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Der neue Kreuzkantor sucht für den Kreuzchor keine Carusos

Der designierter Kreuzkantor Martin Lehmann im Gespräch über den Zustand des Kreuzchores, erste Pläne und wie die Kruzianer alle Dresdner erreichen sollen.

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Freut sich voller „Demut und Respekt“ auf sein Amt als 29. Kreuzkantor, der er am 1. September wird: Martin Lehmann.
Freut sich voller „Demut und Respekt“ auf sein Amt als 29. Kreuzkantor, der er am 1. September wird: Martin Lehmann. © Astrid Ackermann

Der 48-jährige Kirchenmusiker Martin Lehmann wird am 1. September neuer Leiter des Dresdner Kreuzchores. Er kehrt zurück, denn er war von 1983 bis 1992 Kruzianer, kennt also „die Mauern von innen“ und hat die „Kinderperspektive verinnerlicht“. Seine Aufgabe dürfte durch Corona schwer genug sein. „Der Chor muss quasi von Grunde her neu aufgebaut werden“, sagt Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch. Im ersten Interview des designierten Kreuzkantors äußert der sich über die Kruzianer im Ausnahmezustand, den täglich neu aufzubauenden Chor und was den Kreuzchor von den Wiener Sängerknaben unterscheidet.

Herr Lehmann, Sie leiten mit dem Windsbacher einen der wichtigsten deutschen Knabenchöre. Warum wollten Sie unbedingt Kreuzkantor werden?

Das liegt sicherlich auch darin begründet, dass ich als Kruzianer aufgewachsen bin und mit dem Chor eine leidenschaftliche Verbindung in der Kindheit und Jugend eingegangen bin. Insofern habe ich, als die Anfrage kam, ob ich mich für dieses Auswahlverfahren offen zeige, nicht lange überlegt. Zumal auch familiär vieles zusammenkam. Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, kann man sich noch einmal neu sortieren. Ich bin jetzt in einem Alter, wo man entweder springt oder es vermutlich dazu nicht mehr kommen wird. Tatsächlich aber wird mir der Abschied im Sommer in Windsbach schwerfallen. Die Zusammenarbeit mit den Jungen, Mitarbeitenden und den Eltern macht Freude.

Der designierte Kreuzkantor Martin Lehmann schwärmt von seinem neuen Job mit den Kruzianern.
Der designierte Kreuzkantor Martin Lehmann schwärmt von seinem neuen Job mit den Kruzianern. © www.loesel-photographie.de

Was haben Sie aus Ihrer Kruzianer-Zeit mitgenommen?

Da mein Vater und zwei Onkel schon im Kreuzchor gesungen haben, gab es eine gewisse Prägung bei uns zu Hause, eben da Musik zu machen. Es war eine spannende Zeit, die musikalischen Höhepunkte im Chor, die gute Kindheit in Schule und Internat einerseits, die Gesellschafts-Diskussionen etwa in der damaligen Kreuzschule mit einzelnen Lehrern auf der anderen Seite. Bei meiner ersten Tournee in den Westen dürfte ich zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. Wenn uns dann im Staatsbürgerkunde-Unterricht erklärt werden sollte, wie schlimm es im Ruhrgebiet aussieht, dann haben wir gekontert, dass wir in der Villa Hügel in Essen waren und gesehen haben, dass es dort sehr wohl auch schöne Parkanlagen gibt. Turbulent wurde es dann in der Wendezeit und danach mit all den neuen Möglichkeiten. Ich habe nach der Schulzeit Zivildienst in Hamburg, der Partnerstadt von Dresden, absolviert. Ich bin ein Jahr durch Südamerika gereist, habe schöne berufliche Etappen auch im Westen und Süden des Landes gehabt. Ich habe absolut von der Wende profitiert und finde es jetzt spannend, wieder nach Dresden zurückzukommen.

Sie haben einen Vorbereitungsvertrag. Was tun Sie bereits in Dresden?

Ich bin dankbar, dass die Stadt Dresden mir einen Vorbereitungsvertrag gegeben hat, der mir ermöglicht, schon Gespräche zu führen, zuzuhören, auch strukturell zu arbeiten, die Saison-Planung voranzutreiben. Das ist nicht selbstverständlich. Sie hat mir auch über einen Stadtratsbeschluss Stellen im Nachwuchsbereich und in der Verwaltung zugesichert, die für die Arbeit unausweichlich sind. Im Moment höre ich viel zu und freue mich, dass die Jungen während Corona, in diesem Ausnahmezustand, so unerbittlich durchgehalten haben. Das kann man den Familien, den Jungen, aber vor allem dem Kreuzkantor und dem ganzen Team nicht genug danken.

Wie ist das, wieder durch die alten Hallen zu gehen?

Wenn ich jetzt durch das Kreuzschulgebäude gehe und etwa die Fliesen wiedererkenne, dann denke ich zurück, vergleiche aber nicht das Damals mit dem Heute. Der Chor hat sich logischerweise entwickelt. Aber es gibt weiterhin das vertraute Kernrepertoire. Ich freue mich sehr auf die liturgischen Dienste in der Kreuzkirche und die Oratorien zusammen mit der Philharmonie, ebenso aber freue ich mich auf neue Facetten des Chores.

Was ist der größte Unterschied zwischen Windsbachern und Kruzianern?

In Windsbach ist der Chor ohne eine feste Trägerschaft. Er wird von der Landeskirche in Bayern bezuschusst und hat viele Mäzene, Freunde und Förderer. Damit ist er wirtschaftlich anders aufgestellt als ein von der Stadt getragener Chor. Ich weiß, es gab in den Nachwendejahren auch kritische Zeiten beim Kreuzchor, aber ich spüre, dass die Stadt Dresden mittlerweile sehr wohl weiß, dass man in dieses Kulturgut – der Kreuzchor als älteste Ausbildungseinrichtung der Stadt – investieren muss.

In welchem Zustand ist der Kreuzchor wegen Corona?

Es ist schwer, das schlüssig zu beantworten, weil ich noch nicht intensiv mit den Jungen gearbeitet habe. Ich weiß aber, dass Kreuzkantor Kreile und die Kruzianer immer versucht haben, das traditionelle Repertoire trotz aller Einschränkungen zu pflegen. Also selbst wenn jetzt zwei Jahre keine Matthäus-Passion, kein Weihnachtsoratorium, keine Christvesper usw. aufgeführt worden sind, so ist trotzdem in den wenigen belastungsfreien Phasen daran geprobt worden. Man hat zum Beispiel die älteren Sänger gebeten, mit den Jüngeren die Matthäus-Passion nachzustudieren, oder die Christmette wurde per Video in der leeren Kreuzkirche aufgezeichnet. Großartig! Ich denke, dass das Repertoire insgesamt schmaler geworden ist. Das wird die große Kunst sein, die jüngeren Sänger mit den Standardwerken vertraut zu machen und den gesamten Chor wieder in puncto Proben, Länge von Auftritten und Reisen und anderem zu konditionieren. Gesang auf diesem Niveau ist vergleichbar mit Leistungssport. Ein Sportler braucht nicht nur Training, sondern auch die Wettkämpfe, um zu wachsen. Uns geht es ähnlich.

Sie haben quasi zwei Chefs, einmal die Stadt Dresden und dann die Landeskirche. Wie kriegen Sie den Spagat hin?

Also die Landeskirche ist nicht mein Chef, eher indirekt. Ich empfinde ganz klar, dass wir ein städtischer Chor sind und ich zukünftig sein städtischer Leiter bin. Gleichwohl liegen die historischen und inhaltlichen Wurzeln und dementsprechend das Repertoire im Kontext der „musica sacra“. Das findet Widerhall in unserer Heimatkirche, der Dresdner Kreuzkirche, hoffentlich aber auch in unserem Denken und Handeln. Deshalb habe ich mich ganz bewusst auch auf diese Stelle beworben. Ich empfinde es als Geschenk, dass der Chor in der geistlichen Chormusik seinen Platz hat und trotz einer abnehmenden Religionszugehörigkeit in der Gesellschaft diese Strahlkraft nach außen tragen kann. Der Kreuzchor wird aber immer wieder schauen, wie er die gesamte Stadtbevölkerung erreicht.

Was wollen Sie in diesem Sinne tun?

Ich nenne nur Stichpunkte: Auftritte bei den Dresdner Musikfestspielen, Open-Air- Formate, es gibt das große Stadion-Konzert im Advent. Zu Letzterem sind wir im Moment in Verhandlungen mit dem Veranstalter. Es gibt viele Möglichkeiten, wie der Chor auch Menschen erreicht, die mit christlichen Werten und geistlicher Musik zunächst wenig anfangen können. Wir brauchen beides: Kirche und unsere gute Verankerung in der Bevölkerung Dresdens. Ohne diese wären viele Jungen gar nicht im Chor. Wir wollen möglichst viele gesangsfreudige und -talentierte Jungen in Dresden, aber auch aus dem Umland erreichen. Ganz klar, wir suchen keine fertigen „Carusos“. Die umfassende Ausbildung erhalten sie im Dresdner Kreuzchor.

Sie müssen Pädagoge, Kirchenmusiker, Kulturmanager und Netzwerker sein. Wann schlafen Sie?

Ja, Knabenchorleiter ist ein kraftfordernder Beruf. Im Vergleich zu einem Pianisten, der nicht erst Saiten aufziehen muss, sondern sich in der Regel an ein fertiges Instrument setzen kann, baut der Knabenchorleiter ja das Instrument immer wieder neu. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein neuer Sänger integriert wird oder einer in den Stimmbruch geht oder jemand in die Männerstimmen zurückkommt. Und zum Schuljahresende verlassen uns jedes Mal die Erfahrensten. Daher ist es wichtig für jeden Knabenchorleiter, gut zu regenerieren. Ich schwimme gern, fahre Fahrrad, wandere und versuche, mir Momente des Innehaltens zu schaffen. Momentan beflügeln mich auch die vielen Herausforderungen. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit den Jungen, mit Stadt und Kirche, der Dresdner Philharmonie, mit den Eltern und Mitarbeitern. Da ist Demut und alle Energie, die möglich ist, gefragt.

Wie ist Ihr Verhältnis zum jetzigen Amtsinhaber Roderich Kreile?

Sehr gut. Wir hatten Herrn und Frau Kreile gerade bei uns zu Hause. Es ist toll, wie er aktiv versucht, den „Neuen“ quasi einzuführen und mitzunehmen, uneigennützig und zum Wohle des Chores. Das Ehepaar Kreile wird künftig zwei Lebenszentren haben, eines bleibt dabei in Dresden. Sie freuen sich darauf, zukünftig in Konzerte, auch mit dem Dresdner Kreuzchor, gehen zu können. Das ist nicht selbstverständlich, nachdem Herr Kreile den Chor 25 Jahre geprägt hat.

Sie haben einen Zehnjahresvertrag. Wäre Ihnen ein längerer lieber gewesen?

Nein, die zehn Jahre sind sehr gut. In der Regel bekommt ein Intendant einen Fünfjahresvertrag, der dann verlängert oder nicht verlängert wird. Die Stadt Dresden hat mir auch wegen Corona gleich zu Anfang diese vergleichsweise lange Laufzeit zugebilligt. Kontinuität ist gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wichtig, auch für die Elternhäuser und für die Chormitarbeitenden. Zudem braucht es auch eine gewisse Zeit, bis die Handschrift des Chorleiters erkennbar wird. Nach dieser Phase bin ich knapp 60 und würde, wenn die Stadt das auch will, in kleineren Intervallen bis zur Rente weitermachen.

Gern wird der Kreuzchor international verglichen und dann gelten die Wiener Sängerknaben als bekannter. Sind sie auch besser?

Alle diese Vergleiche hinken. Fakt aber ist, die Wiener sind deutlich mehr auf Tournee. Das liegt daran, dass die Sängerknaben auf vier Chöre aufgeteilt sind und daher die Tourneepräsenz viel größer ist. Wo ein Ensemble, egal ob Chöre oder Orchester, derzeit international steht, ist ganz schwer auszuloten, weil seit zwei Jahren keine Tourneen stattgefunden haben. Und je größer der Klangkörper ist, von Ausnahmen wie den Berliner Philharmonikern abgesehen, umso schwerer ist auch das internationale Geschäft mittlerweile finanziell umsetzbar. Ich hoffe und gehe davon aus, dass wir nach Corona wieder als Kulturbotschafter der Stadt international reisen. Dabei sollten wir den Aspekt der Nachhaltigkeit bedenken. Wir sind schließlich mit Kindern und Jugendlichen unterwegs, die eine Zukunft haben wollen.

Das Gespräch führte Bernd Klempnow.

Wie man Kruzianer wird?

  • Der Kreuzchor führt an diesem Sonnabend, den 19. März, ab 13 Uhr einen digitalen Nachwuchstag durch. In mehreren Filmen wird gezeigt, wie Jungen zum Dresdner Kreuzchor kommen und was sie dort erleben: wie der Vorbereitungsunterricht ist, wie der Gesangs- und Instrumentalunterricht abläuft, wie es ist, im Alumnat zu leben.
  • Es kommen Kruzianer, deren Eltern, der Kreuzkantor Roderich Kreile und Pädagogen zu Wort. Zu sehen sind die Filme ab 13 Uhr auf Facebook und Youtube.
  • Zudem besteht die Möglichkeit, mit dem Kreuzkantor und den Chor-Mitarbeitern per Videokonferenz ins Gespräch zu kommen. Den Link gibt es über [email protected].