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„Auch wir Dresdner Juden durchleben emotionale Grenzzustände“

Der Amerikaner Michael Hurshell ist als jüdischer Musiker und Wagner-Experte eine große Bereicherung für Sachsen und die Stadt Dresden. Ein Gespräch, wie er den neuen Antisemitismus erlebt und warum er nicht auswandert.

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Michael Hurshell musiziert beeindruckend mit der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie. Der Klangkörper aus bis zu 30 professionellen jüdischen und nichtjüdischen Musikern führt vor allem Werke verfemter, vertriebener und ermordeter jüdischer Komponisten auf
Michael Hurshell musiziert beeindruckend mit der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie. Der Klangkörper aus bis zu 30 professionellen jüdischen und nichtjüdischen Musikern führt vor allem Werke verfemter, vertriebener und ermordeter jüdischer Komponisten auf © S. Giersch

Michael Hurshell wurde 1959 in Wien geboren, wuchs aber in den USA auf. Seit 2002 lebt der Musiker in Dresden, lehrt an der Musikhochschule. Er leitet die von ihm mit gegründete Neue Jüdische Kammerphilharmonie und ist Stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Seit Jahren fühlt er sich – wie viele Juden – in Deutschland bedroht. Mit Sorge nimmt er zur Kenntnis, dass Antisemitismus hierzulande salonfähig wird. Zugleich macht ihm die Musik Mut – sogar die vom Antisemiten Richard Wagner. Ein Interview mit ihm.

Herr Hurshell, der Semperoper wird nach ihrer „Jüdin von Toledo“-Produktion Antisemitismus vorgeworfen. Wie haben Sie die Premiere erlebt?

Die Premiere war sehr, sehr beeindruckend. Es ist eine starke neue Oper. Die Stimmen waren sehr schön und auch die Regie schlüssig. Und dann kam eben dieses Schlussbild mit Videoprojektionen aus Kriegen. Ich war geschockt, weil ich sofort mit diesen Bildern auch den Krieg in Gaza assoziierte. Wir sehen ja ständig diese Bilder im Fernsehen. Die heftige Reaktion von anderen Personen nach der Schlussszene hat eben mit der emotionalen Situation zu tun, in der wir uns in den jüdischen Gemeinden in Deutschland derzeit befinden.

Michael Hurshell und sein Idol Richard Wagner in Bronze. Hurshell ist der Kurator der Wagner-Stätten in Graupa.
Michael Hurshell und sein Idol Richard Wagner in Bronze. Hurshell ist der Kurator der Wagner-Stätten in Graupa. © Agentur

Wann ist aus Ihrer Sicht die Situation gekippt, dass sich jüdische Menschen, die hier leben, bedroht fühlen?

Mit dem Anschlag von Halle 2019. Es war die unerwartete Situation, dass man aus der Synagoge herauskam und das Gebäude von bewaffneten Polizisten umstellt war. Es lagen welche auf den Dächern mit Langwaffen. Seitdem wurden und werden in ganz Deutschland solche Gebäude stärker gesichert und teils umgebaut – wie derzeit in Dresden. Allein die Tatsache, dass wir schon lange Zeit und noch lange Zeit nicht in der Synagoge sein können, weil dort gebaut wird, ist eine tägliche Erinnerung daran, dass jüdisches Leben in Gefahr ist.

Sie sagen, der nächste Einschnitt war der Ukraine-Krieg. Wie das?

Ungefähr zwei Drittel der Gemeindemitglieder der sächsischen Gemeinden, also in Chemnitz, Dresden und Leipzig, sind Ukrainer. Diese Familien sehen natürlich ihre Verwandten in der Ukraine bedroht und seit dem 7. Oktober ihre Verwandten in Israel. Das sind emotionale Grenzzustände, die da durchlebt werden. Da wiegt es umso schwerer, dass wir wegen der Baumaßnahmen keine Räume zur Verfügung haben – und das quasi nahtlos nach den Jahren der Pandemie, als ja lange auch nichts stattfinden konnte. Zum Glück haben wir in unseren neuen Interimsräumen einen kleinen Veranstaltungsraum, wo bald wieder Events stattfinden können.

Was hat der Hamas-Überfall auf Israel bei Ihnen ausgelöst?

Das Sicherheitsgefühl, das die Juden weltweit haben, dass sie durch die Existenz Israels immer noch einen Zufluchtsort haben, ist in den Grundfesten erschüttert. Und dieser Krieg im Kibbuz hat traurigerweise dazu geführt, wie es eigentlich zu erwarten gewesen war, dass nunmehr Israel wieder die Zielscheibe für Kritik und Beschimpfungen weltweit geworden ist. Die Schmähungen auf der Berlinale sind aktuelle Beispiele.

Wie gehen Sie damit um?

Als seit 2002 in Dresden lebender Jude habe ich nach dem Angriff von Halle Zeichen meines Judentums in der Öffentlichkeit reduziert. Früher trug ich die Kippa nicht ständig, aber zuweilen auf dem Weg zu Anlässen wie bestimmten Veranstaltungen. Das mache ich jetzt nicht mehr. Ich setze sie erst auf, wenn ich dort bin, bevor ich den Friedhof oder eine Gedenkstätte betrete. Also es sind eher so kleine persönliche Dinge, die ich nun berücksichtige.

Dresdens Synagoge gilt als Idealbeispiel für Offenheit und eine Einladungskultur. Wird das heute zum Verhängnis?

In gewisser Weise ja. Das macht die Baumaßnahmen so kompliziert. Nehmen Sie nur den großen offenen Hof zwischen Synagoge und Gemeindezentrum. Der ist letztlich gar nicht abzusichern. Aber auch die Tür zum Gemeindezentrum war in Dresden immer offen. Jeder konnte hereinspazieren. Dabei muss man wissen, dass es den Zustand einer immer offenen Tür anderswo in jüdischen Gemeinden nach Anschlägen längst nicht mehr gab, ob in Berlin, Paris oder Amerika. Diese offene Tür wird es künftig auch in Dresden nicht mehr geben. Und das ist schade. Nicht nur für die Gemeindemitglieder selber, sondern auch, weil sicherlich wieder der falsche Eindruck erweckt wird, dass sich die jüdische Gemeinde abschottet. Das ist ja genau das Gegenteil von dem, was wir als Gemeinde eigentlich wollen. Wir alle brauchen doch diese Interaktion und diesen Austausch.

Was glauben Sie? Ist der Höhepunkt des Antisemitismus erreicht?

Ich weiß es nicht. Ich sehe uns eher in einem Zwischenzustand. Seit dem 7. Oktober sehen wir, dass sich überall in Europa die Antisemiten in einem Ausmaß in Stellung bringen, wie man es nicht gedacht hatte. Zuvor gab es in Deutschland keinen salonfähigen Antisemitismus. Aber nun wird Israel offen angegriffen, solidarisiert man sich mit der Hamas, werden Positionen von arabischen Regierungen übernommen, wonach Israel ausradiert werden müsse. All das erschien unvorstellbar, nach dem, was im 20. Jahrhundert passiert ist. Aber anscheinend ist die Menschheit doch nicht so viel weiter.

Warum bleiben Sie dann hier?

Also, ich würde es nicht so negativ ausdrücken. Ich hätte ja verschiedene Möglichkeiten, könnte etwa zur Familie meiner protestantischen Frau nach Wien oder zu meiner Familie in die USA übersiedeln. Tatsächlich glaube ich, dass die Antisemiten, zumindest in dieser Heftigkeit, eine Minderheit sind. Inwiefern die Strömung nach rechts verstärkt wird, das werden wir ja sehen. Wir machen uns schon Sorgen über die nächsten Wahlen. Trotzdem gibt es viel Wohlwollen und Unterstützung, auch etwa von der sächsischen Staatsregierung. Es gibt also eine Menge positiver Dinge. Ich erlebe Ermutigendes, wenn wir Konzerte mit der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie geben, was wir seit 2007 tun. Die Leute, die zu den Konzerten kommen, sind sehr angetan von dieser Musik verfemter Komponisten, die sie teilweise noch nie gehört haben. Es gibt also genug positive Anzeichen, um an der Hoffnung festzuhalten.

Inwieweit beeinflusst der Rechtsruck Ihre Arbeit mit der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie? Geben Sie bald Konzerte unter Polizeischutz?

Ich hoffe nicht. Da ja unser Stammhaus derzeit Baustelle ist, musizieren wir woanders. Wir waren in der Semperoper, in Kirchen und gehen sehr gern in die Synagoge von Görlitz. Wir fahren demnächst nach Bautzen, wo wir noch nicht waren. Nur im Kulturpalast waren wir noch nicht. Landesweit geben wir, mit Unterstützung der Staatsregierung, Konzerte vor Schülern. Das zarte Pflänzchen, nämlich die Offenheit der jungen Menschen bei den Schülergesprächskonzerten, ist uns wichtig. Ich weiß, das sind kleine Mosaiksteine, aber vielleicht nicht ganz unnütz. Das ist auch etwas, was meinen Optimismus nährt. Außerdem erinnere ich gern an die Zeit um 2008. Das war die Zeit der großen Nazi-Aufmärsche zum 13. Februar in Dresden. Die Nazis versammelten sich am Bahnhof Neustadt und wollten über die Elbe zur Synagoge marschieren. Die Dresdner haben jedoch die Carolabrücke blockiert – sicher illegalerweise. Aber so haben sie zeichenhaft verhindert, dass die Braunen an der Synagoge skandieren konnten. Wir empfanden das als immensen Ausdruck von Solidarität von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Dresdner Bevölkerung.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Menschen aus muslimischen Ländern gemacht? Oder spielt das keine Rolle bei uns in Sachsen?

Oh doch, und das Thema ist schwierig. Es gibt in Sachsen gut 2.600 Gemeindemitglieder und allein ungefähr 32.000 syrische Flüchtlinge. Der Wunsch, die vernünftigen Stimmen miteinander im Dialog zu haben, der ist schon da. Und es gibt verschiedene Anlässe zu Gesprächen. Aber die gestalten sich schwierig bei Fundamentalisten. Nur so viel, wir sind auch im Kontakt mit dem Verfassungsschutz.

Kann Musik auch da helfen?

Musik ist meiner Erfahrung nach ein erfolgreiches Mittel zur Kommunikation. Weil Musik noch stärker als Worte und Bilder ein Träger von emotionalen Inhalten ist. Genau das ist auch, was viele Juden an der unglaublich bereichernden, wahrhaft schönen Musik von Richard Wagner schätzen, der ja üble polemische Schriften gegen Juden verfasst hat. Sogar in Israel gibt es diese Diskussion, die man von Deutschland aus beobachtet. Wann spielen die Israelis endlich Wagner? Die staatlich geförderten Institutionen tun sich schwer. Private tun es zuweilen. Und ich, ein Wagnerianer, sage ganz klar: Wagners Werk ist Musik des 19. Jahrhunderts. Sie ist nicht verantwortlich für die Weltpolitik des 20. Jahrhunderts mit seinen Millionen Toten.

Sie haben als Kurator der Richard-Wagner-Stätten in Graupa diesem üblen Antisemiten ein exzellentes Musiker-Museum gestaltet. Gab es Anfeindungen?

Nun ja, die Honoratioren der jüdischen Gemeinde haben, als sie von dem Projekt hörten, schon die Augenbrauen erst mal hochgezogen. Also habe ich Ihnen einen Vortrag mit dem plakativen Titel „Was macht ein Jude im Wagner-Museum?“ gehalten. Der hat wohl überzeugt. Denn wir lassen ja in Graupa nicht den Antisemitismus aus, vermischen aber auch nicht das Polemische mit dem Musikalischen. Ich bekomme unverändert sehr viele positive Meldungen. Leider reicht das Marketing-Budget der Stadt Pirna nicht, mehr für Graupa zu werben. Dabei gibt es einen endlosen Strom von amerikanischen, japanischen und sonstigen Wagner-Touristen, die es auch nach Sachsen zieht. Apropos Wagnerianer: Die verfemten, vergessenen jüdischen Komponisten, die wir mit der Kammerphilharmonie aufführen, waren ausnahmslos glühende Wagnerianer. Und die jüdischen Interpreten, die meine Vorbilder sind – Bruno Walter, Otto Klemperer und der in Dresden leider vergessene Fritz Reiner –, waren es auch.

Das Gespräch führte Bernd Klempnow.