrend. Geboren 1949 in Wilhelmshaven, studierte er von 1969 bis 1975 Fotografie bei Otto Steinert an der renommierten Folkwangschule in Essen. Schon während des Studiums arbeitete er als freier Reportagefotograf und gründete 1975 zusammen mit Kommilitonen die kooperativ organisierte Fotoagentur VISUM. Bis 1999 war Rudi Meisel bildjournalistisch und redaktionell für verschiedene Magazine und Zeitschriften tätig. Zwischen 1978 und 1989 fotografierte er regelmäßig für Reportagen des Zeitmagazins in der DDR.

Bei einem New York-Aufenthalt 2018 entstand das eindrückliche Bild einer obdachlosen Person auf einer Treppe in den labyrinthischen, gekachelten Gängen der Subway. Gänzlich verborgen unter einer Decke sitzend, die Blickschutz und ein minimales Maß an Geborgenheit bietet an einem unwirtlichen Ort, der keinerlei Privatsphäre zulässt, sieht sie den unmittelbar vor ihr stehenden Fotografen nicht. Meisel macht die Situation zu einem Statement, indem er eine zweite Figur im Anschnitt mit aufs Bild nimmt, gekleidet in einen Pelzmantel, die die Treppe nach oben steigt. Arm und Reich, der abgewetzte Fleece der Decke und der teure Pelz, die modischen Stiefel und die schmutzigen schweren Lederboots ohne Schnürsenkel werden als Gegensätze herausgearbeitet; unweigerlich steht die Frage nach unserer eigenen Haltung dazu im Raum.

Bewegende Begegnung: "Homeless" nannte Rudi Meisel diese Aufnahme, die er in Downtown Manhattan in New York City im Jahr 2018 fotografierte.
Bewegende Begegnung: "Homeless" nannte Rudi Meisel diese Aufnahme, die er in Downtown Manhattan in New York City im Jahr 2018 fotografierte. © Deutsche Fotothek/Rudi Meisel

Es ist eine Begegnung – unmittelbar zwischen Fotograf und der fotografierten Person, mittelbar zwischen ihr und uns auf Ebene der Fotografie –, die viel über unser gesellschaftliches Miteinander oder aber auch Nebeneinander verrät. Eine grundsätzliche empathische Grundhaltung, die den Menschen ihre Würde lässt, verbindet Rudi Meisel mit Mahmoud Dabdoub. Als „zweigleisig“ hat Helfried Strauß dessen Leben beschrieben. Geboren 1958 im palästinensischen Geflüchtetenlager Al Jalil bei Baalbek im Libanon, kam Mahmoud Dabdoub 1981 nach Leipzig mit dem Vorhaben, dort Kunst zu studieren. Im Libanon hatte er als überaus begabter Amateur die Situation der Palästinenser fotografiert. Die Resonanz, auf die diese Bilder bei einer Ausstellung im Herder-Institut stießen, wo er einen Sprachkurs absolvierte, führte 1982 zur Aufnahme an die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst.

Mit der Kamera die neue Heimat erschlossen

Fotografie war für Mahmoud Dabdoub ein Mittel, sich Leipzig als neue Heimat zu erschließen. Mit der Kamera in der Hand gelang ihm die Annäherung an die Stadt und die Kontaktaufnahme zu ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Bis 1990 entstanden über 15.000 Aufnahmen, unermüdlich durchstreifte er die Straßen und suchte belebte Orte wie den Hauptbahnhof oder Geschäftspassagen auf. Es war der ganz normale Alltag, den Mahmoud Dabdoub in situativen Bildern einfing, die doch heute zum Zeitdokument für die letzten Jahre der DDR geworden sind.

In der Leipziger Straßenbahnlinie 1 entstand jene Aufnahme eines sich küssenden Paares, das zum Titelmotiv der #MITTENDRIN-Ausstellung geworden ist. Wie der Kontaktbogen des Films zeigt, waren die beiden Verliebten dem Fotografen schon an der Haltestelle aufgefallen. Im Straßenbahnwaggon machte er dann unbemerkt nur dieses eine Bild, die Kamera auslösend, ohne durch den Sucher zu schauen. So entstand in der Perspektive schräg von unten eine dynamisch-spannungsvolle Komposition, deren emotionaler Inhalt auf die Betrachtenden unmittelbar überspringt.

Der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer beschrieb die Straße einmal als einen „Sammelpunkt flüchtiger Eindrücke“. Dieser Flüchtigkeit, den Ereignissplittern und zufälligen Begegnung eine bleibende Gestalt zu geben: Das gelingt Mahmoud Dabdoub und Rudi Meisel, ganz gleich, ob in den 1980er-Jahren oder in der Gegenwart. Die beiden vorgestellten Momente erzählen viel vom Wesen einer Zeit und davon, wie Gesellschaften sind oder sein könnten.

Ausstellung: „Aus dem Archiv der Fotografen #MITTENDRIN. Christian Borchert. Rudi Meisel. Mahmoud Dabdoub im Buchmuseum der SLUB bis 13. April, Montag–Freitag 10–18 Uhr, jeden Samstag und am Sonntag, 6. April 14–18 Uhr

Am 23. März und 10. April führen Kuratorinnen durch die Ausstellung. Anmeldung online: www.slub-dresden.de/besuchen/veranstaltungen Rückfragen per Mail: [email protected]